23.11.2024
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Dokument-Nr. 15346

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Urteil26.02.2013Gerichtshof der Europäischen UnionC-617/10
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • CR 2013, 336Zeitschrift: Computer und Recht (CR), Jahrgang: 2013, Seite: 336
  • JuS 2013, 568Zeitschrift: Juristische Schulung (JuS), Jahrgang: 2013, Seite: 568
  • NJW 2013, 1415Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2013, Seite: 1415
  • NJW-Spezial 2013, 185 (Klaus Leipold und Stephan Beukelmann)Zeitschrift: NJW-Spezial, Jahrgang: 2013, Seite: 185, Entscheidungsbesprechung von Klaus Leipold und Stephan Beukelmann
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ergänzende Informationen

Gerichtshof der Europäischen Union Urteil26.02.2013

EU-Mitglieds­s­taaten dürfen wegen derselben Tat der Steuer­hin­ter­ziehung nacheinander steuerliche und strafrechtliche Sanktion verhängenEuGH legt Grundsatz des Verbots der Doppel­be­strafung aus

Der Grundsatz des Verbots der Doppel­be­strafung hindert einen Mitgliedstaat nicht daran, wegen derselben Tat der Steuer­hin­ter­ziehung nacheinander eine steuerliche Sanktion (Steuerzuschlag) und danach eine strafrechtliche Sanktion zu verhängen, wenn die erste Sanktion keinen straf­recht­lichen Charakter hat. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Die Mitgliedstaaten und 20 weitere europäische Staaten haben die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ratifiziert. Die Einhaltung der sich aus dieser Konvention ergebenden Verpflichtungen gewährleistet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.

Grundrecht versagt zweimalige strafrechtliche Verfolgung oder Bestrafung wegen ein und derselben Zuwiderhandlung

Parallel dazu hat sich die Union eine Grund­recht­echarta gegeben, die seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon verbindlich ist. Wird ein Grundrecht sowohl von der Charta als auch von der EMRK anerkannt, so schreibt die Charta vor, dass es dieselbe Bedeutung und Tragweite wie das in der EMRK anerkannte Grundrecht hat. Eines der sowohl von der Charta* als auch von der EMRK** anerkannten Rechte ist das Grundrecht, wonach niemand wegen ein und derselben Zuwiderhandlung strafrechtlich zweimal verfolgt oder bestraft werden darf (Grundsatz ne bis in idem).

Strafverfahren wegen Steuer­hin­ter­ziehung bei bereits festgesetzten steuerlichen Sanktionen?

Im Hinblick auf dieses Verbot der Doppel­be­strafung stellt sich dem Haparanda tingsrätt (Gericht erster Instanz von Haparanda, Schweden) die Frage, ob gegen einen Angeschuldigten ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung eingeleitet werden darf, wenn wegen derselben Tat der Abgabe unrichtiger Erklärungen bereits steuerliche Sanktionen gegen ihn festgesetzt wurden.

Die Rechtssache betrifft Herrn Åkerberg Fransson, der sich als Selbständiger vornehmlich dem Fischfang und dem Verkauf seiner Fänge widmet. Er übt seine Tätigkeit in den Gewässern des Flusses Kalix (Schweden) aus, verkauft seine Fänge aber sowohl in Schweden als auch in Finnland.

Schwedische Finanz­ver­waltung setzt steuerliche Sanktionen für die Steuerjahre 2004 und 2005 fest

Die schwedische Finanz­ver­waltung wirft Herrn Åkerberg Fransson vor, er sei seinen steuerlichen Erklä­rungs­pflichten für die Steuerjahre 2004 und 2005 nicht nachgekommen, was zum Verlust von Einnahmen bei verschiedenen Steuerarten geführt habe. Mit Bescheid vom 24. Mai 2007 setzte die schwedische Finanz­ver­waltung steuerliche Sanktionen gegen Herrn Åkerberg Fransson für die Steuerjahre 2004 und 2005 fest***.

