18.10.2024
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Dokument-Nr. 13985

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Beschluss03.07.2012Bundesverfassungsgericht2 PBvU 1/11
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • JuS 2013, 283Zeitschrift: Juristische Schulung (JuS), Jahrgang: 2013, Seite: 283
  • NVwZ 2012, 1239Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ), Jahrgang: 2012, Seite: 1239
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ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss03.07.2012

Streit­kräf­te­einsatz im Inneren in äußersten Ausnahmefällen zur Abwehr von Gefahren zulässigPlena­r­ent­scheidung des Bundes­verfassungs­gerichts zum Einsatz der Streitkräfte im Inneren („Luftsicherheits­gesetz“)

Der Bundeswehr ist es gestattet, in äußersten Ausnahmefällen bei Einsätzen der Streitkräfte im Innern zur Abwehr von Gefahren spezifische militärische Waffen einzusetzen. Dies geht aus einer Entscheidung des Plenums des Bundes­verfassungs­gerichts hervor.

Das Plenarverfahren des zugrunde liegenden Falls hat seinen Ursprung in dem von der Bayerischen und der Hessischen Staatsregierung anhängig gemachten Verfahren der abstrakten Normenkontrolle, in dem der Zweite Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts darüber zu entscheiden hat, ob § 13, § 14 Abs. 1, 2 und 4 und § 15 Luftsi­cher­heits­gesetz (LuftSiG) mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Die Vorschriften regeln die Voraussetzungen und Modalitäten, unter denen die Streitkräfte zur Abwehr besonders schwerer von Luftfahrzeugen ausgehender Unglücksfälle eingesetzt werden können.

Zweiter Senat will von Entscheidung des Ersten Senats zur Nichtigkeit der Abschus­ser­mäch­tigung im Luftsi­cher­heits­gesetz abweichen

Der Zweite Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hatte in dem Normen­kon­troll­ver­fahren das Plenum angerufen, da er beabsichtigte, von Rechts­auf­fas­sungen abzuweichen, die dem Urteil des Ersten Senats vom 15. Februar 2006 zum Luftsi­cher­heits­gesetz zugrunde liegen. Mit diesem Urteil hatte der Erste Senat die Bestimmung des § 14 Abs. 3 LuftSiG, der die Streitkräfte zum Abschuss als Waffe gegen das Leben von Menschen eingesetzter Luftfahrzeuge ermächtigte, unter anderem wegen Verstoßes gegen das Grundrecht auf Leben und gegen die Menschenwürde für verfas­sungs­widrig und nichtig erklärt. Die Entscheidung des Ersten Senats stützte sich dabei auf die Annahmen, 1. dass sich die Gesetz­ge­bungs­be­fugnis des Bundes für die Regelungen der §§ 13 bis 15 LuftSiG nur auf Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG stützen lasse, wonach die Streitkräfte zur regionalen und überregionalen Unterstützung der Polizeikräfte der Länder bei Natur­ka­ta­s­trophen oder einem besonders schweren Unglücksfall eingesetzt werden können, 2. dass Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG einen Einsatz der Streitkräfte mit spezifisch militärischen Waffen nicht zulasse, und 3. dass die in § 13 Abs. 3 Satz 2 und 3 LuftSiG geregelte Eilkompetenz des Bundes­ver­tei­di­gungs­mi­nisters in Fällen des überregionalen Katas­tro­phen­not­standes nicht mit Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG vereinbar sei, der eine Entscheidung der Bundesregierung verlange.

Diese drei Rechts­auf­fas­sungen hat der Zweite Senat mit Beschluss vom 3. Mai 2011 zum Gegenstand der Vorlage an das Plenum gemacht.

