21.11.2024
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Dokument-Nr. 30163

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Bundesverfassungsgericht Beschluss21.04.2021

BVerfG lehnt Eilantrag zur Ausfertigung des Eigenmittel­beschluss-Ratifizierungs­gesetzes abGenauere Prüfung der Sache im Haupt­sa­che­ver­fahren

Dass Bundes­verfassungs­gericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, der sich gegen das Eigenmittel­beschluss-Ratifizierungs­gesetz (ERatG) richtete.

Auf der Tagung des Europäischen Rates vom 17. bis 21. Juli 2020, die unter dem Eindruck der COVID-19-Pandemie stattfand, vereinbarten die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union den Mehrjährigen Finanzrahmen MFR 2021-2027 und das temporäre Aufbau­in­strument „Next Generation EU“ (NGEU). Mit NGEU sollen die gravierenden wirtschaft­lichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie in den Mitgliedstaaten eingedämmt und gemildert werden. Der Eigen­mit­tel­be­schluss des Rates der Europäischen Union vom 14. Dezember 2020 (im Folgenden: Eigen­mit­tel­be­schluss 2020) regelt die Grundlagen der Finanzierung dieser Maßnahmen. Darin wird die Europäische Kommission – ausschließlich zur Bewältigung der Folgen der COVID-19-Pandemie – ermächtigt, im Namen der Europäischen Union an den Kapitalmärkten Mittel bis zu einem Betrag von 750 Milliarden Euro zu Preisen von 2018 aufzunehmen. Er tritt erst nach Zustimmung aller Mitgliedstaaten in Kraft. Der Deutsche Bundestag nahm den Gesetzentwurf zum ERatG am 25. März 2021 an. Der Bundesrat stimmte ihm am 26. März 2021 zu. Die Antrag­stel­le­rinnen und Antragsteller machen im Wesentlichen geltend, das Eigen­mit­tel­be­schluss-Ratifi­zie­rungs­gesetz verletze sie in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG.

BVerfG: Antrag im Haupt­sa­che­ver­fahren zwar weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet

Das BVerfG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Der Antrag im Haupt­sa­che­ver­fahren ist zwar weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Die Einwände der Antrag­stel­le­rinnen und Antragsteller lassen es jedenfalls nicht ausgeschlossen erscheinen, dass die Ermächtigung der Europäischen Kommission zur Aufnahme von 750 Milliarden Euro auf dem Kapitalmarkt über die in Art. 311 Abs. 3 AEUV enthaltene Ermächtigung hinausgeht. Ferner ist nach ihrem Vortrag nicht auszuschließen, dass Deutschland unter bestimmten Umständen hierfür haften müsste und dass dadurch die durch Art. 110 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG geschützte haushalts­po­li­tische Gesamt­ver­ant­wortung des Bundestages berührt wird.

Verstoß gegen haushalts­po­li­tische Gesamt­ver­ant­wortung des Bundestages nicht feststellbar

Bei summarischer Prüfung lässt sich eine hohe Wahrschein­lichkeit für einen Verstoß gegen die durch Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 110 und Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG geschützte haushalts­po­li­tische Gesamt­ver­ant­wortung des Bundestages allerdings nicht feststellen. Der Senat hat bislang nicht entschieden, ob und inwieweit sich unmittelbar aus dem Demokra­tie­prinzip eine justiziable Begrenzung der Übernahme von Zahlungs­ver­pflich­tungen oder Haftungszusagen herleiten lässt. Dabei kommt es mit Blick auf das Demokra­tie­prinzip nur auf eine evidente Überschreitung von äußersten Grenzen an. Eine unmittelbar aus dem Demokra­tie­prinzip folgende Obergrenze könnte allenfalls überschritten sein, wenn sich die Zahlungs­ver­pflich­tungen und Haftungszusagen im Eintrittsfall so auswirkten, dass die Haushalts­au­tonomie jedenfalls für einen nennenswerten Zeitraum nicht nur eingeschränkt würde, sondern praktisch vollständig leerliefe, wobei der Gesetzgeber namentlich mit Blick auf die Frage der Eintritts­risiken und die zu erwartenden Folgen für die Handlungs­freiheit des Haushalts­ge­setz­gebers über einen weiten Einschät­zungs­spielraum verfügt.

