21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil05.10.2010

EuGH zur Wider­recht­lichkeit des Verbringens eines Kindes in anderen EU-MitgliedstaatSofern durch Verbringung ein durch das nationale Recht übertragenes Sorgerecht verletzt wird, liegt widerrechtliche Verbringen vor

Das Verbringen eines Kindes in einen anderen Mitgliedstaat durch einen Elternteil ist nur widerrechtlich, wenn dadurch ein durch das nationale Recht übertragenes Sorgerecht verletzt wird. Eine nationale Regelung, nach der ein Vater, der nicht mit der Mutter des Kindes verheiratet ist, das Sorgerecht nur erlangen kann, wenn es ihm durch eine gerichtliche Entscheidung übertragen wird, verletzt nicht das geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

Nach der Verordnung über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung ist das Verbringen eines Kindes widerrechtlich, „wenn dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen … seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte“.

Mutter steht Sorgerecht automatisch zu – Vater muss Sorgerecht übertragen werden

Nach irischem Recht steht einem leiblichen Vater, der nicht mit der Mutter verheiratet ist, nicht automatisch ein Sorgerecht zu. Dieses kann ihm durch eine Vereinbarung zwischen den Eltern oder durch eine gerichtliche Entscheidung übertragen werden. Dagegen steht der Mutter das Sorgerecht automatisch zu.

Mutter geht nach der Trennung mit ihren Kindern nach England – Klage des Vaters auf Erteilung des Sorgerechts erreicht Mutter nicht mehr in Irland

Herr McB, irischer Staats­an­ge­höriger, und Frau E., britische Staats­an­ge­hörige, lebten über zehn Jahre lang in nichtehelicher Lebens­ge­mein­schaft zusammen; seit November 2008 wohnten sie mit ihren drei Kindern, die 2000, 2002 und 2007 geboren wurden, in Irland. Nachdem sich die Beziehung zwischen den Eltern verschlechtert hatte, verließ die Mutter mit den Kindern am 11. Juli 2009 die Familienwohnung und zog in ein Frauenhaus. Am 25. Juli 2009 flog sie nach England und nahm die drei Kinder mit. In der Zwischenzeit, am 15. Juli 2009, unternahm der Vater Schritte, um vor den irischen Gerichten ein Sorgerecht für seine drei Kinder zu erwirken. Da die Klage der Mutter jedoch nicht vor ihrer Abreise zugestellt wurde, war sie nach irischem Verfahrensrecht nicht ordnungsgemäß erhoben, so dass die irischen Gerichte nicht befasst waren.

Verbringung der Kinder nach England erfolgte nicht widerrechtlich

Im November 2009 beantragte Herr McB. beim zuständigen englischen Gericht, die Rückkehr der Kinder nach Irland anzuordnen. Dieses Gericht verlangte von ihm die Vorlage einer Entscheidung der irischen Behörden, mit der festgestellt wird, dass das Verbringen der Kinder nach England widerrechtlich war. Daher beantragte Herr McB. im Dezember 2009 beim High Court (Irland) den Erlass einer solchen Entscheidung. Im April 2010 wurde dieser Antrag mit der Begründung zurückgewiesen, dem Vater habe zum Zeitpunkt des Verbringens der Kinder nach England kein Sorgerecht für sie zugestanden, so dass dieses Verbringen nicht „widerrechtlich“ gewesen sei.

Ist Erteilung des Sorgerechts an den Vater notwendig, um wider­recht­liches Verbringen der Kinder zu verhindern?

Der Supreme Court (Irland), bei dem Herr McB. Berufung eingelegt hat, hat dem Gerichtshof am 6. August 2010 die Frage vorgelegt, ob die Verordnung einem Mitgliedstaat im Licht des Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der die Achtung des Privat- und Familienlebens betrifft, untersagt, in seinem Recht vorzusehen, dass der Vater eines Kindes, der nicht mit der Mutter verheiratet ist, das Sorgerecht nur erlangen kann, wenn er eine Anordnung des zuständigen nationalen Gerichts erwirkt, mit der ihm dieses Recht übertragen wird, das ein Verbringen des Kindes an einen anderen Ort durch seine Mutter widerrechtlich machen kann.

Wider­recht­lichkeit des Verbringens eines Kindes hängt ausschließlich vom Bestehen eines durch nationales Recht übertragenen Sorgerechts ab

Der Gerichtshof, dessen Entscheidung zwei Monate nach Eingang des Ersuchens ergeht, weist darauf hin, dass in der Verordnung nicht festgelegt wird, wem das Sorgerecht zustehen muss, das ein Verbringen eines Kindes an einen anderen Ort widerrechtlich machen kann, sondern zur Bestimmung des Inhabers dieses Rechts auf das Recht des Mitgliedstaats verweist, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen an einen anderen Ort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Daher bestimmen sich die Voraussetzungen, unter denen ein leiblicher Vater das Sorgerecht für sein Kind erhält, nach dem Recht dieses Mitgliedstaats, das für die Erlangung des Sorgerechts gegebenenfalls verlangt, dass der Vater eine Entscheidung des zuständigen nationalen Gerichts erwirkt, mit der ihm dieses Recht übertragen wird. Die Verordnung ist somit dahin auszulegen, dass die Wider­recht­lichkeit des Verbringens eines Kindes im Hinblick auf die Anwendung dieser Verordnung ausschließlich vom Bestehen eines durch das anwendbare nationale Recht übertragenen Sorgerechts abhängt, gegen das das Verbringen verstößt.

