In dem zugrunde liegenden Fall arbeiten seit über 20 Jahren griechische Stellen daran, den Fluss Acheloos (in Westgriechenland) teilweise zum Fluss Pineios (in Ostgriechenland) umzuleiten und den Oberlauf zur Errichtung von Staudämmen zu nutzen. Die beiden Flüsse entspringen im Bergmassiv des Pindos. Der Acheloos mit einer Länge von 220 km und einer Breite von bis zu 90 m – gespeist von zahlreichen Nebenflüssen – mündet in den Golf von Patras. Er ist eines der bedeutendsten Wassergebiete des Landes und stellt ein besonders wichtiges Flussökosystem dar. Der Pineios läuft durch die Ebene von Thessalien und mündet in den Golf von Saloniki. Dieses Vorhaben soll den Bewässerungsbedarf in Thessalien decken, der Stromerzeugung dienen und mehrere städtische Gebiete dieser Region mit Wasser versorgen.
Mehrere Regionalverwaltungen und bestimmte Vereinigungen wandten sich gegen den Minister für Umwelt und beantragten beim Staatsrat die Nichtigerklärung des Vorhabens. Um über diesen Antrag zu entscheiden, richtet dieser mehrere Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts an den Gerichtshof.
Der Gerichtshof antwortet zunächst, dass die Wasserrahmenrichtlinie und die Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten dem fraglichen Vorhaben grundsätzlich nicht entgegenstehen und legt sodann die Habitat-Richtlinie aus.
Dazu weist er darauf hin, dass die Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung (GGB) in der mediterranen biogeografischen Region – die in dem betreffenden Gebiet mehrere Seen und das Delta des Flusses Acheloos enthält – vor Erlass des Gesetzes zur Annahme des Vorhabens zur teilweisen Flussumleitung wirksam wurde. Im Übrigen sind die betreffenden Gebiete von dem Moment an, in dem Griechenland sie in seinen Vorschlag für die Liste der GGB aufgenommen hat, Gegenstand von Schutzmaßnahmen, die geeignet sind, die erhebliche ökologische Bedeutung, die diesen Gebieten auf nationaler Ebene zukommt, zu wahren. Somit musste Griechenland auch vor Inkrafttreten der Entscheidung zur Festlegung der Liste von GGB Eingriffe verbieten, die die ökologischen Merkmale dieser Gebiete ernsthaft beeinträchtigen könnten. Nach Bekanntgabe dieser Entscheidung an den betreffenden Mitgliedstaat muss das Prüfungsverfahren gewährleisten, dass ein Vorhaben nur genehmigt wird, soweit es dieses Gebiet als solches nicht beeinträchtigt. Dieses Verfahren muss in der Weise erfolgen, dass die zuständigen Behörden Gewissheit darüber erlangen, dass sich ein Vorhaben nicht nachteilig auf das betreffende Gebiet als solches auswirkt. Demnach darf ein in der Umleitung von Wasser bestehendes Vorhaben, das für die Erhaltung eines besonderen Schutzgebiets (BSG) nicht erforderlich ist, sondern dieses erheblich beeinträchtigen könnte, nicht genehmigt werden, wenn verlässliche und aktualisierte Daten über die Vogelwelt in diesem Gebiet fehlen.
Zudem ist in dem Fall, dass ein Vorhaben trotz negativer Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art durchzuführen ist und eine Alternativlösung nicht vorhanden ist, die Kenntnis der Verträglichkeit unerlässlich für die Abwägung dieser Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses und der Beeinträchtigungen, die für das Gebiet entstünden, damit Ausgleichsmaßnahmen bestimmt werden können. Der Mitgliedstaat hat nämlich alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen zu ergreifen, um den Schutz der globalen Kohärenz von Natura 2000 sicherzustellen. Dabei müssen der Umfang der Umleitung von Wasser und die Bedeutung der hiermit verbundenen Arbeiten berücksichtigt und die Beeinträchtigungen des betreffenden Gebiets durch das Vorhaben daher genau identifiziert werden.
Die Bewässerung und die Trinkwasserversorgung stellen ein „überwiegendes öffentliches Interesse“ dar, womit grundsätzlich ein Vorhaben zur Umleitung von Wasser gerechtfertigt werden kann, wenn keine Alternativlösungen vorhanden sind.
Hingegen können zur Rechtfertigung der Verwirklichung eines Vorhabens zur Umleitung von Wasser, das ein GGB, das einen prioritären natürlichen Lebensraumtyp und/oder eine prioritäre Art einschließt, als solches beeinträchtigt, nur Erwägungen im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen und im Zusammenhang mit maßgeblichen günstigen Auswirkungen für die Umwelt geltend gemacht werden. Die Trinkwasserversorgung gehört grundsätzlich zu den Erwägungen im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen. Was die Bewässerung betrifft, ist nicht auszuschließen, dass sie unter bestimmten Umständen maßgebliche günstige Auswirkungen für die Umwelt haben kann. Andere zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses können nur nach Stellungnahme der Kommission geltend gemacht werden.
Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob das Vorhaben im vorliegenden Fall ein oder mehrere GGB, die einen prioritären natürlichen Lebensraumtyp und/oder eine prioritäre Art einschließen, tatsächlich als solche beeinträchtigt.
Schließlich bestätigt der Gerichtshof, dass die Habitat-Richtlinie, ausgelegt im Licht des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung, in Bezug auf Gebiete des Natura-2000-Netzes die Umwandlung eines natürlichen Flussökosystems in ein in großem Maße vom Menschen geschaffenes Fluss- und Seeökosystem erlaubt, sofern der Mitgliedstaat insbesondere alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen ergreift, um den Schutz der globalen Kohärenz von Natura 2000 sicherzustellen. Hauptziel dieser Richtlinie ist es nämlich, die Erhaltung der biologischen Vielfalt zu fördern, wobei jedoch die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und regionalen Anforderungen berücksichtigt werden sollen. Die Erhaltung der biologischen Vielfalt kann in bestimmten Fällen die Förderung bestimmter Tätigkeiten des Menschen erfordern.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 14.09.2012
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online