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Bundesverwaltungsgericht Urteil22.11.2022

Ausgang­sbeschränkung nach der Bayerischen Infektions­schutz­maßnahmen­verordnung in der Fassung vom März 2020 war unver­hält­nismäßigGanztägige Ausgangssperre stellt schweren Eingriff in Grundrechte dar

Die Regelungen der Bayerischen Infektions­schutz­maßnahmen­verordnung vom 27. März 2020 in der Fassung der Änderungs­ver­ordnung vom 31. März 2020 (BayIfSMV) über das Verlassen der eigenen Wohnung waren mit dem Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit nicht vereinbar. Das hat das Bundes­verwaltungs­gericht entschieden.

Nach § 4 Abs. 2 BayIfSMV* war das Verlassen der eigenen Wohnung nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt. Triftige Gründe waren insbesondere die in Absatz 3 aufgeführten Tätigkeiten, darunter Sport und Bewegung an der frischen Luft, allerdings ausschließlich alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes und ohne jede sonstige Gruppenbildung (§ 4 Abs. 3 Nr. 7 BayIfSMV). Der Bayerische Verwal­tungs­ge­richtshof hat auf einen Normen­kon­trol­lantrag von zwei Privatpersonen festgestellt, dass § 4 Abs. 2 und 3 BayIfSMV unwirksam war. Das Bundes­ver­wal­tungs­gericht hat die Revision des Freistaats Bayern zurückgewiesen.

VGH Bayern: Triftige Gründe zu eng gefasst

Der Bayerische Verwal­tungs­ge­richtshof hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Antragsgegner habe die triftigen Gründe, die zum Verlassen der eigenen Wohnung berechtigten, so eng gefasst, dass die Ausgangsbeschränkung im Ergebnis unverhältnismäßig gewesen sei. Von der Beschränkung sei auch das Verweilen im Freien alleine oder ausschließlich mit Angehörigen des eigenen Hausstandes erfasst gewesen. Dass diese Maßnahme zur Hemmung der Übertragung des Coronavirus erforderlich und damit im Sinne von § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 des Infek­ti­o­ns­schutz­ge­setzes in der bei Erlass der Verordnung geltenden Fassung notwendig gewesen sei, sei auf der Grundlage des Vortrags des Antragsgegners nicht zu erkennen.

Bloßes Verweilen an der frischen Luft in Bayern nicht erlaubt

Diese Annahme ist mit Bundesrecht vereinbar, so das BVerwG. Erforderlich ist eine Maßnahme, wenn kein gleich wirksames, die Grund­recht­s­träger weniger belastendes Mittel zur Erreichung des Ziels zur Verfügung steht. Als mildere Maßnahme kamen hier - wie der Verwal­tungs­ge­richtshof zu Recht angenommen hat - Beschränkungen des Kontakts im öffentlichen und privaten Raum in Betracht, mit denen das Verweilen im Freien alleine oder ausschließlich mit Angehörigen des eigenen Hausstandes nicht untersagt worden wäre. Sie hätten die Adressaten weniger belastet als die angegriffene Ausgangs­be­schränkung. Diese erlaubte nach der bindenden Auslegung des Landesrechts durch den Verwal­tungs­ge­richtshof zwar das Verlassen der Wohnung für Sport und Bewegung, aber nicht für bloßes Verweilen an der frischen Luft, z.B. um auf einer Parkbank ein Buch zu lesen.

Bei der Beurteilung, ob die als milderes Mittel in Betracht kommende Kontakt­be­schränkung weniger wirksam zur Zielerreichung war als die angegriffene Ausgangs­be­schränkung, verfügte der Antragsgegner über einen tatsächlichen Einschät­zungs­spielraum. Der Spielraum bezog sich darauf, die Wirkungen der Maßnahmen zu prognostizieren. Ein solcher Spielraum hat jedoch Grenzen. Das Ergebnis der Prognose muss plausibel und damit einleuchtend begründet sein. Das unterliegt der gerichtlichen Überprüfung. Der Verwal­tungs­ge­richtshof hat angenommen, im Vortrag des Antragsgegners sei offengeblieben, warum ein Verhalten, welches für sich gesehen infektiologisch unbedeutend sei, nämlich das Verweilen alleine oder mit den Personen seines Haushalts im Freien außerhalb der eigenen Wohnung, der Ausgangs­be­schränkung unterworfen worden sei. Dass der Verwal­tungs­ge­richtshof ein solches Verweilen als infektiologisch unbedeutend eingestuft hat, ist eine Würdigung von Tatsachen, die der Antragsgegner nicht mit einer Verfahrensrüge angegriffen hat; gegen sie bestehen unabhängig davon revisi­ons­rechtlich keine Bedenken.

Hausstands­über­greifende Kontakte nicht vollständig vermeidbar

Gleiches gilt für die Annahme des Verwal­tungs­ge­richtshofs, es sei nicht ersichtlich, dass sich in relevanter Anzahl um die Verweilenden Ansammlungen von Menschen bilden könnten. Er hat keine überzogenen Anforderungen an die Darlegung gestellt. Dass das Verlassen der Wohnung zum Verweilen an der frischen Luft - wie das Verlassen der Wohnung aus anderen Gründen - zu Kontakten führen kann, bedarf als allge­mein­kundige Tatsache zwar nicht der Darlegung. Das Verbot des Ausgangs für ein Verweilen im Freien ohne Kontakt zu hausstands­fremden Personen war aber nur erforderlich, wenn es über ein Verbot solcher Kontakte hinaus geeignet war, einen relevanten Beitrag zur Verhinderung hausstands­über­grei­fender Kontakte zu leisten. Zu berücksichtigen war hierbei, dass das Ziel des Antragsgegners, physische Kontakte zu Menschen außerhalb des eigenen Hausstandes auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren (§ 4 Abs. 1 BayIfSMV), auch durch die Ausgangs­be­schränkung in ihrer konkreten Ausgestaltung nicht vollständig zu erreichen war. Bei Vorliegen triftiger Gründe (§ 4 Abs. 3 BayIfSMV) war das Verlassen der eigenen Wohnung erlaubt und auch ein solches erlaubtes Verlassen der Wohnung konnte zu Kontakten zu Menschen außerhalb des eigenen Hausstandes führen.

Ein erheblicher Beitrag zur Verhinderung der Ausbreitung von COVID-19 wurde nicht plausibel dargelegt

Das ganztägig und damit auch während der Tagstunden geltende Verbot, die eigene Wohnung zum Verweilen im Freien zu verlassen, war ein schwerer Eingriff in die Grundrechte der Adressaten. Für die Verhält­nis­mä­ßigkeit im engeren Sinne hätte in der Tatsa­chen­instanz plausibel dargelegt werden müssen, dass es über eine Kontakt­be­schränkung hinaus einen erheblichen Beitrag zur Erreichung des Ziels leisten konnte, physische Kontakte zu reduzieren und dadurch die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern. Auch daran fehlte es hier.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht, ra-online (pm/ab)

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