Verwendung spezifisch militärischer Waffen unter engen Voraussetzungen zulässig

Das Plenum des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat über die Vorlagefragen wie folgt entschieden:

- Die Gesetz­ge­bungs­zu­stän­digkeit des Bundes für die Regelungen der §§ 13 bis 15 LuftSiG ergibt sich nicht aus Art. 35 Abs. 2 und 3 GG, sondern aus Art. 73 Nr. 6 GG a. F. (heute Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG), der dem Bund die ausschließliche Gesetz­ge­bungs­kom­petenz für den Luftverkehr zuweist. - Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG schließen die Verwendung spezifisch militärischer Waffen bei Einsätzen der Streitkräfte nach diesen Vorschriften nicht grundsätzlich aus, lassen sie aber nur unter engen Voraussetzungen zu, die insbesondere sicherstellen, dass nicht die strikten Begrenzungen unterlaufen werden, die einem bewaffneten Einsatz der Streitkräfte im Inneren durch Art. 87a Abs. 4 GG gesetzt sind. - Der Streit­kräf­te­einsatz in Fällen des überregionalen Katas­tro­phen­not­standes nach Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG ist, auch in Eilfällen, nur aufgrund eines Beschlusses der Bundesregierung zulässig. Der Richter Gaier hat hinsichtlich der Vorlagefrage zu 2. ein Sondervotum abgegeben.

Dem Plenarbeschluss liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Gesetz­ge­bungs­kom­petenz des Bundes

Die Bestimmungen der Art. 35 Abs. 2 und 3 GG bieten für Bundesrecht, das den Einsatz der Streitkräfte im Katas­tro­phen­notstand regelt, keine ausdrückliche Kompe­tenz­grundlage. Ungeschriebene Gesetz­ge­bungs­be­fugnisse des Bundes in Sachnormen außerhalb des VII. Abschnitts des Grundgesetzes aufzusuchen, liegt in systematischer Hinsicht und nach dem Schutzzweck der föderalen Zustän­dig­keits­ordnung nicht nahe.

Die Gesetz­ge­bungs­be­fugnis des Bundes für die §§ 13 ff. LuftSiG folgt als Annexkompetenz aus Art. 73 Nr. 6 GG a. F. (heute Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG), der dem Bund die Gesetz­ge­bungs­kom­petenz für den Luftverkehr zuweist. Soweit der Bund für ein bestimmtes Sachgebiet die Gesetz­ge­bungs­zu­stän­digkeit hat, steht ihm als Annexkompetenz auch die Gesetz­ge­bungs­be­fugnis für die damit in einem notwendigen Zusammenhang stehenden Regelungen zur Aufrecht­er­haltung von Sicherheit und Ordnung in diesem Bereich zu. Die Gesetz­ge­bungs­zu­stän­digkeit für den Luftverkehr umfasst als Annex jedenfalls die Befugnis, Regelungen zur Abwehr solcher Gefahren zu treffen, die gerade aus dem Luftverkehr herrühren. Die Bestimmungen der §§ 13 ff. LuftSiG enthalten ein eigenständiges Gefah­re­n­ab­wehrrecht des Bundes. Sie regeln nicht nur die Mittel­be­reit­stellung für den Fall der Unterstützung von Gefah­re­n­ab­wehr­maß­nahmen der Länder, sondern enthalten zugleich unmittelbar außenwirksame Ermächtigungen zum Streit­kräf­te­einsatz.

Verfas­sungs­rechtliche Zulässigkeit eines Streit­kräf­te­ein­satzes mit spezifisch militärischen Waffen

