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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil21.12.2016

Voraus­set­zungslose Vorrats­daten­speicherung nicht mit Unionsrecht vereinbarVorbeugende und gezielte Vorratsspei­cherung von Daten zum alleinigen Zweck der Bekämpfung schwerer Straftaten jedoch zulässig

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass die Mitgliedstaaten den Betreibern elektronischer Kommunikations­dienste keine allgemeine Verpflichtung zur Vorrats­daten­speicherung auferlegen dürfen. Das Unionsrecht untersagt eine allgemeine und unter­schiedslose Vorratsspei­cherung von Verkehrs- und Standortdaten. Es steht den Mitgliedstaaten aber frei, vorbeugend eine gezielte Vorratsspei­cherung dieser Daten zum alleinigen Zweck der Bekämpfung schwerer Straftaten vorzusehen, sofern eine solche Speicherung hinsichtlich der Kategorien von zu speichernden Daten, der erfassten Kommunikations­mittel, der betroffenen Personen und der vorgesehenen Dauer der Speicherung auf das absolut Notwendige beschränkt ist. Der Zugang der nationalen Behörden zu den auf Vorrat gespeicherten Daten muss von Voraussetzungen abhängig gemacht werden, zu denen insbesondere eine vorherige Kontrolle durch eine unabhängige Stelle und die Vorratsspei­cherung der Daten im Gebiet der Union gehören.

Mit dem Urteil Digital Rights Ireland von 2014 hat der Gerichtshof die Richtlinie über die Vorratsspei­cherung von Daten* für ungültig erklärt, weil der Eingriff in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und Schutz perso­nen­be­zogener Daten durch die mit dieser Richtlinie vorgeschriebene allgemeine Verpflichtung zur Vorratsspei­cherung von Verkehrs- und Standortdaten nicht auf das absolut Notwendige beschränkt war.

Im Anschluss an dieses Urteil ist der Gerichtshof mit zwei Rechtssachen befasst worden, in denen es um die den Betreibern elektronischer Kommu­ni­ka­ti­o­ns­dienste in Schweden und im Vereinigten Königreich auferlegte allgemeine Verpflichtung geht, Daten elektronischer Kommu­ni­ka­ti­o­ns­vorgänge, deren Vorratsspei­cherung in der für ungültig erklärten Richtlinie vorgesehen war, auf Vorrat zu speichern.

Sachverhalt zur Rechtssache C-203/15

Am Tag nach der Verkündung des Urteils Digital Rights Ireland teilte das Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­un­ter­nehmen Tele2 Sverige der schwedischen Überwa­chungs­behörde für Post und Telekom­mu­ni­kation mit, dass es die Vorratsspei­cherung von Daten einstellen werde und beabsichtige, die bereits gespeicherten Daten zu löschen (Rechtssache C-203/15). Nach schwedischem Recht sind die Betreiber elektronischer Kommu­ni­ka­ti­o­ns­dienste nämlich verpflichtet, systematisch und kontinuierlich, und dies ohne jede Ausnahme, sämtliche Verkehrs- und Standortdaten aller Teilnehmer und registrierten Nutzer in Bezug auf alle elektronischen Kommu­ni­ka­ti­o­ns­mittel zu speichern.

Sachverhalt zur Rechtssache C-698/15

In der Rechtssache C-698/15 klagten Herr Tom Watson, Herr Peter Brice und Herr Geoffrey Lewis gegen die britischen Regelung über die Vorratsspei­cherung von Daten, die den Innenminister ermächtigt, die Betreiber öffentlicher Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­dienste zu verpflichten, sämtliche Kommu­ni­ka­ti­o­nsdaten für bis zu zwölf Monate auf Vorrat zu speichern, wobei die Speicherung des Inhalts der Kommu­ni­ka­ti­o­ns­vorgänge ausgeschlossen ist.

Nationale Gericht erbitten Vorab­ent­scheidung des EuGH

Der Gerichtshof ist vom Kammarrätt i Stockholm (Oberver­wal­tungs­gericht Stockholm, Schweden) und vom Court of Appeal (England and Wales) (Civil Division) (Rechts­mit­tel­ge­richtshof für England und Wales, Vereinigtes Königreich) gefragt worden, ob nationale Regelungen, die den Betreibern eine allgemeine Verpflichtung zur Vorratsspei­cherung von Daten auferlegen und den zuständigen nationalen Behörden den Zugang zu den gespeicherten Daten ermöglichen, ohne dass dieser Zugang auf die Zwecke der Bekämpfung schwerer Straftaten beschränkt wäre und einer vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwal­tungs­behörde unterworfen wäre, mit dem Unionsrecht im vorliegenden Fall der "Daten­schutz­richtlinie für elektronische Kommunikation"** im Licht der EU-Grund­recht­echarta*** vereinbar sind.

