18.10.2024
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Dokument-Nr. 31960

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Bundesverfassungsgericht Beschluss16.06.2022

Verfassungs­beschwerde gegen die Untersagung eines Besuchs des inhaftierten Beschwer­de­führers zum Zwecke eines Interviews erfolgreichUntersagung des Besuchs für Interview stellt Verletzung der Meinungs­freiheit dar

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass Entscheidungen der Fachgerichte, mit denen ein Besuch des inhaftierten Beschwer­de­führers durch einen Journalisten zum Zwecke eines Interviews untersagt wurde, den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf Meinungs­freiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen.

Der Beschwer­de­führer verbüßt eine mehrjährige Freiheitsstrafe in einer Justiz­voll­zugs­anstalt. Für das Ende seiner Haft ist Siche­rungs­ver­wahrung notiert. Nach der Anfrage eines Journalisten, der mit dem Beschwer­de­führer ein Interview zum Thema „Alternativen zur Strafhaft“ führen wollte, erstellte der psychologische Dienst der Justiz­voll­zugs­anstalt eine Stellungnahme, in der die Unterzeichnerin zum Ergebnis gelangte, dass es aus psychologischer Sicht nicht zu empfehlen sei, ein Interview stattfinden zu lassen. Daraufhin lehnte die Justiz­voll­zugs­anstalt die Anfrage des Journalisten mit der Begründung ab, dass aufgrund der Persönlichkeit des Beschwer­de­führers, auf die nicht näher eingegangen werden dürfe, die Voraussetzungen einer Besuchs­un­ter­sagung nach § 25 Nr. 2 Straf­voll­zugs­gesetz Nordrhein-Westfalen (StVollzG NRW) erfüllt seien. Nach dieser Vorschrift kann ein Besuch untersagt werden, wenn „zu befürchten ist, dass der Kontakt mit Personen, die nicht Angehörige der Gefangenen (…) sind, einen schädlichen Einfluss auf die Gefangenen hat oder ihre Eingliederung behindert. Das Landgericht wies den anschließend vom Beschwer­de­führer gestellten Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurück. Die Besuchs­un­ter­sagung sei nach § 25 Nr. 2 StVollzG NRW rechtmäßig gewesen. Es lägen objektive Anhaltspunkte vor, die geeignet seien, die Versagung der Besuch­s­er­laubnis ausreichend zu stützen. Die dagegen vom Beschwer­de­führer erhobene Rechts­be­schwerde vor dem Oberlan­des­gericht blieb ohne Erfolg.

Meinungs­freiheit des Beschwer­de­führers bei Auslegung nicht hinreichend berücksichtigt

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die Verfas­sungs­be­schwerde für offensichtlich begründet erachtet. Der angegriffene Beschluss des Landgerichts verletzt den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gibt jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Grundsätzlich unterliegt auch die gewählte Form einer Meinung­s­äu­ßerung der durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Selbst­be­stimmung des Äußernden. Die Meinungs­freiheit findet nach Art. 5 Abs. 2 GG ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, zu denen auch § 25 Nr. 2 StVollzG NRW gehört. Die allgemeinen Gesetze im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG müssen so interpretiert werden, dass der besondere Wertgehalt dieses Recht, der in der freiheitlichen Demokratie zu einer grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Rede in allen Bereichen führt, auf jeden Fall gewahrt bleibt. Es findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die „allgemeinen Gesetze“ zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen. Die Auslegung und Anwendung dieser Bestimmung ist in erster Linie Aufgabe der Fachgerichte. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht überprüft die fachge­richtliche Anwendung und Auslegung des einfachen Gesetzesrechts grundsätzlich nur daraufhin, ob sie Ausle­gungs­fehler enthalten, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des betroffenen Grundrechts beruhen. Bei Eingriffen in die Meinungs­freiheit hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht jedoch im Einzelnen zu prüfen, ob jene Entscheidungen bei der Feststellung und Würdigung des Tatbestands sowie der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts die verfas­sungs­rechtlich gewährleistete Meinungs­freiheit verletzt haben. Die Entscheidung des Landgerichts genügt diesen verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen nicht. Den Ausführungen des Gerichts im Rahmen der Begründetheit kann nicht entnommen werden, dass es bei Auslegung und Anwendung der Tatbe­stands­merkmale des § 25 Nr. 2 StVollzG NRW beziehungsweise bei der Überprüfung der Ermes­sen­s­ent­scheidung der Justiz­voll­zugs­anstalt auf der Rechts­fol­genseite den Eingriff in die Meinungs­freiheit des Beschwer­de­führers hinreichend berücksichtigt und gewichtet hat. Das Landgericht hat es versäumt, die Tatbe­stands­merkmale des § 25 Nr. 2 StVollzG NRW im Lichte der besonderen Bedeutung des Grundrechts der freien Meinung­s­äu­ßerung für den freiheitlichen demokratischen Staat auszulegen.

