18.10.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil06.09.2016

Mitgliedsstaat darf eigene Staats­an­ge­hörige besser vor Auslieferungen an Drittstaaten schützen als andere UnionsbürgerHerkunfts­mitglieds­staat muss Gelegenheit zur Beantragung der Übergabe des Bürgers zu Verfol­gungs­zwecken ermöglicht werden

Ein Mitgliedstaat ist nicht verpflichtet, alle Unionsbürger, die sich in seinem Hoheitsgebiet aufhalten, in gleichem Maß vor Auslieferung zu schützen wie seine eigenen Staats­an­ge­hörigen. Vor einer Auslieferung muss der betreffende Mitgliedstaat jedoch den Informations­austausch mit dem Herkunfts­mitglied­staat des Bürgers suchen und diesem Staat Gelegenheit geben, die Übergabe des Bürgers zu Verfol­gungs­zwecken zu beantragen. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Dem Verfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde: Herr Aleksei Petruhhin, ein estnischer Staats­an­ge­höriger, war auf der Website von Interpol zur Fahndung ausgeschrieben. Er wurde am 30. September 2014 in der Stadt Bauska (Lettland) festgenommen und kam in Unter­su­chungshaft. Am 21. Oktober 2014 stellte Russland bei den lettischen Behörden einen Auslie­fe­rungs­antrag. Darin hieß es, dass die Strafverfolgung von Herrn Petruhhin eingeleitet worden sei und dass er wegen versuchten bandenmäßigen Handels mit einer großen Menge von Betäu­bungs­mitteln in Haft zu nehmen sei. Nach russischem Recht kann diese Straftat mit einer Gefängnisstrafe von 8 bis 20 Jahren geahndet werden.

Aleksei Petruhhin beantragt Aufhebung der Auslie­fe­rungs­ent­scheidung

Die General­staats­an­walt­schaft von Lettland genehmigte die Auslieferung von Herrn Petruhhin an Russland. Herr Petruhhin beantragte jedoch die Aufhebung dieser Entscheidung, weil er aufgrund des zwischen den baltischen Staaten geschlossenen Übereinkommens über Rechtshilfe und die Rechts­be­zie­hungen in Lettland die gleichen Rechte wie ein lettischer Staatsbürger habe. Da das lettische Recht die Auslieferung eigener Staatsbürger grundsätzlich verbiete und Lettland seine Bürger gemäß einem Abkommen mit Russland nicht dorthin ausliefere, sei Lettland verpflichtet, ihn vor einer ungerecht­fer­tigten Auslieferung zu schützen.

Schutz vor Auslieferung ist nur für lettische Staatsbürger vorgesehen

Der Augstaka tiesa (Oberster Gerichtshof Lettlands) hebt hervor, dass weder im lettischen Recht noch in einem von Lettland – insbesondere mit Russland oder den anderen baltischen Staaten – geschlossenen internationalen Abkommen ein Vorbehalt bestehe, der die Auslieferung eines estnischen Staatsbürgers nach Russland verbiete. Nach diesen Abkommen sei der Schutz vor einer solchen Auslieferung nur für lettische Staatsbürger vorgesehen. Gleichwohl könnte der fehlende Schutz der Unionsbürger vor Auslieferung, wenn sie sich in einen anderen Mitgliedstaat als den ihrer Staats­an­ge­hö­rigkeit begeben hätten, dem Recht der Unionsbürger zuwiderlaufen, äquivalenten Schutz wie Inländer zu erhalten.

Nationales Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH im Hinblick auf möglichen Verstoß gegen Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staats­an­ge­hö­rigkeit

Vor diesem Hintergrund möchte der Oberste Gerichtshof Lettlands vom Gerichtshof der Europäischen Union wissen, ob bei der Anwendung eines zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat geschlossenen Auslie­fe­rungs­ab­kommens die Staats­an­ge­hörigen eines anderen Mitgliedstaats im Hinblick auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staats­an­ge­hö­rigkeit und das Freizügigkeits- und Aufent­haltsrecht der Unionsbürger in den Genuss der Vorschrift kommen müssen, die eine Auslieferung der eigenen Staats­an­ge­hörigen verbietet. Der Oberste Gerichtshof Lettlands fragt zudem, ob der ersuchte Mitgliedstaat (d. h. der Mitgliedstaat – hier Lettland –, den ein Drittstaat um Auslieferung eines Staats­an­ge­hörigen eines anderen Mitgliedstaats ersucht) prüfen muss (und wenn ja, anhand welcher Kriterien), ob die Auslieferung nicht die von der Charta der Grundrechte der EU geschützten Rechte beeinträchtigen wird.

Situation von Aleksei Petruhhin fällt unter Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staats­an­ge­hö­rigkeit

In seinem Urteil weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass Herr Petruhhin, ein estnischer Staats­an­ge­höriger, als Unionsbürger von seinem Recht auf Freizügigkeit in der Union Gebrauch gemacht hat, indem er sich nach Lettland begab, so dass seine Situation in den Anwen­dungs­bereich der Verträge und damit unter den Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staats­an­ge­hö­rigkeit fällt.