Allgemeine und unter­schiedslose Speicherung von Daten steht Unionsrecht entgegen

In seinem Urteil antwortet der Gerichtshof, dass das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine allgemeine und unter­schiedslose Speicherung von Daten vorsieht. Der Gerichts­hof­be­stätigt zunächst, dass die in Rede stehenden nationalen Rechts­vor­schriften in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen. Denn die mit der Daten­schutz­richtlinie garantierte Vertraulichkeit elektronischer Kommunikationen und der Verkehrsdaten gilt für Maßnahmen sämtlicher anderer Personen als der Nutzer, unabhängig davon, ob es sich um private Personen oder Einrichtungen oder um staatliche Einrichtungen handelt.

Ausnahmen beim Schutz perso­nen­be­zogener Daten sind auf das absolut Notwendige zu beschränken

Sodann stellt der Gerichtshof fest, dass die Daten­schutz­richtlinie zwar den Mitgliedstaaten erlaubt, die Tragweite der grundsätzlichen Verpflichtung, die Vertraulichkeit der Kommunikation und der damit verbundenen Verkehrsdaten zu gewährleisten, einzuschränken, sie es aber nicht zu rechtfertigen vermag, dass die Ausnahme von dieser grundsätzlichen Verpflichtung und insbesondere von dem mit dieser Richtlinie aufgestellten Verbot der Speicherung dieser Daten zur Regel wird. Der Gerichtshof weist außerdem auf seine ständige Rechtsprechung hin, wonach der Schutz des Grundrechts auf Achtung des Privatlebens verlangt, dass sich die Ausnahmen vom Schutz perso­nen­be­zogener Daten auf das absolut Notwendige beschränken. Der Gerichtshof wendet diese Rechtsprechung sowohl auf die Regeln über die Vorratsdatenspeicherung als auch auf die Regeln über den Zugang zu den gespeicherten Daten an.

Bekämpfung schwerer Straftaten stellt einzigen Grund zur Rechtfertigung des Grund­recht­s­ein­griffs dar

In Bezug auf die Vorratsspei­cherung stellt der Gerichtshof fest, dass aus der Gesamtheit der gespeicherten Daten sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der Personen, deren Daten auf Vorrat gespeichert wurden, gezogen werden können.

Der Grund­recht­s­eingriff, der mit einer nationalen Regelung einhergeht, die eine Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsieht, ist somit als besonders schwerwiegend anzusehen. Der Umstand, dass die Vorratsspei­cherung der Daten vorgenommen wird, ohne dass die Nutzer elektronischer Kommu­ni­ka­ti­o­ns­dienste darüber informiert werden, ist geeignet, bei den Betroffenen das Gefühl zu erzeugen, dass ihr Privatleben Gegenstand einer ständigen Überwachung ist. Deshalb vermag allein die Bekämpfung schwerer Straftateneinen solchen Grund­recht­s­eingriff zu rechtfertigen.

Allgemeine und unter­schiedslose Vorrats­da­ten­spei­cherung überschreitet Grenze des absolut Notwendigen

Der Gerichts­hofweist darauf hin, das seine Regelung, die eine allgemeine und unter­schiedslose Vorrats­da­ten­spei­cherung vorsieht, keinen Zusammenhang zwischen den Daten, deren Vorratsspei­cherung vorgesehen ist, und einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit verlangt und sich insbesondere nicht auf die Daten eines Zeitraums und/oder eines geografischen Gebiets und/oder eines Personenkreises, der in irgendeiner Weise in eine schwere Straftat verwickelt sein könnte, beschränkt. Eine solche nationale Regelung überschreitet somit die Grenzen des absolut Notwendigen und kann nicht als in einer demokratischen Gesellschaft gerechtfertigt angesehen werden, wie es die Richtlinie im Licht der Grund­recht­echarta verlangt.

