18.10.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil06.11.2012

Diskriminierung ungarischer Richter durch starke Absenkung des RentenaltersBeabsichtigte Maßnahme zur Verein­heit­lichung des Rentenalters verstößt gegen Verpflichtungen aus EU-Richtlinie

Die starke Absenkung des Rentenalters ungarischer Richter stellt eine nicht gerechtfertigte Diskriminierung aufgrund des Alters dar. Diese Maßnahme steht außer Verhältnis zu den vom ungarischen Gesetzgeber verfolgten Zielen der Verein­heit­lichung des Rentenalters im öffentlichen Dienst und der Herstellung einer ausgewogeneren Altersstruktur in der Justiz. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

In Ungarn konnten bis zum 31. Dezember 2011 Richter, Staatsanwälte und Notare bis zum Alter von 70 Jahren im Dienst bleiben. Im Jahr 2011 wurden die ungarischen Rechts­vor­schriften jedoch dahin gehend geändert, dass ab 1. Januar 2012 Richter und Staatsanwälte, die das allgemeine Ruhestandsalter von 62 Jahren erreicht haben, aus dem Amt ausscheiden müssen. Für die Richter und Staatsanwälte, die dieses Alter vor dem 1. Januar 2012 erreicht haben, sehen die ungarischen Rechts­vor­schriften vor, dass ihr Dienst am 30. Juni 2012 endet. Erreichen sie dieses Alter zwischen dem 1. Januar 2012 und dem 31. Dezember 2012, müssen sie am 31. Dezember 2012 aus dem Amt ausscheiden. Ab 1. Januar 2014 müssen auch die Notare an dem Tag, an dem sie das allgemeine Ruhestandsalter erreichen, aus dem Amt ausscheiden.

Kommission erhebt Vertrags­ver­let­zungsklage gegen Ungarn wegen Diskriminierung

Da die Kommission der Ansicht war, dass eine so schnelle und radikale Senkung der zwingenden Altersgrenze für den Eintritt in den Ruhestand eine nach der Richtlinie über die Gleich­be­handlung in Beschäftigung und Beruf verbotene Diskriminierung aufgrund des Alters zulasten der Richter, Staatsanwälte und Notare, die dieses Alter erreicht hätten, im Verhältnis zu denen, die im Dienst bleiben könnten, darstelle, hat sie eine Vertrags­ver­let­zungsklage gegen Ungarn erhoben.

Gerichtshof gibt Antrag der Kommission statt

Der Gerichtshof hat dem Antrag der Kommission stattgegeben, über diese Rechtssache im beschleunigten Verfahren zu entscheiden; dadurch konnte die Verfahrensdauer auf fünf Monate verkürzt werden.

Gerichtshof verweist auf eine auf dem Alter beruhende Ungleich­be­handlung

Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass sich die Richter, Staatsanwälte und Notare, die das Alter von 62 Jahren erreicht haben, in einer vergleichbaren Situation wie die jüngeren Personen befinden würden, die dieselben Berufe ausüben. Die Erstgenannten seien jedoch wegen ihres Alters gezwungen, aus dem Dienst auszuscheiden, so dass ihnen eine weniger günstige Behandlung zuteil werde als den im Dienst bleibenden Erwerbstätigen. Diese Situation stelle daher eine unmittelbar auf dem Alter beruhende Ungleichbehandlung dar.

Sozia­l­po­li­tische Ziele können Ausnahme vom Grundsatz des Diskri­mi­nie­rungs­verbots darstellen

Allerdings könnten sozia­l­po­li­tische Ziele, etwa aus den Bereichen Beschäf­ti­gungs­politik, Arbeitsmarkt oder berufliche Bildung, eine Ausnahme vom Grundsatz des Verbots von Diskri­mi­nie­rungen aus Gründen des Alters rechtfertigen. Hierzu stellt der Gerichtshof fest, dass die von Ungarn angeführten Ziele – das Erfordernis der Verein­heit­lichung des Rentenalters im öffentlichen Dienst und die Herstellung einer ausgewogeneren Altersstruktur, die den Zugang junger Juristen zu den betreffenden Berufen erleichtert – sozia­l­po­li­tischer Art seien.