Außer zur Verteidigung dürfen nach Art. 87a Abs. 2 GG die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit das Grundgesetz es ausdrücklich zulässt. Die begrenzende Funktion dieser Regelung ist durch strikte Texttreue bei der Auslegung der grund­ge­setz­lichen Bestimmungen über den Einsatz der Streitkräfte im Inneren zu wahren. Die Verfassung begrenzt einen Streit­kräf­te­einsatz im Inneren in bewusster Entscheidung auf äußerste Ausnahmefälle. Es ist jedoch weder durch den Wortlaut des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG noch die Systematik des Grundgesetzes zwingend vorgegeben, dass der Streit­kräf­te­einsatz nach diesen Bestimmungen auf diejenigen Mittel beschränkt ist, die nach dem Gefah­re­n­ab­wehrrecht des Einsatzlandes der Polizei zur Verfügung stehen oder verfügbar gemacht werden dürften. Vielmehr spricht der Regelungszweck, eine wirksame Gefahrenabwehr zu ermöglichen, für eine Auslegung, die unter den engen Voraussetzungen, unter denen ein Einsatz der Streitkräfte überhaupt in Betracht kommt, die Verwendung ihrer spezifischen Mittel nicht generell ausschließt.

Beschränkung einsetzbarer Kampfmittel voraussichtlich nicht beabsichtigt

Auch eine Gesamt­be­trachtung der Geset­zes­ma­te­rialien zwingt nicht zu der Annahme, dass der verfas­sung­s­än­dernde Gesetzgeber eine Beschränkung der einsetzbaren Mittel beabsichtigt hat. Aus der Gesetz­ge­bungs­ge­schichte wird weder ein eindeutiger Wille des verfas­sung­s­än­dernden Gesetzgebers hinsichtlich der in den Fällen des Art. 35 Abs. 2 und 3 GG einsetzbaren Mittel noch eine klare Konzeption in der Frage des anwendbaren Rechts erkennbar. Zwar stand dem verfas­sung­s­än­dernden Gesetzgeber als typischer Anwendungsfall der Verfas­sungs­be­stim­mungen zum Katas­tro­phen­notstand nicht die Abwehr von Gefahren durch ein als Angriffsmittel genutztes Luftfahrzeug, sondern vor allem die Erfahrung der norddeutschen Flutkatastrophe des Jahres 1962 vor Augen. Dies schließt es jedoch nicht aus, Art. 35 Abs. 2 und 3 GG auch auf andersartige von Wortlaut und Systematik der Vorschrift erfasste Gefahrenfälle anzuwenden, und zwingt nicht zu einer angesichts heutiger Bedrohungslagen nicht mehr zweckgerechten Auslegung dieser Bestimmungen.

Einsatz militärischer Kampfmittel nur unter engen Voraussetzungen zulässig

Der Einsatz der Streitkräfte als solcher wie auch der Einsatz spezifisch militärischer Kampfmittel kommt allerdings nur unter engen Voraussetzungen in Betracht. Insbesondere sind die verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben des Art. 87a Abs. 4 GG zu berücksichtigen, der vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen den Einsatz der Streitkräfte zur Bewältigung innerer Ausein­an­der­set­zungen besonders strengen Beschränkungen unterwirft. Diese Beschränkungen dürfen nicht dadurch umgangen werden, dass der Einsatz statt auf der Grundlage des Art. 87a Abs. 4 GG auf der des Art. 35 Abs. 2 oder 3 GG erfolgt.

Einsatz von Streitkräfte nur bei bestehender Gefahr für freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder des Landes

Enge Grenzen sind dem Streit­kräf­te­einsatz im Katas­tro­phen­notstand nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG durch das Tatbe­stands­merkmal des besonders schweren Unglücksfalls gesetzt. Hiervon erfasst werden nur ungewöhnliche Ausnah­me­si­tua­tionen katas­tro­phischen Ausmaßes. Insbesondere stellt nicht eine Gefah­ren­si­tuation, die ein Land mittels seiner Polizei nicht zu beherrschen imstande ist, allein schon aus diesem Grund einen besonders schweren Unglücksfall im Sinne des Art. 35 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 GG dar. Die Voraussetzungen des besonders schweren Unglücksfalls gemäß Art. 35 Abs. 2 und 3 GG bestimmen sich in Abgrenzung zu den verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben für den Einsatz der Streitkräfte im inneren Notstand. Auf der Grundlage von Art. 35 Abs. 2 und 3 GG können Streitkräfte daher nur in Ausnah­me­si­tua­tionen eingesetzt werden, die nicht von der in Art. 87a Abs. 4 GG geregelten Art sind. So stellen namentlich Gefahren für Menschen und Sachen, die aus oder von einer demon­s­trie­renden Menschenmenge drohen, keinen besonders schweren Unglücksfall im Sinne des Art. 35 GG dar. Denn nach Art. 87a Abs. 4 Satz 1 GG dürfen selbst zur Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer Streitkräfte auch dann, wenn das betreffende Land zur Bekämpfung der Gefahr nicht bereit oder in der Lage ist, nur unter der Voraussetzung eingesetzt werden, dass Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes besteht.

