21.11.2024
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Dokument-Nr. 33007

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Bundesverfassungsgericht Beschluss19.05.2023

Verfassungs­beschwerde wegen Versagung einer Geldent­schä­digung nach rechtswidriger körperlicher Durchsuchung erfolgreichGeldent­schä­digung für die rechtswidrige Leibes­vi­si­tation eines Strafgefangenen

Das Bundes­verfassungs­gericht hat der Verfassungs­beschwerde eines Strafgefangenen stattgegeben. Der Beschwer­de­führer wandte sich gegen ein Urteil des Landgerichts Regensburg, mit dem ihm eine Geldent­schä­digung versagt wurde, die er nach einer mit vollständiger Entkleidung verbundenen körperlichen Durchsuchung begehrte. Zuvor hatte die Straf­vollstreckungs­kammer des Landgerichts bereits die Rechts­wid­rigkeit der Durchsuchung festgestellt.

Der Beschwer­de­führer verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe in einer Justiz­voll­zugs­anstalt in Bayern. Nach einem Familienbesuch im März 2019 wurde er einer körperlichen Durchsuchung unterzogen. Nachdem er sich vollständig entkleidet hatte, inspizierten die Bediensteten der Justiz­voll­zugs­anstalt zunächst die Achselhöhlen, den Mund und die Fußsohlen. Anschließend kam es zu einer Nachschau im Intimbereich des Beschwer­de­führers. Gegen die Durchsuchung stellte der Beschwer­de­führer einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung, den das Landgericht Regensburg und das Bayerische Oberste Landesgericht zurückwiesen. Der hiergegen erhobenen Verfassungsbeschwerde gab das BVerfG statt, weil die angegriffenen Entscheidungen den Beschwer­de­führer in seinem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht verletzten. Dementsprechend stellte das Landgericht Regensburg fest, dass die mit einer Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung des Beschwer­de­führers rechtswidrig gewesen sei und diesen in seinen Rechten verletzt habe. Der Beschwer­de­führer nahm daraufhin den Freistaat Bayern auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung in Höhe von 500 Euro in Anspruch. Das Landgericht Regensburg wies die Klage ab. Bei der Frage der Rechts­wid­rigkeit sei man zwar an die gerichtliche Feststellung der zuständigen Straf­voll­stre­ckungs­kammer gebunden. Dies gelte jedoch nicht für die Frage, ob eine schuldhafte Amtspflicht­ver­letzung vorliege. Der Beschwer­de­führer habe ein Verschulden der handelnden Amtsträger nicht nachgewiesen. Nicht jeder objektive Rechtsirrtum begründe einen Verschul­dens­vorwurf. Dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einer vergleichbaren Konstellation eine Geldentschädigung nach Art. 41 der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention (EMRK) zugebilligt habe, stehe dem nicht entgegen. Bei der Entscheidung über den Entschä­di­gungs­an­spruch hätten die deutschen Gerichte allein das nationale Recht, hier § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG, zugrunde zu legen. Erst wenn das innerstaatliche Recht lediglich eine unvollkommene Entschädigung für die Folgen einer Konven­ti­o­ns­ver­letzung gewähre, komme eine Entschädigung nach Art. 41 EMRK in Betracht, für deren Ausspruch allein der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zuständig sei.