Unerwartete Senkung der Altersgrenze ohne Berück­sich­tigung von Überg­angs­maß­nahmen

Zum Ziel der Verein­heit­lichung hebt der Gerichtshof hervor, dass die von den fraglichen Rechts­vor­schriften betroffenen Personen vor dem 1. Januar 2012 bis zum Alter von 70 Jahren im Dienst bleiben könnten, was bei ihnen die berechtigte Erwartung wecke, bis zu diesem Alter im Dienst bleiben zu können. Durch die fraglichen Rechts­vor­schriften würde aber eine plötzliche und erhebliche Senkung der Altersgrenze für das zwingende Ausscheiden aus dem Dienst vorgenommen werden, ohne Überg­angs­maß­nahmen vorzusehen, die geeignet gewesen wären, das berechtigte Vertrauen der Betroffenen zu schützen. Sie müssten daher automatisch und endgültig den Arbeitsmarkt verlassen, ohne Zeit gehabt zu haben, die durch eine solche Situation erforderlich werdenden Maßnahmen insbesondere wirtschaft­licher und finanzieller Art zu ergreifen. Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass zum einen das Ruhegehalt dieser Personen um mindestens 30 % niedriger als ihre Dienstbezüge sei und dass zum anderen die Einstellung der Tätigkeit nicht den Beitragszeiten Rechnung trage, so dass kein Anspruch auf ein Ruhegehalt zum vollen Satz gewährleistet sei.

Widerspruch zwischen Senkung des Ruhestand­s­alters und der Erhöhung des allgemeinen Ruhestand­s­alters

Der Gerichtshof führt weiter aus, dass ein Widerspruch zwischen der Senkung des Ruhestand­s­alters um acht Jahre ohne zeitliche Staffelung dieser Änderung und der Erhöhung des allgemeinen Ruhestand­s­alters um drei Jahre (von 62 auf 65 Jahre) bestehe, die vom Jahr 2014 an über acht Jahre hinweg vorgenommen werden solle. Dieser Widerspruch deute darauf hin, dass die Interessen derjenigen, die von der Absenkung der Altersgrenze betroffen seien, nicht in gleicher Weise berücksichtigt wurden wie die Interessen der übrigen Beschäftigten im öffentlichen Dienst, bei denen die Altersgrenze angehoben worden sei.

Ziel der Verein­heit­lichung des Rentenalters im öffentlichen Dienst wird nicht erreicht

Unter diesen Umständen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die starke Senkung des Eintrittsalters in den Ruhestand um acht Jahre bei den betreffenden Berufen keine zur Erreichung des Ziels der Verein­heit­lichung des Rentenalters im öffentlichen Dienst erforderliche Maßnahme sei.

Fragliche Regelung dient nicht zur Herstellung einer ausge­gli­cheneren "Altersstruktur"

Schließlich prüft der Gerichtshof das von Ungarn angeführte Ziel der Herstellung einer ausgewogeneren Altersstruktur. Dabei erkennt er zwar an, dass die nationale Regelung kurzfristig den Zugang junger Juristen zu den betreffenden Berufen erleichtern kann, hebt aber hervor, dass die erwarteten, kurzfristig offenkundig positiven Wirkungen die Möglichkeit in Frage stellen könnten, mittel- und langfristig zu einer wirklich ausgeglichenen „Altersstruktur“ zu gelangen. Zwar werde nämlich im Lauf des Jahres 2012 die Erneuerung des Personals der betreffenden Berufe ganz erheblich dadurch beschleunigt, dass acht Altersstufen durch eine einzige (die von 2012) ersetzt werden, doch werde dieser Rotati­o­ns­rhythmus im Jahr 2013 ebenso radikal gebremst, wenn nur eine Altersstufe ersetzt werden müsse. Zudem werde dieser Rhythmus nach und nach in dem Maße langsamer, in dem die Altersgrenze für das zwingende Ausscheiden aus dem Dienst stufenweise von 62 auf 65 Jahre angehoben wird, was sogar zu einer Verschlech­terung der Möglichkeiten des Zugangs junger Juristen zu den Justizberufen führen würde. Somit sei die fragliche Regelung nicht zur Verfolgung des Ziels der Herstellung einer ausge­gli­cheneren „Altersstruktur“ geeignet.

Ungarn verstößt gegen Verpflichtungen aus Richtlinie

Da die nationale Regelung eine Ungleich­be­handlung herbeiführt, die zur Erreichung der verfolgten Ziele weder geeignet noch erforderlich ist und somit nicht den Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit wahrt, hat Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie verstoßen.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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