Einsatz von Streitkräften nur als ultima ratio zulässig

Schließlich muss der Unglücksfall bereits vorliegen. Dies setzt zwar nicht notwen­di­gerweise einen bereits eingetretenen Schaden voraus. Der Unglücksverlauf muss aber bereits begonnen haben und der Eintritt eines katastrophalen Schadens mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit unmittelbar bevorstehen. Der Einsatz der Streitkräfte wie der Einsatz spezifisch militärischer Abwehrmittel ist zudem auch in einer solchen Gefahrenlage nur als ultima ratio zulässig. Eine umfassende Gefahrenabwehr für den Luftraum mittels der Streitkräfte kann auf Art. 35 Abs. 2 und 3 GG nicht gestützt werden.

Anord­nungs­kom­petenz der Bundesregierung

Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG ermächtigt allein die Bundesregierung als Kollegialorgan, im Fall des überregionalen Katas­tro­phen­not­standes Einheiten der Streitkräfte einzusetzen. Danach besteht auch für Eilfälle weder eine Befugnis der Bundesregierung, die ihr zugewiesene Beschluss­zu­stän­digkeit auf ein einzelnes Mitglied zur delegieren, noch eine Befugnis des Gesetzgebers zu einer abweichenden Zustän­dig­keits­be­stimmung. Die Ressort­zu­stän­digkeit der Bundesminister (Art. 65 Satz 2 GG) und die Zuweisung der Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte an den Bundesminister der Verteidigung (Art. 65a GG) können eine abweichende Auslegung nicht begründen, weil Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG für die Befugnis, über den Einsatz der Streitkräfte im überregionalen Katas­tro­phen­notstand zu entscheiden, eine speziellere Regelung trifft. Eine abweichende Zuständigkeit für Eilfälle kann auch nicht aus einem auf wirksame Gefahrenabwehr gerichteten Zweck des Art. 35 Abs. 3 GG oder aus staatlichen Schutzpflichten abgeleitet werden. Für die Auslegung der Vorschriften zum Streit­kräf­te­einsatz im Inneren, die in einer politisch hochum­strittenen Materie als Ergebnis ausführlicher, kontroverser Diskussionen zustande gekommen sind, gilt das Gebot strikter Texttreue. Jedenfalls deshalb verbietet sich eine auf die Vermeidung von Schutzlücken gerichtete teleologische Verfas­sungs­in­ter­pre­tation, die vom bewusst und in Übereinstimmung mit der Systematik gewählten Wortlaut abweicht.

Sondervotum des Richters Gaier:

Das Grundgesetz in seiner gegenwärtigen Fassung schließt den Kampfeinsatz der Streitkräfte im Inneren mit spezifisch militärischen Waffen sowohl in Fällen des regionalen (Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG) wie in Fällen des überregionalen (Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG) Katas­tro­phen­not­standes aus. Mit seiner Antwort auf die zweite Vorlagefrage würdigt das Plenum weder hinreichend den Wortlaut der einschlägigen Verfas­sungs­normen unter Berück­sich­tigung der Entste­hungs­ge­schichte noch erfolgt eine systematische Auslegung mit Blick auf die Einheit der Verfassung als „vornehmstes Inter­pre­ta­ti­o­ns­prinzip“. Insoweit hat der Plenarbeschluss im Ergebnis die Wirkungen einer Verfas­sung­s­än­derung.

