23.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil01.07.2010

EuGH zur Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen hinsichtlich eines widerrechtlich in anderen Mitgliedstaat verbrachten KindesGerichtliche Zuständigkeit kann nicht auf Mitgliedsstaat des neuen Lebens­mit­tel­punkts übertragen werden

Die Vollstreckung einer mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, kann weder aufgrund einer späteren Entscheidung eines Gerichts des Vollstre­ckungs­mit­glied­staats noch aufgrund einer nach ihrer Erlassung eingetretenen Änderung der Umstände verweigert werden. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften.

Die Verordnung über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung sieht vor, dass bei wider­recht­lichem Verbringen eines Kindes die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, zuständig bleiben. Diese Zuständigkeit kann jedoch in bestimmten Fällen auf ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats übergehen, u. a. dann, wenn das Kind sich in diesem anderen Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, sich in seiner neuen Umgebung eingelebt hat und das ursprünglich zuständige Gericht eine Sorge­recht­s­ent­scheidung erlassen hat, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird. Nach der Verordnung ist eine Entscheidung eines zuständigen Gerichts, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, vollstreckbar. Die Verordnung sieht auch ein Verfahren für die Bescheinigung solcher Entscheidungen vor.

Sachverhalt

Frau Povse und Herr Alpago, die nicht miteinander verheiratet waren, wohnten bis Ende Januar 2008 zusammen mit ihrer im Dezember 2006 geborenen Tochter Sofia in Italien. Obwohl das Tribunale per i Minorenni di Venezia (Jugendgericht Venedig, Italien) der Mutter, nachdem diese mit ihrer Tochter die gemeinsame Wohnung verlassen hatte, auf Antrag des Vaters mit vorläufiger Eilentscheidung vom 8. Februar 2008 untersagte, mit dem Kind aus Italien auszureisen, begaben sich beide im Februar 2008 nach Österreich, wo sie seitdem leben.

Mutter lässt ungeachtet der Gericht­s­ent­scheidung Besuche des Vaters nur in geringem und nicht ausreichendem Umfang zu

Am 23. Mai 2008 erließ das Tribunale per i Minorenni di Venezia eine Entscheidung, mit der es das Sorgerecht vorläufig beiden Elternteilen übertrug, mit der Maßgabe, dass bis zur Erlassung seiner endgültigen Entscheidung das Kind in Österreich bei seiner Mutter wohnen dürfe. Ferner bestimmte das italienische Gericht in dieser vorläufigen Entscheidung, dass sich der Vater an den Lebens­hal­tungs­kosten des Kindes zu beteiligen habe, legte die Modalitäten für Besuche des Vaters fest und ordnete die Erstellung eines Gutachtens durch einen Sozialhelfer an, durch das die Beziehungen zwischen dem Kind und beiden Elternteilen ermittelt werden sollten. Aus einem Bericht des Sozialhelfers geht jedoch hervor, dass er sich außerstande sah, seine Aufgabe in vollem Umfang und zum Wohl des Kindes zu erfüllen, weil die Mutter ungeachtet dieser Entscheidung Besuche des Vaters nur in geringem und für die Erstellung des Gutachtens nicht ausreichendem Umfang zuließ.

Öster­rei­chisches Bezirksgericht weist Antrag auf Rückführung des Kindes nach Italien ab

Im November 2008 wies das Bezirksgericht Leoben (Österreich), gestützt auf die Entscheidung des italienischen Gerichts, wonach das Kind vorläufig bei seiner Mutter bleiben dürfe, einen von Herrn Alpago im April 2008 gestellten Antrag auf Rückführung des Kindes nach Italien ab.

Öster­rei­chisches Bezirksgericht ersucht italienisches Gericht um zukünftige Zuständigkeit

Auf einen von Frau Povse beim örtlich zuständigen Bezirksgericht Judenburg (Österreich) gestellten Antrag, ihr die Obsorge für das Kind zu übertragen, erklärte sich dieses Gericht am 26. Mai 2009 für zuständig und ersuchte das Tribunale per i Minorenni di Venezia, sich für unzuständig zu erklären.

