21.11.2024
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Dokument-Nr. 29299

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Bundesverfassungsgericht Beschluss25.09.2020

BVerfG: Substantiierter Vortrag von Asylsuchenden zur Sklaverei im Herkunftsland löst gerichtlichen Aufklä­rungs­bedarf ausVerfassungs­beschwerde offensichtlich begründet

Das Bundes­verfassungs­gericht hat der Verfassungs­beschwerde einer Mauretanierin gegen die Ablehnung ihrer Asylklage stattgegeben. Die Gerichte hätte sich mit der Behauptung der Beschwer­de­führerin ausein­an­der­setzen müssen. Die Frau hatte vorgetragen, einem "Sklavenstamm" anzugehören und daher in Mauretanien ihr Existenzminimum nicht sichern zu können.

Die Beschwer­de­führerin ist Mauretanierin und gehört dem Volk der Peul an. Sie gelangte 2016 in die Bundesrepublik Deutschland und stellte einen Asylantrag. In der persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gab sie an, einem „Sklavenstamm“ anzugehören, keine Schulbildung zu haben und als Kind an ihre Tante „verschenkt“ worden zu sein. Das Bundesamt lehnte den Asylantrag ab, stellte fest, dass Abschie­bungs­verbote nicht vorlägen und drohte der Beschwer­de­führerin die Abschiebung nach Mauretanien an.

Fehlende Möglichkeit zur Existenz­si­cherung in Mauretanien als Angehörige eines" Sklavenstamms" geltend gemacht

Mit ihrer Klage machte die Beschwer­de­führerin geltend, dass sie als weibliche Angehörige eines „Sklavenstamms“ ohne Schul- und Berufs­aus­bildung, ohne familiären Schutz und mit gesund­heit­lichen Problemen nicht in der Lage sein werde, in Mauretanien ihr Existenzminimum zu sichern. In der mündlichen Verhandlung gab sie an, trotz einiger inzwischen erworbener Kenntnisse im Lesen und Schreiben sowie gewisser französischer Sprach­kenntnisse und ihrer Arbeit als Küchenhilfe im Hotel werde die einzige Möglichkeit für sie, als Frau ohne Papiere und ohne Familie in Mauretanien zu überleben, wieder eine Arbeit als Sklavin in einem Haushalt sein.

VG lehnt Antrag auf Einholung eines Sachver­stän­di­gen­gut­achtens ab

Die Beschwer­de­führerin beantragte die Einholung eines Sachver­stän­di­gen­gut­achtens darüber, dass sie nach einer Rückkehr nach Mauretanien nicht in der Lage sein werde, ihr Existenzminimum zu sichern. Das Verwal­tungs­gericht lehnte diesen Antrag ab. Das Verwal­tungs­gericht wies die Klage ab. Es sei nicht ersichtlich, weshalb die Beschwer­de­führerin sich ihre erworbenen Kenntnisse sowie ihre Erfahrung als Küchenhilfe nicht auch im Heimatland zunutze machen könne, um ihr Existenzminimum zu sichern. Der Antrag der Beschwer­de­führerin auf Zulassung der Berufung hatte keinen Erfolg.

Asylsuchende rügt Verletzung rechtlichen Gehörs

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwer­de­führerin eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG. Das Verwal­tungs­gericht habe Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, weil es ohne erkennbare Ausein­an­der­setzung mit den zu Mauretanien vorgelegten Erkennt­nis­mitteln festgestellt habe, dass ein Abschie­bungs­verbot nicht vorliege. Das Oberver­wal­tungs­gericht habe diesen Grund­rechts­verstoß im Nicht­zu­las­sungs­be­schluss fortgesetzt (Art. 19 Abs. 4 GG).

BVerfG: VG hätte Angaben zur Sklaverei berücksichtigen müssen

BVerfG hält die Verfas­sungs­be­schwerde für offensichtlich begründet. Das Urteil des Verwal­tungs­ge­richts verletzt die Beschwer­de­führerin in ihrem Recht auf rechtliches Gehör, weil es ihren entschei­dungs­er­heb­lichen Vortrag zur Existenz­si­cherung von als Sklaven angesehenen Menschen in Mauretanien hätte berücksichtigen müssen (Art. 103 Abs. 1 GG). Mit den wesentlichen und für das Vorliegen eines zielstaats­be­zogenen Abschie­bungs­verbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK entschei­dungs­er­heb­lichen Ausführungen der Beschwer­de­führerin zum Fortbestehen der Sklaverei und den Folgen insbesondere für Frauen hat sich das Verwal­tungs­gericht nicht ausein­an­der­gesetzt. Es hat nicht geprüft, ob sie in ihrer spezifischen Situation als alleinstehende, einem „Sklavenstamm“ angehörende Frau ohne familiäre oder sonstige Unterstützung nach einer Rückkehr nach Mauretanien in der Lage wäre, ihr Existenzminimum – außerhalb eines Daseins als Sklavin – zu sichern.

Sklaverei in Mauretanien stellt auch in der Gegenwart noch ein maßgeblich prägendes Problem dar

Die Zuerkennung eines Abschie­bungs­verbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK war hier auch nicht fernliegend. Aus den von der Beschwer­de­führerin im Klageverfahren in Bezug genommenen Erkennt­nis­mitteln ergibt sich vielmehr, dass Angehörige ehemaliger „Sklavenstämme“, besonders Frauen, in Mauretanien nach wie vor von extremer Armut und einem existenz­be­dro­henden Ausschluss aus der Gesellschaft betroffen sind. Unabhängig von diesem Gehörsverstoß hätte das Verwal­tungs­gericht den Umstand, dass Mauretanien zu denjenigen Staaten gehört, in denen die Sklaverei auch in der Gegenwart noch ein wesentliches, das Leben größerer Bevöl­ke­rungs­gruppen maßgeblich prägendes Problem darstellt, im Hinblick auf die substantiierten Angaben der Beschwer­de­führerin zum Anlass nehmen müssen, hierzu näher aufzuklären.

OLG hätte Berufung zulassen müssen

Der Nicht­zu­las­sungs­be­schluss des Oberver­wal­tungs­ge­richts verletzt die Beschwer­de­führerin in ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG). Das Oberver­wal­tungs­gericht hätte die Berufung wegen der Gehörs­ver­letzung durch das Verwal­tungs­gericht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG zulassen müssen; die dem angegriffenen Beschluss zugrun­de­lie­genden Anforderungen an die Darlegung eines die Zulassung der Berufung auslösenden Verfah­rens­mangels sind deutlich überhöht. Ob die weiteren geltend gemachten Grund­rechts­verstöße vorliegen, bedarf keiner Entscheidung. Es spricht jedoch einiges dafür, dass das Verwal­tungs­gericht auch durch die Ablehnung des in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrags Art. 103 Abs. 1 GG verletzt hat und dass das Oberver­wal­tungs­gericht auch im Hinblick auf die Ablehnung des Beweisantrags die Berufung hätte zulassen müssen (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG).

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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