Streitkräfte dürfen niemals als innen­po­li­tisches Machtinstrument eingesetzt werden

Auch und gerade seitdem nach der Notstands­ge­setz­gebung anders als vor 1968 der Einsatz des Militärs im Inneren nicht mehr schlechthin unzulässig ist, bleibt strenge Restriktion geboten. Es ist sicherzustellen, dass die Streitkräfte niemals als innen­po­li­tisches Machtinstrument eingesetzt werden. Abgesehen von dem extremen Ausnahmefall des Staats­not­standes, in dem nur zur Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer als letztes Mittel auch Kampfeinsätze der Streitkräfte im Inland zulässig sind (Art. 87a Abs. 4 GG), bleibt die Aufrecht­er­haltung der inneren Sicherheit allein Aufgabe der Polizei. Ihre Funktion ist die der Gefahrenabwehr und nur über hierfür geeignete und erforderliche Waffen darf die Polizei verfügen; hingegen sind Kampfeinsätze der Streitkräfte auf die Vernichtung des Gegners gerichtet, was spezifisch militärische Bewaffnung notwendig macht. Mit dieser strikten Trennung zieht unsere Verfassung aus historischen Erfahrungen die gebotenen Konsequenzen und macht den grundsätzlichen Ausschluss der Streitkräfte von bewaffneten Einsätzen im Inland zu einem fundamentalen Prinzip des Staatswesens. Wer hieran etwas ändern will, muss die zu einer Verfas­sung­s­än­derung erforderlichen parla­men­ta­rischen Mehrheiten für sich gewinnen, was Anfang 2009 nicht gelungen ist. Es ist nicht Aufgabe des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts, hier korrigierend einzugreifen.

Strikte Trennung zwischen Regelungen des Katas­tro­phen­not­standes und des inneren Notstandes darf durch Zulassung spezifisch militärischer Bewaffnung nicht vermengt werden

Dass ein Einsatz der Streitkräfte mit militärischer Bewaffnung in beiden Fällen des Katas­tro­phen­not­standes von Verfassungs wegen untersagt ist, lässt sich mit einer historischen Verfas­sungs­in­ter­pre­tation, vor allem aber mit einer systematischen Auslegung des Grundgesetzes begründen. Entgegen der Auffassung des Plenums hat der Rechtsausschuss des Bundestages im Rahmen der Notstands­ge­setz­gebung im Jahr 1968 eine klare Entscheidung getroffen und in seinem damaligen Bericht, der Grundlage für den Gesetz­ge­bungs­be­schluss des Bundestages zur Verfas­sung­s­än­derung war, unmiss­ver­ständlich vorgeschlagen, den Einsatz militärisch bewaffneter Streitkräfte auf den Staatsnotstand als eine besonders gefährdende Situation des inneren Notstandes (Art. 87a Abs. 4 GG) zu beschränken. Zudem lässt das Plenum völlig außer Acht, dass zur Zeit der Notstands­ge­setz­gebung eine weitergehende Zulassung des Einsatzes militärisch bewaffneter Einheiten der Streitkräfte im Inneren politisch nicht durchsetzbar gewesen wäre. Im Einklang damit steht die Systematik, die das Grundgesetz mit der Implementierung der „Notstands­ver­fassung“ erfahren hat. Die strikte Trennung der Regelung des Katas­tro­phen­not­standes einerseits von der des inneren Notstandes andererseits belegt, dass diese beiden Fälle des Streit­kräf­te­ein­satzes im Inneren völlig unter­schiedliche, sich nicht überschneidende Anwen­dungs­be­reiche haben und deshalb nicht durch die Zulassung spezifisch militärischer Bewaffnung auch in Fällen des Katas­tro­phen­not­standes vermengt werden dürfen. Zudem lässt auch der Umstand, dass der verfas­sung­s­än­dernde Gesetzgeber mit der Bundesregierung einem Kollegialorgan die Zuständigkeit für die Einsat­zent­scheidung zuweist, nur den Schluss zu, dass er von vornherein den Einsatz spezifisch militärischer Waffen im Katas­tro­phen­notstand nicht für erforderlich hielt und damit auch nicht legitimieren wollte. Denn Gefähr­dungslagen, denen effektiv nur mit dem Einsatz solcher Waffen mit Vernich­tungskraft begegnet werden kann, sind dadurch gekennzeichnet, dass ihrer Beseitigung jede zeitliche Verzögerung abträglich ist. Daher wäre die Betrauung eines in der Entschei­dungs­findung vergleichsweise schwerfälligen Kollegialorgans mit der Initia­tiv­be­fugnis zum Einschreiten gerade auch mit Blick auf die vom verfas­sung­s­än­dernden Gesetzgeber angestrebte „wirksame Bekämpfung“ dysfunktional.