Mutter erwähnt Antrag auf alleiniges Sorgerecht bei Verhandlung in Italien nicht

Herr Alpago hatte sich jedoch bereits am 9. April 2009 im Rahmen des bei dem italienischen Gericht anhängigen Sorge­rechts­ver­fahrens an dieses Gericht gewandt und beantragt, die Rückführung seines Kindes nach Italien anzuordnen. In einer von diesem Gericht am 19. Mai 2009 durchgeführten mündlichen Verhandlung erklärte sich Frau Povse bereit, das vom Sozialhelfer erstellte Besuchsprogramm zwischen Vater und Tochter zu befolgen. Ihren Antrag beim Bezirksgericht Judenburg erwähnte sie nicht.

Italienisches Gericht bejaht eigene Zuständigkeit und ordnet Rückführung des Kindes nach Italien an

Mit Entscheidung vom 10. Juli 2009 bejahte das Tribunale per i Minorenni di Venezia seine eigene Zuständigkeit, da die Voraussetzungen für einen Übergang der Zuständigkeit nicht erfüllt seien, und stellte fest, dass das von ihm in Auftrag gegebene Gutachten des Sozialhelfers nicht habe fertiggestellt werden können, da die Mutter den vom Sozialhelfer erstellten Umgangsplan nicht eingehalten habe. Ferner ordnete es die sofortige Rückführung des Kindes nach Italien an, damit die Kontakte zwischen dem Kind und seinem Vater wieder­her­ge­stellt würden, die infolge des Verhaltens der Mutter unterbrochen worden waren. Für diese Entscheidung wurde in Einklang mit der Verordnung eine Bescheinigung ausgestellt.

Öster­rei­chisches Gericht überträgt Mutter das Sorgerecht

Am 25. August 2009 erließ das Bezirksgericht Judenburg eine einstweilige Verfügung, mit der es die Obsorge für das Kind vorläufig Frau Povse übertrug.

Vater verlangt Vollstreckung der Rückführung seines Kindes

Am 22. September 2009 beantragte Herr Alpago bei den öster­rei­chischen Gerichten die Vollstreckung der Entscheidung, mit der die Rückführung seines Kindes nach Italien angeordnet worden war.

Zum Zeitpunkt der Entführung war italienisches Gericht gemäß Verordnung zuständig

Das Verfahren gelangte zum Obersten Gerichtshof, der, da er Zweifel hinsichtlich der Auslegung der Verordnung hat, dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften mehrere Fragen vorgelegt hat. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass es sich im Ausgangs­ver­fahren um ein wider­recht­liches Verbringen eines Kindes handelt und dass jedenfalls zum Zeitpunkt der Entführung das Tribunale per i Minorenni di Venezia als das Gericht des Ortes, an dem das Kind vor dem wider­recht­lichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, das nach der Verordnung zuständige Gericht war.

Wider­recht­liches Verbringen eines Kindes soll keine Übertragung der Zuständigkeit auf die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind verbracht wurde, zur Folge haben

Der Gerichtshof hebt hervor, dass das durch die Verordnung geschaffene System auf der zentralen Rolle des zuständigen Gerichts beruht und dass die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen und die Gründe für die Nicht­a­n­er­kennung auf das notwendige Minimum beschränkt sein sollten. Ferner führt er aus, dass die Verordnung darauf hinwirken soll, dass von Kindes­ent­füh­rungen zwischen Mitgliedstaaten Abstand genommen und, wenn es zu einer Entführung kommt, die Rückgabe des Kindes unverzüglich erwirkt wird. Daraus folgt, dass das widerrechtliche Verbringen eines Kindes grundsätzlich keine Übertragung der Zuständigkeit von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem wider­recht­lichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, auf die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind verbracht wurde, zur Folge haben sollte.