Konkrete Anhaltspunkte für Behinderung der Eingliederung erforderlich

Das Gericht stellt maßgeblich darauf ab, dass nach der Stellungnahme der zuständigen Psychologin das Interview nicht zu befürworten sei, weil es die narzisstische und dissoziale Persönlichkeit des Beschwer­de­führers bestärken, ihn weiter vom Behand­lungs­setting entfernen sowie seine negative Haltung gegenüber der Behandlungs- und Motiva­ti­o­ns­ab­teilung noch weiter verstärken würde. Die Untersagung des Besuchs zu Inter­vie­w­zwecken soll demnach zum Schutz seiner Eingliederung in die Gesellschaft und damit zur Förderung seiner Resozi­a­li­sierung erfolgen. Unter Beachtung von Bedeutung und Tragweite der Meinungs­freiheit kann aber nicht generell davon ausgegangen werden, dass ein Presseinterview mit einem Strafgefangenen regelmäßig dessen Eingliederung behindert. Vielmehr müssen konkrete, objektiv fassbare Anhaltspunkte für die Befürchtung einer Behinderung der Eingliederung des Strafgefangenen dargelegt werden. Das Landgericht befasst sich nicht mit dem konkret angefragten Interview zum Thema „Alternativen zur Strafhaft“, sondern stellt unter Verweis auf die Stellungnahme des psychologischen Dienstes fest, dass bereits das Interview an sich die Eingliederung des Beschwer­de­führers behindere. Objektiv fassbare Anhaltspunkte für die Feststellung des Gerichts, dass das Tatbe­stands­merkmal der Befürchtung einer Behinderung der Eingliederung des Beschwer­de­führers erfüllt sei, lassen sich weder der psychologischen Stellungnahme noch den Ausführungen der Justiz­voll­zugs­anstalt entnehmen.

BVerfG betont erneut Bedeutung der Meinungs­freiheit

Selbst wenn das Tatbe­stands­merkmal einer Behinderung der Eingliederung gemäß § 25 Nr. 2 StVollzG NRW vorläge, hätte das Gericht auf der Rechts­fol­genseite sorgfältig überprüfen müssen, ob die Abwägung der Justiz­voll­zugs­anstalt zwischen dem Grundrecht der Meinungs­freiheit des Beschwer­de­führers und der von ihr befürchteten negativen Auswirkung auf dessen Resozi­a­li­sierung ermes­sens­feh­lerhaft war. Weshalb unter Berück­sich­tigung der besonderen Bedeutung der Meinungs­freiheit deren Einschränkung durch die Untersagung des Interviews geeignet, erforderlich und angemessen war, lässt sich den Ausführungen des Gerichts nicht entnehmen. Eine Abwägung zwischen der Intensität des Eingriffs in die Meinungs­freiheit des Beschwer­de­führers und dem mit der Untersagung des Interviews verfolgten Zweck, seine Eingliederung nicht zu behindern, fehlt. Der Beschluss des Oberlan­des­ge­richts verletzt den Beschwer­de­führer ebenfalls in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Das Oberlan­des­gericht hat sich die landge­richtliche Entscheidung mit den verfas­sungs­rechtlich zu beanstandenden Erwägungen zu eigen gemacht. Darin liegt eine eigenständige Verkennung der Bedeutung und Tragweise des Grundrechts der Meinungs­freiheit.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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