23.11.2024
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Dokument-Nr. 27818

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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil05.09.2019

Tele­kommunikations­unternehmen müssen Daten zur Stand­or­ter­mittlung bei Notrufen über 112 auch bei Mobil­funk­geräten ohne SIM-Karte übermittelnMitglieds­s­taaten müssen Übermittlung von Stand­ort­informationen ausnahmslos aller Anrufer der Nummer 112 sicherstellen

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass Tele­kommunikations­unternehmen den Stellen, die die Notrufe unter der Nummer 112 bearbeitenden, gebührenfrei die Informationen übermitteln müssen, mit denen der Standort des Anrufers ermittelt werden kann. Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass diese Verpflichtung auch dann umgesetzt wird, wenn das Mobiltelefon nicht mit einer SIM-Karte ausgestattet ist.

AW u.a. sind Angehörige von ES, einer siebzehn­jährigen Jugendlichen, die Opfer einer Straftat wurde. Sie wurde am 21. September 2013 gegen sechs Uhr morgens in einem Vorort von Panevezys (Litauen) entführt, vergewaltigt und im Kofferraum eines Autos lebendig verbrannt. Während sie im Kofferraum eingesperrt war, sandte sie mit einem Mobiltelefon unter der europaweit einheitlichen Notrufnummer 112 etwa ein Dutzend Mal einen Hilferuf an das litauische Notfallzentrum. Den dortigen Bediensteten wurde jedoch die Nummer des verwendeten Mobiltelefons nicht angezeigt, so dass dessen Standort nicht ermittelt werden konnte. Es ließ sich nicht feststellen, ob das von ES verwendete Mobiltelefon über eine SIM-Karte verfügte und warum seine Nummer im Notfallzentrum nicht angezeigt wurde.

Kläger rügen nicht ordnungsgemäße praktische Umsetzung der Univer­sa­l­dien­strichtlinie

AW u.a. haben vor dem Vilniaus apygardos administracinis teismas (Regionales Verwal­tungs­gericht Vilnius, Litauen) gegen den litauischen Staat eine Klage auf Ersatz des dem Opfer, ES, und ihnen selbst entstandenen immateriellen Schadens erhoben. Sie stützen ihre Klage darauf, dass Litauen nicht für die ordnungsgemäße praktische Umsetzung der Univer­sa­l­dien­stricht­linie* gesorgt habe, wonach die Mitgliedstaaten sicherstellen müssten, dass die Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­un­ter­nehmen den die Notrufe unter der Nummer 112 bearbeitenden Stellen unmittelbar nach Eingang des Anrufs bei diesen Stellen gebührenfrei Informationen zum Anruferstandort übermittelten**. Dies gelte für alle Anrufe unter der einheitlichen europäischen Notrufnummer 112. Wegen der mangelhaften Umsetzung der Richtlinie hätten den örtlichen Polizei­dienst­stellen die Angaben zum Standort von ES nicht übermittelt werden können, so dass sie daran gehindert gewesen seien, ihr Hilfe zu leisten.

Nationales Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH

Das Vilniaus apygardos administracinis teismas möchte vom Gerichtshof wissen, ob die Univer­sa­l­dien­strichtlinie den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegt, die Übermittlung der Standortangaben auch dann sicherzustellen, wenn der Anruf von einem Mobiltelefon ohne SIM-Karte ausgetätigt wird, und ob die Mitgliedstaaten über ein Ermessen bei der Festlegung der Kriterien für die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Angaben zum Standort des Anrufers der Nummer 112 verfügen, das es ihnen gestattet, diese Angaben auf die Nennung der Basisstation zu beschränken, über die der Anruf übermittelt wurde.