Nur endgültige Entscheidung kann zur Übertragung der Zuständigkeit auf ein anderes Gericht führen

In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass nur eine endgültige, auf der Grundlage einer umfassenden Prüfung aller relevanten Gesichtspunkte getroffene Entscheidung, mit der sich das zuständige Gericht zur Frage der nicht mehr von anderen behördlichen oder gerichtlichen Entscheidungen abhängenden Regelung der Sorge für das Kind äußert, zu einer Übertragung der Zuständigkeit auf ein anderes Gericht führen kann. Würde nämlich eine vorläufige Entscheidung zum Verlust der Zuständigkeit für die Frage der Sorge für das Kind führen, könnte dies das zuständige Gericht des Mitgliedstaats des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes von der Erlassung einer solchen vorläufigen Entscheidung abhalten, obwohl das Kindeswohl sie erfordern würde. Um eine endgültige Entscheidung über das Sorgerecht handelt es sich aber bei der Entscheidung des Tribunale per i Minorenni di Venezia vom 23. Mai 2008, mit der das Sorgerecht vorläufig beiden Elternteilen übertragen wurde, nicht.

Anordnung zur Rückgabe des Kindes auch ohne endgültige Entscheidung vollstreckbar

Sodann stellt der Gerichtshof fest, dass eine mit einer Bescheinigung gemäß der Verordnung versehene Entscheidung, mit der das zuständige Gericht die Rückgabe des Kindes anordnet, auch dann vollstreckbar ist, wenn ihr keine endgültige Entscheidung über das Sorgerecht für das Kind vorausgegangen ist. Der Gerichtshof weist insoweit darauf hin, dass eine solche Entscheidung verfah­rens­rechtliche Selbständigkeit genießt, um die Rückgabe eines widerrechtlich in einen anderen Mitgliedstaat verbrachten Kindes nicht zu verzögern.

Entscheidung des italienischen Gerichts erfolgte zum Wohl des Kindes

Der Gerichtshof fügt hinzu, dass sich die Richtigkeit dieser Betrach­tungsweise auch aus der Prüfung der Sachlage im Ausgangs­ver­fahren ergibt. Die Entscheidung, mit der das italienische Gericht die Rückgabe des Kindes anordnete, wird nämlich damit begründet, dass dessen Beziehungen zum Vater unterbrochen seien. Das Wohl des Kindes wird daher dadurch am besten gewahrt, dass diese Beziehungen wieder­her­ge­stellt werden und zugleich, soweit möglich, für die Anwesenheit der Mutter in Italien gesorgt wird, damit die Beziehungen des Kindes zu beiden Elternteilen sowie deren Fähigkeiten als Eltern und ihre persönliche Eigenschaften von den zuständigen italienischen Stellen eingehend geprüft werden können, bevor eine endgültige Entscheidung über das Sorgerecht und die elterliche Verantwortung ergeht.

Vollstreckung einer mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung kann nicht im Nachhinein verweigert werden

Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass die Vollstreckung einer mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, weder aufgrund einer späteren Entscheidung eines Gerichts des Vollstre­ckungs­mit­glied­staats noch deshalb verweigert werden kann, weil sie aufgrund einer seit Erlassung der Rückga­be­a­n­ordnung eingetretenen Änderung der Umstände das Wohl des Kindes schwerwiegend gefährden könnte. Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Verordnung eine klare Zustän­dig­keits­ver­teilung zwischen den Gerichten des Ursprungs­mit­glied­staats und des Vollstre­ckungs­mit­glied­staats vorsieht und auf die rasche Rückführung des Kindes abzielt. Das ersuchte Gericht kann lediglich die Vollstreck­barkeit der Entscheidung feststellen. Fragen, die die Begründetheit der Entscheidung betreffen, sowie eine etwaige Änderung der Umstände können nur vor dem zuständigen Gericht des Ursprungs­mit­glied­staats geltend gemacht werden.

Quelle: ra-online, EuGH

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