LG verkennt Bedeutung von EMRK und EGMR-Rechtsprechung für einfaches Recht

Die Verfas­sungs­be­schwerde hatte Erfolg. Das angegriffene Urteil des Landgerichts verletzt den Beschwer­de­führer in seinem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechts­s­taats­prinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG. Durchsuchungen, die mit einer Entkleidung verbunden sind, stellen einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persön­lich­keitsrecht dar. Die Versagung eines Entschä­di­gungs­an­spruchs berührt den Schutzbereich dieses Grundrechts. Das hier einschlägige Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ist unter Heranziehung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auszulegen. Der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen auf der Ebene des Verfas­sungs­rechts als Ausle­gungs­hilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechts­s­taat­lichen Grundsätzen des Grundgesetzes. Auf der Ebene des einfachen Rechts trifft die Fachgerichte die Verpflichtung, die Gewähr­leis­tungen der Konvention zu berücksichtigen und in den betroffenen Teilbereich der nationalen Rechtsordnung einzupassen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit mehrfach über Entschä­di­gungs­ansprüche nach körperlichen Durchsuchungen von Strafgefangenen entschieden. In dem auch vom Beschwer­de­führer angeführten Urteil in der Rechtssache Roth v. Germany stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 3 EMRK sowie Art. 13 in Verbindung mit Art. 3 EMRK fest und sprach dem dortigen Beschwer­de­führer nach Art. 41 EMRK wegen mehrerer rechtswidriger körperlicher Durchsuchungen eine Geldent­schä­digung in Höhe von insgesamt 12.000 Euro zu. Gemessen hieran verletzt das angegriffene Urteil den Beschwer­de­führer in seinem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechts­s­taats­prinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG. Die vom Beschwer­de­führer erduldete körperliche Durchsuchung mit vollständiger Entkleidung stellt einen schwerwiegenden Eingriff in sein allgemeines Persön­lich­keitsrecht dar. Das Landgericht hat die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache Roth v. Germany zwar zur Kenntnis genommen und ist in dem angegriffenen Urteil darauf eingegangen. Die inhaltliche Ausein­an­der­setzung mit dem Urteil und den Vorgaben, die sich aus der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben, bleibt jedoch hinter den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen zurück. Das Landgericht ist im angegriffenen Urteil in vertretbarer Weise, wenn auch ohne nähere Begründung, davon ausgegangen, dass die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache Roth v. Germany eine vergleichbare Konstellation betraf. Deshalb hätte es die Frage klären müssen, inwieweit dessen Vorgaben auf den hier zu entscheidenden Fall übertragen werden können. Das Gericht hat lediglich festgestellt, dass die Zubilligung einer Entschädigung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für die nationalen Gerichte nicht maßgeblich sei, da diese bei der Entscheidung über eine Entschädigung allein das nationale Recht zugrunde zu legen hätten. Diese Sichtweise verkennt, dass die Fachgerichte die Verpflichtung trifft, die Gewähr­leis­tungen der Konvention zu beachten und in die nationale Rechtsordnung einzupassen. Ihre Aufgabe besteht gerade darin, der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte durch eine konven­ti­o­ns­freundliche Auslegung des nationalen Rechts auf eine Weise Rechnung zu tragen, die Konven­ti­o­ns­ver­let­zungen und entsprechende Entschä­di­gungs­ansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland vermeidet. Infolgedessen lässt die Entscheidung auch die konkreten Vorgaben außer Acht, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in dem Urteil in der Rechtssache Roth v. Germany aufgestellt hat.

EGMR: Regelmäßig Geldent­schä­digung bei Verletzungen von Art. 3 EMRK

Bei Verletzungen von Art. 3 EMRK ist danach in der Regel eine Entschädigung in Geld zu gewähren. Die bloße Feststellung der Verletzung genügt nur in Ausnahmefällen zur Genugtuung, insbesondere bei weniger gravierenden Verstößen oder bloßen Verfah­rens­fehlern. Ferner muss im nationalen Recht eine praktisch und rechtlich wirksame Möglichkeit zur Wieder­gut­machung der Konven­ti­o­ns­ver­letzung bestehen. Insofern hat der Gerichtshof betont, dass die Entschädigung potenziell leerlaufe, wenn sie daran gekoppelt werde, dass der Anspruchsteller ein Verschulden seitens der handelnden Stellen beweisen kann („prove fault“). Bereits zuvor hatte er in mehreren Entscheidungen darauf hingewiesen, dass eine verschul­den­s­ab­hängige Staatshaftung („conditional on the establishment of fault“) in Konstellationen, in denen regelmäßig ein Entschä­di­gungs­an­spruch bestehe, den Anforderungen der Konvention nicht gerecht werde.

LG hätte menschen­rechts­freundliche Auslegung und verschul­den­su­n­ab­hängige Institute prüfen müssen

Zwar findet die konven­ti­o­ns­freundliche Auslegung ihre Grenze dort, wo die Beachtung der Entscheidung des Gerichtshofs gegen eindeutig entge­gen­ste­hendes Gesetzesrecht verstößt. Das Landgericht hat jedoch nicht geprüft, ob und inwieweit den entsprechenden Vorgaben unter Berück­sich­tigung der anerkannten Ausle­gungs­grundsätze, zu denen auch die teleologische Reduktion zählt, Rechnung getragen werden könnte. Es hat ferner unterlassen, die Anwendung weiterer staats­haf­tungs­recht­licher Institute jenseits des in § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG verankerten, verschul­den­s­ab­hängigen Amtshaf­tungs­an­spruchs in Erwägung zu ziehen. So wird im Schrifttum etwa vermehrt die Anwendung des in richterlicher Rechts­fort­bildung aus §§ 74, 75 des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten abgeleiteten und mittlerweile gewohn­heits­rechtlich anerkannten allgemeinen Aufop­fe­rungs­an­spruchs auf Persön­lich­keits­rechts­ver­let­zungen befürwortet. Der Bundes­ge­richtshof hat diese Frage bislang offengelassen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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