Nationale Regelung schafft Ungleich­be­handlung von Staatsbürgern unter­schied­licher Mitglieds­s­taaten

Die fraglichen nationalen Auslie­fe­rungs­vor­schriften schaffen aber eine Ungleich­be­handlung in Abhängigkeit davon, ob die betroffene Person ein Inländer oder ein Staats­an­ge­höriger eines anderen Mitgliedstaats ist. Sie führen nämlich dazu, dass Staats­an­ge­hörigen anderer Mitgliedstaaten, wie Herrn Petruhhin, der Schutz vor Auslieferung, den Inländer genießen, nicht gewährt wird. Dadurch sind solche Vorschriften geeignet, die Freizügigkeit von Personen wie Herrn Petruhhin in der Union zu beeinträchtigen, und stellen daher eine Beschränkung der Freizügigkeit dar.

Nationale Regelung verfolgt legitimen Zweck

Eine solche Beschränkung lässt sich nur rechtfertigen, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht und in angemessenem Verhältnis zu einem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht. Das Ziel, der Gefahr entge­gen­zu­wirken, dass Personen, die eine Straftat begangen haben, straflos bleiben, ist im Unionsrecht als legitim einzustufen.

Nationale Regelung soll Verhinderung einer Bestrafung entgegenwirken

Die Auslieferung ist ein Verfahren, das verhindern soll, dass eine Person, die sich in einem anderen Hoheitsgebiet aufhält als dem, in dem sie die mutmaßliche Straftat begangen hat, der Strafe entgeht. Denn die Nicht­aus­lie­ferung der Inländer wird zwar im Allgemeinen dadurch ausgeglichen, dass der ersuchte Mitgliedstaat die Möglichkeit hat, seine eigenen Staats­an­ge­hörigen wegen außerhalb seines Hoheitsgebiets begangener schwerer Straftaten zu verfolgen, doch ist er in der Regel nicht dafür zuständig, über solche Sachverhalte zu urteilen, wenn weder der Täter noch das Opfer der mutmaßlichen Straftat die Staats­an­ge­hö­rigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt. Mit der Auslieferung lässt sich somit verhindern, dass Personen, die im Hoheitsgebiet eines Staates Straftaten begangen haben und aus diesem Hoheitsgebiet geflohen sind, der Strafe entgehen.

Mitglieds­s­taaten müssen Ausgleich zwischen Bekämpfung der Gefahr der Straflosigkeit und Schutz des Rechts auf Freizügigkeit finden

Nationale Vorschriften, die es ermöglichen, einem Auslie­fe­rungs­antrag zum Zweck der Verfolgung und Aburteilung in dem Drittstaat, in dem die Straftat begangen worden sein soll, stattzugeben, sind in diesem Kontext zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet. Mangels Unions­rechts­vor­schriften über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten und einem Drittstaat ist es jedoch wichtig, alle Mechanismen der Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe, die es im Bereich des Strafrechts nach dem Unionsrecht gibt, in Gang zu setzen, um die Gefahr der Straflosigkeit zu bekämpfen und gleichzeitig die Unionsbürger vor Maßnahmen zu schützen, die ihnen ihr Recht auf Freizügigkeit verwehren können.

Mitgliedsstaat des betroffenen Staats­an­ge­hörigen muss Möglichkeit zum Erlass eines Europäischen Haftbefehls gegeben werden

Somit muss dem Infor­ma­ti­o­ns­aus­tausch mit dem Mitgliedstaat, dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit der Betroffene hat, der Vorzug gegeben werden, um den Behörden dieses Mitgliedstaats, sofern sie nach ihrem nationalen Recht diese Person wegen im Ausland begangener Straftaten verfolgen dürfen, Gelegenheit zu geben, einen Europäischen Haftbefehl zu Verfol­gungs­zwecken zu erlassen. Arbeitet der Aufnah­me­mit­gliedstaat auf diese Weise mit dem Mitgliedstaat, dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit der Betroffene hat, zusammen und räumt diesem etwaigen Haftbefehl Vorrang vor dem Auslie­fe­rungs­antrag ein, greift er weniger stark in die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit ein, wirkt aber zugleich im Rahmen des Möglichen der Gefahr der Straflosigkeit entgegen.

Betroffenen darf in Mitgliedsstaat keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen

Im Übrigen weist der Gerichtshof darauf hin, dass nach der Charta niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden darf, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Folglich ist die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats, sofern sie über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Personen im betreffenden Drittstaat besteht, verpflichtet, das Vorliegen dieser Gefahr zu würdigen, wenn sie den Auslie­fe­rungs­antrag prüft. Dabei muss sich die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben stützen. Diese Angaben können sich u. a. aus Entscheidungen internationaler Gerichte wie Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, aus Entscheidungen von Gerichten des betreffenden Drittstaats sowie aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen ergeben.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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