Auslegung steht mit Richtlinien in Einklang

Ferner stellt der Gerichtshof fest, dass diese Auslegung mit der Charta, insbesondere mit deren Art. 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens) und Art. 24 (Rechte des Kindes), im Einklang steht.

Charta ist gleiche Tragweite beizumessen Menschen­rechts­kon­vention in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Hierzu weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Union nach Art. 6 EUV die Rechte, Freiheiten und Grundsätze anerkennt, die in der Charta niedergelegt sind, und dass die Charta und die Verträge „rechtlich gleichrangig“ sind. Die Bestimmungen der Charta richten sich jedoch nur an die Mitgliedstaaten, wenn diese Unionsrecht anwenden. Daraus folgt, dass der Gerichtshof die Charta im Rahmen der vorliegenden Rechtssache nur im Rahmen der Auslegung der Verordnung berücksichtigen kann, ohne eine Beurteilung der Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit der Charta vorzunehmen. Soweit die in der Charta enthaltenen Rechte zudem den Rechten entsprechen, die durch die Europäische Menschen­rechts­kon­vention (EMRK) gewährleistet werden, haben sie den gleichen Sinn und die gleiche Tragweite, wie sie ihnen durch die EMRK verliehen werden. Da Art. 7 der Charta und Art. 8 der EMRK in ihrem Inhalt übereinstimmen, ist Art. 7 der Charta der gleiche Sinn und die gleiche Tragweite beizumessen wie Art. 8 der EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).

Alleinige Zuweisung des Rechts der elterlichen Sorge für ein Kind eines unverheirateten Paares auf die Mutter nicht zu beanstanden

In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, das der EGMR bereits entschieden hat, dass eine nationale Regelung, die das Recht der elterlichen Sorge für ein Kind eines unverheirateten Paares allein der Mutter des Kindes zuweist, Art. 8 EMRK nicht zuwiderläuft, sofern sie dem Vater des Kindes, dem die elterliche Sorge nicht zusteht, das Recht einräumt, beim zuständigen nationalen Gericht die Änderung der Zuweisung dieses Rechts zu beantragen.

Leiblicher Vater muss vor dem Verbringen des Kindes in einen anderen EU-Mitgliedsstaat die Möglichkeit haben bei zuständigem nationalen Gericht das Sorgerecht für sein Kind zu übertragen

Daraus folgt, dass der leibliche Vater eines Kindes, das von seiner Mutter in einen anderen Mitgliedstaat verbracht wird, im Hinblick auf die Anwendung der Verordnung zur Bestimmung der Rechtmäßigkeit des Verbringens des Kindes in einen anderen Mitgliedstaat das Recht haben muss, sich vor diesem Verbringen mit dem Antrag an das zuständige nationale Gericht zu wenden, ihm das Sorgerecht für sein Kind zu übertragen, was in diesem Zusammenhang das Wesen des Rechts eines leiblichen Vaters auf ein Privat- und Familienleben ausmacht. Sofern dem leiblichen Vater dieses Recht zusteht, beeinträchtigt der Umstand, dass ihm, anders als der Mutter, nicht automatisch ein Sorgerecht im Sinne der Verordnung für sein Kind zusteht, nicht den wesentlichen Inhalt seines Rechts auf ein Privat- und Familienleben.

Mutter übt mit Verbringen des Kindes in anderen EU-Mitgliedsstaat eigenes Freizü­gig­keitsrecht aus

Diese Feststellung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass es einem Vater wie Herrn McB. unmöglich sein kann, die Rückgabe des Kindes zu erreichen, das von seiner Mutter in einen anderen Mitgliedstaat verbracht wurde. Mit diesem Verbringen übt nämlich die Mutter, der das Sorgerecht für das Kind zusteht, ihr eigenes Freizü­gig­keitsrecht aus und macht von ihrem Recht Gebrauch, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen, ohne dass dem leiblichen Vater damit die Möglichkeit genommen würde, von seinem Recht Gebrauch zu machen, die Übertragung des Sorgerechts für dieses Kind oder ein Besuchsrecht zu beantragen. Daher würde es den Anforderungen an die Rechts­si­cherheit sowie dem notwendigen Schutz der Rechte und Freiheiten der Mutter zuwiderlaufen, wenn dem leiblichen Vater gemäß der Verordnung ein Sorgerecht für sein Kind zugesprochen würde, obwohl ihm ein solches Recht nach nationalem Recht nicht gewährt wurde.

Unter diesen Umständen gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Verordnung einem Mitgliedstaat nicht untersagt, in seinem Recht vorzusehen, dass der Vater eines Kindes, der nicht mit der Mutter verheiratet ist, das Sorgerecht nur erlangen kann, wenn er eine Anordnung des zuständigen nationalen Gerichts erwirkt, mit der ihm dieses Recht übertragen wird, das ein Verbringen des Kindes an einen anderen Ort durch seine Mutter widerrechtlich machen kann.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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