21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil27.09.2012

Mitgliedsstaat muss während Prüfung des Asylantrags Mindest­grund­ver­sorgung von Asylbewerbern sicherstellenVerpflichtung zur Sicherstellung der Mindest­be­din­gungen gilt bis zur tatsächlichen Überstellung des Asylbewerbers in zuständigen Mitgliedstaat

Ein Mitgliedsstaat, der mit einem Asylantrag befasst ist, muss die Mindest­be­din­gungen für die Aufnahme von Asylbewerbern auch dann gewähren, wenn er einen anderen Mitgliedsstaat, den er für die Prüfung des Antrags für zuständig hält, um Aufnahme ersucht. Diese Verpflichtung gilt grundsätzlich ab der Einreichung des Asylantrags bis zur tatsächlichen Überstellung des Asylbewerbers in den zuständigen Mitgliedstaat. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Die Richtlinie 2003/9/EG* legt u. a. Mindestnormen für die materiellen Aufnah­me­be­din­gungen von Asylbewerbern (insbesondere Unterkunft, Verpflegung, Nahrung und Kleidung in Form von Sach- oder Geldleistungen) fest. Diese Normen ermöglichen ihnen ein menschen­würdiges Leben und vergleichbare Lebens­be­din­gungen in allen Mitgliedstaaten. Die Richtlinie gilt für alle Dritt­staats­an­ge­hörigen und Staatenlosen, die unter den Voraussetzungen der so genannte "Dublin-II-Verordnung"** einen Asylantrag gestellt haben. Diese Verordnung legt die Kriterien zur Bestimmung des für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats fest, der also nicht zwangsläufig derjenige ist, in dem der Asylantrag gestellt wurde. Hält ein Mitgliedstaat, bei dem ein Asylantrag gestellt wurde (ersuchender Mitgliedstaat) einen anderen Mitgliedstaat für zuständig (ersuchter Mitgliedstaat), kann er diesen um Aufnahme des Asylbewerbers ersuchen.

Sachverhalt

Am 26. Januar 2010 erhoben zwei französische Vereinigungen, CIMADE und GISTI, beim französischen Conseil d’État Klage auf Nichti­g­er­klärung des ministeriellen Rundschreibens vom 3. November 2009 über die Warte­zeit­beihilfe (allocation temporaire d’attente). Als existenz­si­cherndes Einkommen wird diese Beihilfe den Asylbewerbern monatlich während der gesamten Dauer des Verfahrens zur Prüfung ihres Antrags gezahlt. Die beiden Vereinigungen machen geltend, dass dieses Rundschreiben den Zielen der Richtlinie 2003/9 zuwiderlaufe, indem es Asylbewerber vom Bezug der Warte­zeit­beihilfe ausschließe, wenn Frankreich in Anwendung der Dublin II-Verordnung einen anderen Mitgliedstaat, den es für die Prüfung des Antrags der Betroffenen für zuständig halte, ersuche, sie aufzunehmen oder wieder­auf­zu­nehmen. Der Conseil d’État hat beschlossen, den Gerichtshof nach der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts zu fragen.

Mitgliedsstaat muss Asylbewerbern in jedem Fall Mindest­be­din­gungen für Aufnahme gewähren

Der Gerichtshof antwortet erstens, dass ein mit einem Asylantrag befasster Mitgliedstaat die Mindest­be­din­gungen für die Aufnahme von Asylbewerbern auch einem Asylbewerber gewähren muss, bei dem er beschließt, einen anderen Mitgliedstaat als für die Prüfung des Antrags zuständigen Mitgliedstaat um dessen Aufnahme oder Wiederaufnahme zu ersuchen.

Minde­st­auf­nah­me­be­din­gungen muss auch Asylbewerbern gewährt werden, die auf Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats warten

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Verpflichtung des mit einem Asylantrag befassten Mitgliedstaats, diese Minde­st­auf­nah­me­be­din­gungen zu gewähren, "mit der Antragstellung" einsetzt, selbst wenn dieser Staat nicht der Mitgliedstaat ist, der nach den Kriterien der Dublin-II-Verordnung für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist. Die Richtlinie 2003/9 sieht nämlich nur eine Kategorie von Asylbewerbern vor, die alle Dritt­staats­an­ge­hörigen und Staatenlosen umfasst, die einen Asylantrag stellen. Somit müssen die Minde­st­auf­nah­me­be­din­gungen nicht nur Asylbewerbern gewährt werden, die sich im Hoheitsgebiet des zuständigen Mitgliedstaats befinden, sondern auch denen, die auf die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats warten, was mehrere Monate dauern kann.

Unabhängig von der tatsächlichen Zuständigkeit dürfen Asylbewerber während Prüfung in Mitgliedsstaat bleiben, in dem der Antrag gestellt wurde

Der Gerichtshof erläutert weiter, dass sich die Verpflichtung des mit einem Asylantrag befassten Mitgliedstaats, die Minde­st­auf­nah­me­be­din­gungen zu gewähren, nur auf Asylbewerber bezieht, die in ebendieser Eigenschaft im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaat verbleiben dürfen. Hierzu führt der Gerichtshof aus, dass Asylbewerber nach dem Unionsrecht*** nicht nur im Hoheitsgebiet des Staates verbleiben dürfen, in dem der Asylantrag geprüft wird, sondern bis zur tatsächlichen Überstellung der Betroffenen auch im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem dieser Antrag gestellt wurde.

Mitgliedsstaat muss bis zur tatsächlichen Überstellung Mindest­be­din­gungen für Aufnahme von Asylbewerbern gewährleisten

Der Gerichtshof stellt zweitens fest, dass die Verpflichtung zur Gewährleistung der Mindest­be­din­gungen für die Aufnahme von Asylbewerbern ab der Antragstellung und während der gesamten Dauer des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats bis zur tatsächlichen Überstellung des Antragstellers durch den ersuchenden Staat gilt. Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Verfahren im ersuchenden Mitgliedstaat und dessen Zuständigkeit hinsichtlich der mit der Gewährung der Aufnah­me­be­din­gungen verbundenen finanziellen Belastung erst mit der tatsächlichen Überstellung des Asylbewerbers enden. Er erinnert daran, dass die Minde­st­auf­nah­me­be­din­gungen in den in der Richtlinie aufgeführten Fällen, in denen der Asylbewerber gegen die Aufnah­me­re­gelung des betroffenen Mitgliedstaats verstößt (wenn er z. B. trotz Aufforderung nicht zu persönlichen Anhörungen erscheint, die zur Prüfung des Antrags vorgesehen sind), eingeschränkt oder entzogen werden dürfen.

Erläuterungen

* Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. L 31, S. 18).

** Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Dritt­staats­an­ge­hörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50, S. 1). Derzeit wird über Vorschläge verhandelt, mit denen die Richtlinie und die Verordnung ersetzt werden sollen (vgl. KOM[2008] 820 endgültig und KOM[2011] 320 endgültig).

*** Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flücht­lings­ei­gen­schaft (ABl. L 326, S. 13).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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