15.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil12.07.2012

Richtlinien über den Verkehr mit Gemüsesaatgut gültigInteressen der Verkäufer "alter Sorten" ausreichend berücksichtigt

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat die Richtlinien über den Verkehr mit Gemüsesaatgut für gültig erklärt. Da die Richtlinien auch das Inver­kehr­bringen "alter Sorten" unter bestimmten Voraussetzungen erlauben, werden nämlich auch die wirtschaft­lichen Interessen der Verkäufer dieser „alten Sorten“ berücksichtig.

Die Richtlinie über den Verkehr mit Gemüsesaatgut* macht das Inver­kehr­bringen dieses Saatguts von der vorherigen Zulassung der entsprechenden Sorten in mindestens einem Mitgliedstaat abhängig. Außerdem wird eine Sorte nur dann zu den amtlichen Katalogen der Mitgliedstaaten zugelassen, wenn sie unter­scheidbar**, beständig** und hinreichend homogen** ist. Allerdings sieht eine andere Richtlinie*** bestimmte Ausnahmen von dieser Regelung der Zulassung zu den nationalen Katalogen vor, die „Erhal­tungs­sorten“**** und „für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtete Sorten“***** betreffen. Diese „alten Sorten“ können nämlich unter bestimmten Voraussetzungen auch dann angebaut und in den Verkehr gebracht werden, wenn sie die allgemeinen Anforderungen für die Zulassung zu den amtlichen Katalogen nicht erfüllen.

Nationales Gericht rügt unlautere Wettbe­wer­bs­hand­lungen durch Saatgut­un­ter­nehmen

Mit Urteil vom 14. Januar 2008 verurteilte das Tribunal de grande Instance de Nancy (Frankreich) die Vereinigung ohne Erwerbszweck Kokopelli dazu, dem Saatgut­un­ter­nehmen Graines Baumaux Schadensersatz wegen unlauteren Wettbewerbs zu zahlen. Dieses Gericht stellte fest, dass Kokopelli und Baumaux im Bereich alten oder Kollek­ti­o­ns­saatguts tätig seien, in 233 Fällen identische oder ähnliche Erzeugnisse vertrieben und sich an dieselbe Kundschaft von Hobbygärtnern wendeten und daher in Wettbewerb miteinander stünden. Das Gericht kam infolgedessen zu dem Schluss, dass Kokopelli unlautere Wettbe­wer­bs­hand­lungen dadurch vornehme, dass sie Saatgut für Gemüsepflanzen zum Verkauf anbiete, das weder im französischen Katalog noch im gemeinsamen Katalog für Gemüsesorten enthalten sei.

Französisches Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH zur Gültigkeit der Richtlinie über das Inver­kehr­bringen von Gemüsesaatgut

Kokopelli legte gegen dieses Urteil Berufung bei der Cour d’appel de Nancy ein, die den Gerichtshof nach der Gültigkeit der Richtlinie über den Verkehr mit Gemüsesaatgut und der Richtlinie mit Ausnah­me­re­ge­lungen für „Erhal­tungs­sorten“ und „für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtete Sorten“ fragt.

EuGH erklärt Richtlinien für gültig

Mit seinem Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass die Gültigkeit der beiden Richtlinien weder durch bestimmte Grundsätze des Unionsrechts noch durch die von der Union eingegangenen Verpflichtungen aus dem Internationalen Vertrag über pflan­zen­ge­ne­tische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft beeinträchtigt wird.

Zulas­sungs­re­gelung erlaubt Verwendung geeigneten Saatguts und damit gesteigerte Produktivität der Landwirtschaft

So weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die von einer Bestimmung des Unionsrechts eingesetzten Mittel zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung verfolgten legitimen Ziele geeignet sind und nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen. Hierzu stellt der Gerichtshof fest, dass das Hauptziel der Bestimmungen über die Zulassung des Saatguts von Gemüsesorten in der Steigerung der Produktivität beim Gemüseanbau in der Union besteht. Zur Gewährleistung einer gesteigerten Produktivität dieser Kulturen erweist sich die Aufstellung eines gemeinsamen Gemüse­sor­ten­ka­talogs auf der Grundlage nationaler Kataloge als geeignet, dieses Ziel zu gewährleisten. Eine solche Zulas­sungs­re­gelung, die verlangt, dass Saatgut von Gemüsesorten unterscheidbar, beständig und homogen ist, erlaubt nämlich die Verwendung geeigneten Saatguts und damit eine gesteigerte Produktivität der Landwirtschaft, die auf der Verlässlichkeit der Eigenschaften dieses Saatguts beruht.

Außerdem kann diese Zulas­sungs­re­gelung zur Verwirklichung des zweiten Zieles, der Errichtung des Binnenmarkts für Gemüsesaatgut, dadurch beitragen, dass sie dessen freien Verkehr innerhalb der Union gewährleistet. Eine solche Regelung garantiert nämlich, dass Saatgut, das in den verschiedenen Mitgliedstaaten in den Verkehr gebracht wird, den gleichen Anforderungen entspricht.

Zusätzlich ist die für die „Erhal­tungs­sorten“ und die „für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchteten Sorten“ umgesetzte abweichende Zulas­sungs­re­gelung geeignet, die Erhaltung der pflan­zen­ge­ne­tischen Ressourcen – das dritte Ziel des Unionsrechts – zu gewährleisten.

Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit durch Zulassung von Gemüsesaatgut nicht verletzt

Daher stellt der Gerichtshof fest, dass die Regelung für die Zulassung von Gemüsesaatgut nicht über das zur Erreichung dieser Ziele Erforderliche hinausgeht. Durch die Pflicht zur Aufnahme in die amtlichen Kataloge und die damit verbundenen Zulas­sungs­kri­terien lässt sich sicherstellen, dass Saatgut einer Sorte die notwendigen Eigenschaften besitzt, um eine gesteigerte, qualitätsvolle, verlässliche und über die Zeit gleichbleibende landwirt­schaftliche Erzeugung zu gewährleisten. Unter diesen Umständen – und insbesondere im Hinblick auf das weite Ermessen, über das er im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik verfügt –, durfte der Unions­ge­setzgeber berech­tig­terweise annehmen, dass andere Maßnahmen wie die Etikettierung es nicht erlauben würden, dasselbe Ergebnis zu erzielen. Eine weniger einschneidende Maßnahme wie die Etikettierung würde nämlich kein ebenso wirksames Mittel darstellen, da sie den Verkauf und infolgedessen die Aussaat von Saatgut ermöglichen würde, das möglicherweise schädlich ist oder keine bestmögliche landwirt­schaftliche Erzeugung erlaubt. Daher ist der Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit nicht verletzt.

Liberalisierung des Marktes für Saatgut der „alten Sorten“ nicht beabsichtigt

Anschließend weist der Gerichtshof darauf hin, dass die fraglichen Richtlinien die wirtschaft­lichen Interessen von Wirtschafts­teil­nehmern wie Kokopelli, die „alte Sorten“ zum Verkauf anbieten, die die Voraussetzungen für die Zulassung zu den amtlichen Katalogen nicht erfüllen, berücksichtigen, indem sie das Inver­kehr­bringen dieser Sorten nicht ausschließen. Zwar sind geographische, mengenmäßige und die Verpackung betreffende Beschränkungen für Saatgut von Erhal­tungs­sorten und Sorten, die für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtet werden, vorgesehen, doch fügen sich diese Beschränkungen in den Kontext der Erhaltung der pflan­zen­ge­ne­tischen Ressourcen ein. In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof darauf hin, dass der Unions­ge­setzgeber nicht die Liberalisierung des Marktes für Saatgut der „alten Sorten“ beabsichtigte, sondern bestrebt war, die Zulas­sungs­be­stim­mungen flexibler zu gestalten und dabei die Bildung eines Parallelmarkts für dieses Saatgut zu verhindern, der den Binnenmarkt für Saatgut von Gemüsesorten zu behindern drohte.

Grundsätze der Gleich­be­handlung und des freien Warenverkehrs gewahrt

Im Übrigen stellt der Gerichtshof fest, dass die streitigen Richtlinien weder die Grundsätze der Gleich­be­handlung, der freien Ausübung einer wirtschaft­lichen Tätigkeit und des freien Warenverkehrs noch die Verpflichtungen der Union aus dem Internationalen Vertrag über pflan­zen­ge­ne­tische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft verletzen.

Erläuterungen
* Richtlinie 2002/55/EG des Rates vom 13. Juni 2002 über den Verkehr mit Gemüsesaatgut (ABl. L 193, S. 33).

** Eine Sorte ist unterscheidbar, wenn sie sich ohne Rücksicht darauf, ob das Ausgangs­ma­terial, aus dem sie entstanden ist, künstlichen oder natürlichen Ursprungs ist, durch ein oder mehrere wichtige Merkmale deutlich unterscheidet von jeder anderen in der Gemeinschaft bekannten Sorte.

Eine Sorte ist beständig, wenn sie nach ihren aufein­an­der­fol­genden Vermehrungen oder, wenn der Züchter einen besonderen Vermeh­rungs­zyklus festgelegt hat, am Ende eines jeden Zyklus in ihren wesentlichen Merkmalen ihrem Sortenbild entspricht.

Eine Sorte ist hinreichend homogen, wenn die Pflanzen, aus denen sie sich zusammensetzt – von wenigen Abweichungen abgesehen –, unter Berück­sich­tigung der Besonderheiten der Vermehrung der Pflanzen in Bezug auf alle zu diesem Zweck festgelegten Merkmale ähnlich oder in genetischer Hinsicht identisch sind.

*** Richtlinie 2009/145/EG der Kommission vom 26. November 2009 mit Ausnah­me­re­ge­lungen für die Zulassung von Gemüse­land­sorten und anderen Sorten, die traditionell an besonderen Orten und in besonderen Regionen angebaut werden und von genetischer Erosion bedroht sind, sowie von Gemüsesorten, die an sich ohne Wert für den Anbau zu kommerziellen Zwecken sind, aber für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtet werden, sowie für das Inver­kehr­bringen von Saatgut dieser Landsorten und anderen Sorten (ABl. L 312, S. 44).

**** „Erhal­tungs­sorten“ sind Gemüse­land­sorten und andere Sorten, die traditionell an besonderen Orten und in besonderen Regionen angebaut werden und von genetischer Erosion bedroht sind.

***** „Für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtete Sorten“ sind Sorten, die an sich ohne Wert für den Anbau zu kommerziellen Zwecken sind, aber für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtet werden.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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