Informationen zum Standort aller Anrufer der Nummer 112 müssen Notdiensten übermittelt werden

In seinem Urteil weist der Gerichtshof darauf hin, dass nach dem Wortlaut der Univer­sa­l­dien­strichtlinie "alle Anrufe unter der einheitlichen europäischen Notrufnummer" von der Pflicht zur Übermittlung von Informationen zum Anruferstandort erfasst werden. Überdies hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Univer­sa­l­dien­strichtlinie in ihrer ursprünglichen Fassung den Mitgliedstaaten unter der Voraussetzung der technischen Durch­führ­barkeit eine Erfolgspflicht auferlegte, die sich nicht auf die Einrichtung eines angemessenen Rechtsrahmens beschränkt, sondern verlangt, dass die Informationen zum Standort aller Anrufer der Nummer 112 tatsächlich den Notdiensten übermittelt werden. Daher können Anrufe unter der Nummer 112, die von einem Mobiltelefon ohne SIM-Karte aus getätigt werden, nicht vom Anwen­dungs­bereich der Univer­sa­l­dien­strichtlinie ausgeschlossen werden.

Infolgedessen ist der Gerichtshof zu dem Ergebnis gekommen, dass die Univer­sa­l­dien­strichtlinie den Mitgliedstaaten vorbehaltlich der technischen Durch­führ­barkeit die Verpflichtung auferlegt, sicherzustellen, dass die betreffenden Unternehmen den die Notrufe unter der Nummer 112 bearbeitenden Stellen unmittelbar nach Eingang des Anrufs bei diesen Stellen gebührenfrei Informationen zum Anruferstandort übermitteln, auch wenn der Anruf von einem Mobiltelefon ohne SIM-Karte aus getätigt wird.

Zur wirksamen Hilfe ist Standort des Anrufers so zuverlässig und genau wie möglich zu bestimmt

Der Gerichtshof stellt sodann fest, dass die Mitgliedstaaten zwar bei der Festlegung der Kriterien für die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Angaben zum Standort des Anrufers der Nummer 112 über ein gewisses Ermessen verfügen; die Kriterien müssen aber im Rahmen der technischen Machbarkeit stets gewährleisten, dass der Standort des Anrufers so zuverlässig und genau bestimmt werden kann, wie es erforderlich ist, damit die Notdienste ihm wirksam helfen können. Das den Mitgliedstaaten bei der Festlegung dieser Kriterien zustehende Ermessen findet seine Grenze daher darin, dass gewährleistet sein muss, dass die übermittelten Angaben eine effektive Ermittlung des Anrufer­standorts ermöglichen, damit die Notdienste tätig werden können. Da die Beurteilung dieser Gegebenheiten in hohem Maß technischen Charakter hat und eng mit den Besonderheiten des litauischen Mobilfunknetzes verbunden ist, ist sie Sache des vorlegenden Gerichts.

Schaden­s­er­satz­an­spruch setzt unmittelbaren Kausa­l­zu­sam­menhang zwischen Rechtsverstoß und eingetretenem Schaden voraus

Schließlich führt der Gerichtshofaus, dass zu den Voraussetzungen dafür, dass ein Mitgliedstaat für Schäden haftet, die dem Einzelnen durch diesem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, die Existenz eines unmittelbaren Kausa­l­zu­sam­menhangs zwischen dem Rechtsverstoß und dem eingetretenen Schaden gehört. Die im nationalen Schaden­s­er­satzrecht festgelegten Voraussetzungen dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Klagen, die nationales Recht betreffen.

Folglich ist ein nach dem nationalen Recht eines Mitgliedstaats für den Eintritt der Haftung dieses Staates ausreichender mittelbarer Kausa­l­zu­sam­menhang zwischen einen Rechtsverstoß der nationalen Behörden und dem entstandenen Schaden auch als ausreichend dafür anzusehen, dass der Staat für einen ihm zuzurechnenden Verstoß gegen das Unionsrecht haftet.

Erläuterungen

* Richtlinie 2002/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommu­ni­ka­ti­o­ns­netzen und -diensten (ABl. 2002, L 108, S. 51) in der durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 (ABl. 2009, L 337, S. 11) geänderten Fassung.

** Art. 26 Abs. 5.

Quelle: Gerichtshof der europäischen Union/ra-online (pm/kg)

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