Schwedisches Gericht leitet Strafverfahren ein

2009 leitete das Haparanda tingsrätt gegen Herrn Åkerberg Fransson ein Strafverfahren ein. Die Staats­an­walt­schaft wirft ihm Steuer­hin­ter­ziehung (für die Jahre 2004 und 2005) vor, die nach schwedischem Recht mit Freiheitsstrafe von bis zu sechs Jahren bestraft wird. Diesem Verfahren liegt dieselbe Tat der Abgabe unzutreffender Steue­r­er­klä­rungen zugrunde, die auch zu den steuerlichen Sanktionen geführt hat.

Nationales Gericht erbittet Entscheidung des EuGH über mögliche Unzulässigkeit der erhobenen Anklage

Das schwedische Gericht möchte wissen, ob die Anklage gegen Herrn Åkerberg Fransson unzulässig ist, weil er in einem anderen Verfahren bereits wegen derselben Tat bestraft wurde. Weiter fragt es sich, ob die schwedische Gerichtspraxis, die die Verpflichtung, Vorschriften, die gegen ein durch die EMRK und die Charta garantiertes Grundrecht verstoßen, unangewendet zu lassen, davon abhängig macht, dass sich dieser Verstoß klar aus den betreffenden Rechts­vor­schriften oder der entsprechenden Rechtsprechung ergibt, mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

Charta und damit enthaltenes Verbot der Doppel­be­strafung auf zugrunde liegenden Fall anwendbar

In seinem Urteil weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass die Charta nach ihrem Wortlaut für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gilt. Die Charta bestätigt damit die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die Verpflichtung zur Einhaltung der von der Charta anerkannten Grundrechte besteht, sobald eine nationale Rechts­vor­schrift in den Anwen­dungs­bereich des Unionsrechts fällt. Somit sind keine Fallge­stal­tungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst werden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte. Der Gerichtshof stellt klar, dass steuerliche Sanktionen und ein Strafverfahren wegen Steuer­hin­ter­ziehung aufgrund unrichtiger Angaben zur Mehrwertsteuer als Durchführung mehrerer Bestimmungen des Unionsrechts über die Mehrwertsteuer und die finanziellen Interessen der Union anzusehen sind****. Daher sind die Charta und damit das in ihr enthaltene Verbot der Doppel­be­strafung auf den Fall von Herrn Åkerberg Fransson anwendbar und können vom Gerichtshof ausgelegt werden.

Hat das Gericht eines Mitgliedstaats zu prüfen, ob mit den Grundrechten eine nationale Vorschrift oder Maßnahme vereinbar ist, die in einer Situation, in der das Handeln eines Mitgliedstaats nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird, das Unionsrecht durchführt, steht es den nationalen Behörden und Gerichten weiterhin frei, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.

Mitgliedsstaat ist nicht gehindert steuerliche und danach strafrechtliche Sanktion zu verhängen

Der Grundsatz des Verbots der Doppel­be­strafung hindert einen Mitgliedstaat nicht daran, zur Ahndung derselben Tat der Nichtbeachtung von Erklä­rungs­pflichten im Bereich der Mehrwertsteuer eine steuerliche Sanktion und danach eine strafrechtliche Sanktion zu verhängen. Die Mitgliedstaaten können, um die Erhebung der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer in ihrer Gesamtheit und damit den Schutz der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten, die anwendbaren Sanktionen frei wählen. Dabei kann es sich um verwal­tungs­rechtliche oder strafrechtliche Sanktionen oder um eine Kombination der beiden handeln. Nur wenn die steuerliche Sanktion straf­recht­lichen Charakter im Sinne der Charta hat und unanfechtbar geworden ist, steht diese Vorschrift der Einleitung eines Strafverfahrens gegen dieselbe Person wegen derselben Tat entgegen.