Vorrats­da­ten­spei­cherung zur Bekämpfung schwerer Straftaten unter engen Voraussetzungen zulässig

Der Gerichtshof stellt jedoch klar, dass die Daten­schutz­richtlinie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die zur Bekämpfung schwerer Straftaten eine gezielte Vorratsspei­cherung von Daten ermöglicht, sofern diese Vorratsspei­cherung hinsichtlich der Kategorien von zu speichernden Daten, der erfassten Kommu­ni­ka­ti­o­ns­mittel, der betroffenen Personen und der vorgesehenen Speiche­rungsdauer auf das absolut Notwendige beschränkt ist. Dem Gerichtshof zufolge muss jede nationale Regelung, die derartiges vorsieht, klar und präzise sein und hinreichende Garantien enthalten, um die Daten vor Missbrauchs­risiken zu schützen. Die betreffende Regelung muss angeben, unter welchen Umständen und Voraussetzungen eine Maßnahme der Vorratsspei­cherung von Daten vorbeugend getroffen werden darf, um so zu gewährleisten, dass der Umfang dieser Maßnahme in der Praxis tatsächlich auf das absolut Notwendige beschränkt ist. Eine solche Regelung muss insbesondere auf objektive Anknüp­fungs­punkte gestützt sein, die es ermöglichen diejenigen Personen zu erfassen, deren Daten geeignet sind, einen Zusammenhang mit schweren Straftaten aufzuweisen, zur Bekämpfung schwerer Straftaten beizutragen oder eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu verhindern.

Was den Zugang der zuständigen nationalen Behörden zu den gespeicherten Daten betrifft, bekräftigt der Gerichtshof, dass sich die betreffende nationale Regelung nicht darauf beschränken darf, zu verlangen, dass der Zugang einem der in der Daten­schutz­richtlinie genannten Zwecke dienen muss - auch wenn es sich bei diesem Zweck um die Bekämpfung schwerer Straftaten handelt -, sondern außerdem die materiell- und verfah­rens­recht­lichen Voraussetzungen für den Zugang der zuständigen nationalen Behörden zu den gespeicherten Daten festzulegen hat. Die nationale Regelung muss sich bei der Festlegung der Umstände und Voraussetzungen, unter denen den zuständigen nationalen Behörden Zugang zu den Daten zu gewähren ist, auf objektive Kriterien stützen. Zum Zweck der Bekämpfung von Straftaten darf Zugang grundsätzlich nur zu Daten von Personen gewährt werden, die im Verdacht stehen, eine schwere Straftat zu planen, zu begehen oder begangen zu haben oder auf irgendeine Weise in eine solche Straftat verwickelt zu sein. Allerdings könnte in besonderen Situationen wie etwa solchen, in denen vitale Interessen der nationalen Sicherheit, der Landes­ver­tei­digung oder der öffentlichen Sicherheit durch terroristischen Aktivitäten bedroht sind, der Zugang zu Daten anderer Personen ebenfalls gewährt werden, wenn es objektive Anhaltspunkte dafür gibt, dass diese Daten im konkreten Falleinen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung solcher Aktivitäten leisten könnten.

Zugang zu gespeicherten Daten bedarf vorheriger Kontrolle durch Gerichte

Zudem ist es nach Auffassung des Gerichtshofs unerlässlich, dass der Zugang zu den auf Vorrat gespeicherten Daten grundsätzlich, außer in Eilfällen, einer vorherigen Kontrolle entweder durch ein Gericht oder eine unabhängige Stelle unterworfen wird. Außerdem müssen die zuständigen nationalen Behörden, denen Zugang zu den gespeicherten Daten gewährt wurde, die betroffenen Personen davon in Kenntnis setzen.

Nach Ablauf der Speiche­rungsfrist sind Daten unwiderruflich zu vernichten

In Anbetracht der Menge angespeicherten Daten, ihres sensiblen Charakters und der Gefahr eines unberechtigten Zugangs muss die nationale Regelung vorsehen, dass die Daten im Gebiet der Union zu speichern sind und nach Ablauf ihrer Speiche­rungsfrist unwiderruflich zu vernichten sind.

Erläuterungen

* Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspei­cherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommu­ni­ka­ti­o­ns­dienste oder öffentlicher Kommu­ni­ka­ti­o­nsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG (ABl. L 105, S. 54).

** Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung perso­nen­be­zogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Daten­schutz­richtlinie für elektronische Kommunikation) (ABl. L 201, S. 37) in der Fassung des Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 (ABl. L 337, S. 11).

*** Art. 7, 8 und 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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