Richter bemängelt zu viel Spielraum für subjektive Einschätzungen

Der Plenarbeschluss kann mit den von ihm entwickelten Kriterien eine Umgehung der engen Voraussetzungen des inneren Notstandes nach Art. 87a Abs. 4 GG durch die weniger strengen Voraussetzungen des Katas­tro­phen­not­standes nicht verhindern. Der Versuch der weiteren Eingrenzung des bewaffneten Streit­kräf­te­ein­satzes durch das Erfordernis eines „unmittelbar bevorstehenden“ Schaden­s­ein­tritts „von katas­tro­phischen Dimensionen“ wird der nötigen Klarheit und Berechenbarkeit nicht gerecht. Es handelt sich um gänzlich unbestimmte, gerichtlich kaum effektiv kontrollierbare Kategorien, die in der täglichen Anwen­dung­s­praxis - etwa bei regie­rungs­kri­tischen Großde­mon­s­tra­tionen - viel Spielraum für subjektive Einschätzungen, wenn nicht gar voreilige Prognosen lassen. Das ist jedenfalls bei Inland­s­e­in­sätzen militärisch bewaffneter Streitkräfte nicht hinnehmbar. Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie Meinung­s­äu­ßerung schwerlich gedeihen.

Verfas­sung­s­än­derung unvermeidlich

Im Übrigen bietet der durch den Plenarbeschluss nun erweiterte Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Inneren für den Schutz der Bevölkerung namentlich vor terroristischen Angriffen keine messbaren Vorteile. Zwar mag es danach nunmehr zulässig sein, dass Kampfflugzeuge unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 LuftSiG „Luftfahrzeuge abdrängen, zur Landung zwingen, den Einsatz von Waffengewalt androhen oder Warnschüsse abgeben“. Die erfolgreiche Gefahrenabwehr durch solche Maßnahmen wird allerdings insbesondere in „Renegade“-Fällen deshalb wenig wahrscheinlich sein, weil der Abschuss von Flugzeugen, in denen sich Passagiere und Besat­zungs­mit­glieder befinden, mit dem Grundrecht auf Leben in Verbindung mit der Garantie der Menschenwürde unvereinbar ist und unzulässig bleibt. Es kommt hinzu, dass - auch nach der Auffassung des Plenums - ohne Verfas­sung­s­än­derung allein die Bundesregierung nach Maßgabe des Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG über den Einsatz militärischer Waffen gegen Luftfahrzeuge befinden kann, was angesichts des vergleichsweise kleinen deutschen Luftraums kaum jemals zu einer rechtzeitigen Maßnahme führen wird. Soll danach der Rahmen, den das materielle Verfas­sungsrecht für eine effektive Abwehr von Gefahren aus dem Luftraum lässt, genutzt werden, so ist trotz der nun erweiterten Zulässigkeit von Kampfeinsätzen eine Verfas­sung­s­än­derung gleichwohl unvermeidlich.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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