Kriterien zur Beurteilung der straf­recht­lichen Natur von steuerlichen Sanktionen

Für die Beurteilung der straf­recht­lichen Natur von steuerlichen Sanktionen sind drei Kriterien maßgeblich: Erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im inner­staat­lichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens die Art und der Schweregrad der dem Betroffenen angedrohten Sanktion. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, im Licht dieser Kriterien zu beurteilen, ob die nach nationalem Recht vorgesehene Kumulierung von steuerlichen und straf­recht­lichen Sanktionen anhand der nationalen Schutzstandards zu prüfen ist, so dass das Gericht unter Umständen zu dem Ergebnis gelangen kann, dass diese Kumulierung gegen diese Standards verstößt, sofern die verbleibenden Sanktionen wirksam, angemessen und abschreckend sind. Weiter stellt der Gerichtshof fest, dass das Unionsrecht nicht das Verhältnis zwischen der EMRK und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten regelt und auch nicht bestimmt, welche Konsequenzen ein nationales Gericht aus einem Widerspruch zwischen den durch die EMRK gewährleisteten Rechten und einer nationalen Rechts­vor­schrift zu ziehen hat.

Nationales Gericht muss erfor­der­li­chenfalls entge­gen­stehende Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet lassen

Der Gerichtshof erinnert jedoch an die Konsequenzen, die das nationale Gericht aus einem Widerspruch zwischen Bestimmungen seines inner­staat­lichen Rechts und den durch die Charta verbürgten Rechten zu ziehen hat. Das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, ist gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erfor­der­li­chenfalls jede – auch spätere – entge­gen­stehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entschei­dungs­be­fugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetz­ge­be­rischem Wege oder durch irgendein anderes verfas­sungs­recht­liches Verfahren beantragen oder abwarten müsste.

Nationale Rechtsordnungen dürfen Wirksamkeit des Unionsrechts nicht schwächen

Mit den in der Natur des Unionsrechts liegenden Erfordernissen ist nämlich jede Bestimmung einer nationalen Rechtsordnung oder jede Gesetzgebungs-, Verwaltungs- oder Gerichtspraxis unvereinbar, die dadurch zu einer Schwächung der Wirksamkeit des Unionsrechts führt, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um diejenigen inner­staat­lichen Rechts­vor­schriften auszuschalten, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Unionsnormen bilden. Daraus folgt, dass das Unionsrecht einer Gerichtspraxis entgegensteht, die die Verpflichtung des nationalen Gerichts, Vorschriften, die gegen ein durch die Charta garantiertes Grundrecht verstoßen, unangewendet zu lassen, davon abhängig macht, dass sich dieser Verstoß klar aus den Bestimmungen der Charta oder aus der entsprechenden Rechtsprechung ergibt, wenn sie dem nationalen Gericht die Befugnis abspricht – gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof – die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit der Charta umfassend zu beurteilen.

Erläuterungen

*Art. 50 der Grund­recht­echarta.

** Protokoll Nr. 7 (Art. 4) der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).

*** Für das Steuerjahr 2004 betrug der Steuerzuschlag 35 542 SEK (knapp 4 117 Euro) für seine Einnahmen aus selbständiger Tätigkeit, 4 872 SEK (knapp 564 Euro) für Mehrwertsteuer und 7 138 SEK (knapp 826 Euro) für Arbeit­ge­be­r­abgaben; für das Steuerjahr 2005 wurden ihm Steuerzuschläge von 54 240 SEK (knapp 6 283 Euro) für seine Einnahmen aus selbständiger Tätigkeit, 3 255 SEK (knapp 377 Euro) für Mehrwertsteuer und 7 172 SEK (knapp 830 Euro) für Arbeit­ge­be­r­abgaben auferlegt.

**** Art. 2, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Mehrwert­steu­er­richtlinie 2006/112 (früher Art. 2 und Art. 22 der Sechsten Mehrwert­steu­er­richtlinie 77/388) sowie Art. 325 AEUV.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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