21.11.2024
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Dokument-Nr. 32043

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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil01.08.2022

EuGH: Deutsche Regelung zum Familiennachzug ist rechtswidrigZeitpunkt der Antragstellung zählt für Flücht­ling­salter

Die Ablehnung der Erteilung eines nationalen Visums zum Zweck der Familien­zusammen­führung an den Elternteil eines während dieses Verfahrens volljährig gewordenen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings verstößt gegen das Unionsrecht. Dies hat der Europäische Gerichtshof entschieden. Gleiches gilt für den Fall, dass ein solcher Antrag von einem minderjährigen Kind gestellt wird, das volljährig geworden ist, bevor sein Vater als Flüchtling anerkannt wurde und vor Stellung des Antrags auf Familien­zusammen­führung.

SW, BL und BC beantragten als syrische Staats­an­ge­hörige die Erteilung von nationalen Visa zum Zweck der Famili­en­zu­sam­men­führung mit ihrem jeweiligen, in Deutschland als Flüchtling anerkannten Sohn. XC beantragte ebenfalls als syrische Staats­an­ge­hörige die Erteilung eines nationalen Visums zum Zweck der Famili­en­zu­sam­men­führung mit ihrem in Deutschland als Flüchtling anerkannten Vater. Ihre Anträge wurden mit der Begründung abgelehnt, dass die Söhne von SW, BL und BC sowie XC in der Zwischenzeit volljährig geworden seien. Ein deutsches Verwal­tungs­gericht verpflichtete Deutschland dazu, SW, BL und BC sowie XC nationale Visa zum Zweck der Famili­en­zu­sam­men­führung zu erteilen, da ihre Söhne und XC nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs als Minderjährige zu betrachten seien. Deutschland legte gegen diese Urteile Revision an das Bundes­ver­wal­tungs­gericht ein, das dem Gerichtshof Fragen zur Auslegung von Bestimmungen der Richtlinie betreffend das Recht auf Famili­en­zu­sam­men­führung zur Vorab­ent­scheidung vorgelegt hat.

Zeitpunkt der behördlichen/gerichtlichen Entscheidung für Beurteilung der Minder­jäh­ri­ge­nei­gen­schaft bei Elternnachzug maßgebend

In seinem Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-273/20 und C-355/20 weist der Gerichtshof darauf hin, dass das Ziel der Richtlinie betreffend das Recht auf Famili­en­zu­sam­men­führung darin besteht, die Famili­en­zu­sam­men­führung zu begünstigen und Dritt­staats­an­ge­hörigen, insbesondere Minderjährigen, Schutz zu gewähren. Der Gerichtshof weist auch darauf hin, dass die Richtlinie im Licht des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berück­sich­tigung des Kindeswohls auszulegen und anzuwenden ist. Nach diesen Hinweisen stellt der Gerichtshof als Erstes fest, dass ein Abstellen auf den Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats über den Antrag auf Einreise und auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Staates zum Zweck der Famili­en­zu­sam­men­führung entscheidet, als Zeitpunkt, nach dem sich die Beurteilung des Alters des Antragstellers oder, je nach Fall, des Zusam­men­füh­renden für die Gestattung des Nachzugs richtet, weder mit den Zielen der Richtlinie betreffend das Recht auf Famili­en­zu­sam­men­führung noch mit den Anforderungen im Einklang stünde, die sich aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergeben. Die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte hätten dann nämlich keine Veranlassung, die Anträge der Eltern Minderjähriger mit der Dringlichkeit, die geboten ist, um der Schutz­be­dürf­tigkeit der Minderjährigen Rechnung zu tragen, vorrangig zu bearbeiten, und könnten somit in einer Weise handeln, die das Recht auf Familienleben sowohl eines Elternteils mit seinem minderjährigen Kind als auch des Kindes mit einem Familien­an­ge­hörigen gefährden würde. Als Zweites würde eine solche Auslegung es auch nicht ermöglichen, im Einklang mit den Grundsätzen der Gleich­be­handlung und der Rechts­si­cherheit eine gleiche und vorhersehbare Behandlung aller Antragsteller, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden, zu gewährleisten, da sie dazu führen würde, dass der Erfolg des Antrags auf Famili­en­zu­sam­men­führung hauptsächlich von Umständen abhinge, die in der Sphäre der nationalen Behörden oder Gerichte liegen, insbesondere von der mehr oder weniger zügigen Bearbeitung des Antrags oder von der mehr oder weniger zügigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags, und nicht von Umständen, die in der Sphäre des Antragstellers liegen. Unter diesen Umständen geht der Gerichtshof davon aus, dass bei der Famili­en­zu­sam­men­führung von Eltern und einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling der Zeitpunkt der Entscheidung über den von den Eltern des Zusam­men­füh­renden gestellten Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Famili­en­zu­sam­men­führung für die Beurteilung der Minder­jäh­ri­ge­nei­gen­schaft des betreffenden Flüchtlings nicht maßgebend ist.

Elternnachzug auch bei zwischen­zeit­licher Volljährigkeit

Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass in einer solchen Situation die Minder­jäh­rigkeit dieses Flüchtlings auch noch zu diesem Zeitpunkt keine „Bedingung“ darstellt, bei deren Nichterfüllung die Mitgliedstaaten einen solchen Antrag ablehnen können. Ferner steht die fragliche Richtlinie einer nationalen Regelung entgegen, nach der in einem solchen Fall das Aufent­haltsrecht der Eltern mit Eintritt der Volljährigkeit des Kindes endet. Mit im Wesentlichen gleicher Argumentation kommt der Gerichtshof in der Rechtssache C-279/20 zu dem Schluss, dass der maßgebende Zeitpunkt für die Feststellung, ob ein Kind eines als Flüchtling anerkannten Zusam­men­füh­renden ein minderjähriges Kind ist, wenn es vor der Anerkennung des zusam­men­füh­renden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Famili­en­zu­sam­men­führung volljährig geworden ist, der Zeitpunkt ist, zu dem dieser Elternteil seinen Asylantrag gestellt hat. Ein solcher Antrag auf Famili­en­zu­sam­men­führung muss jedoch innerhalb einer angemessenen Frist erfolgen, d. h. innerhalb einer Frist von drei Monaten ab Anerkennung des zusam­men­füh­renden Elternteils als Flüchtling.

Für familiäre Bindungen kein Zusammenleben im selben Haushalt erforderlich

Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass bei der Famili­en­zu­sam­men­führung eines Elternteils und eines als Flüchtling anerkannten minderjährigen Kindes bzw. eines minderjährigen Kindes und eines als Flüchtling anerkannten Elternteils, wenn das Kind vor Erlass der Entscheidung über den Antrag dieses Elternteils auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Famili­en­zu­sam­men­führung bzw. vor der Anerkennung des zusam­men­füh­renden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Famili­en­zu­sam­men­führung volljährig geworden ist, die bloße Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie ersten Grades bzw. das bloße rechtliche Eltern-Kind- Verhältnis nicht für die Annahme genügen, dass tatsächliche familiäre Bindungen zwischen dem betreffenden Elternteil und dem betreffenden Kind bestehen. Es ist jedoch nicht erforderlich, dass der Flüchtling und der andere Familien­an­ge­hörige im selben Haushalt zusammenleben oder unter einem Dach wohnen, damit der betreffende Elternteil oder das betreffende Kind Anspruch auf Famili­en­zu­sam­men­führung haben kann. Gelegentliche Besuche und regelmäßige Kontakte können für die Annahme, dass diese Personen persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und als Beleg für das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindungen ausreichen.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union, ra-online (pm/ab)

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