Schuldenhöhe ebenso begrenzt wie mögliche Haftung Deutschlands

Vor diesem Hintergrund sprechen bei summarischer Prüfung vorliegend folgende Gründe gegen eine Berührung der haushalts­po­li­tischen Gesamt­ver­ant­wortung des Bundestags: Die Ermächtigung der Europäischen Kommission, am Kapitalmarkt Mittel bis zu 750 Milliarden Euro zu Preisen von 2018 aufzunehmen, führt nicht zu einer unmittelbaren Haftung Deutschlands und des Bundeshaushalts. Eine solche kommt nur in Betracht, wenn die Mittel der Europäischen Union nicht ausreichen, um den Verpflichtungen aus der Mittelaufnahme nachzukommen, und die Kommission die erforderlichen Mittel nicht auf andere Weise, etwa durch kurzfristige Kassenkredite, bereitstellen kann. In diesem Fall haften die Mitgliedstaaten grundsätzlich anteilsmäßig („pro rata“) entsprechend ihrem Finan­zie­rungs­anteil am Budget der Europäischen Union. Nur wenn ein Mitgliedstaat einem derartigen Kapitalabruf ganz oder teilweise nicht rechtzeitig nachkommt, kann die Kommission von anderen Mitgliedstaaten zusätzliche Mittel abrufen, wobei wiederum der jeweilige Finan­zie­rungs­anteil zugrunde zu legen ist. Schließlich sieht der Eigen­mit­tel­be­schluss vor, dass die Tilgung zum 31. Dezember 2058 abgeschlossen sein muss. Höhe, Dauer und Zweck der von der Europäischen Kommission aufzunehmenden Mittel sind daher ebenso begrenzt wie die mögliche Haftung Deutschlands. Die entsprechenden Mittel sind zudem ausschließlich zur Bewältigung der Folgen der COVID-19-Krise einzusetzen. Eine zusätzliche Kreditaufnahme durch die Europäische Union ist nicht vorgesehen.

Anforderungen an den Schutz der Haushalts­au­tonomie des Deutschen Bundestages im Verfahren der Haupt­sa­che­ver­fahren zu klären

Ob die Ausgestaltung des Eigen­mit­tel­be­schlusses 2020 den sich aus Art. 79 Abs. 3 GG ergebenden Anforderungen an den Schutz der Haushalts­au­tonomie des Deutschen Bundestages vollständig Rechnung trägt, wird in dem Verfahren der Hauptsache zu klären sein. Dabei wird insbesondere zu prüfen sein, ob durch den Eigen­mit­tel­be­schluss 2020 dauerhafte Mechanismen begründet werden, die auf eine Haftungs­übernahme für Willen­s­ent­schei­dungen anderer Staaten hinauslaufen, ob Verpflichtungen entstehen können, die für das Budgetrecht des Bundestages von struktureller Bedeutung sind, sowie ob gewährleistet ist, dass ein hinreichender parla­men­ta­rischer Einfluss auf die Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln besteht. Ausgeschlossen ist eine Berührung der Verfas­sungs­i­dentität insoweit angesichts des Umfangs des Haftungsrisikos, seiner Dauer und der begrenzten Mitwir­kungs­mög­lich­keiten des Bundestages nicht.

Irreversibel Nachteile durch verzögertes Inkrafttreten

Weil sich der Ausgang des Haupt­sa­che­ver­fahrens als offen erweist, hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht grundsätzlich eine Folgenabwägung vorzunehmen. Diese geht hier zu Lasten der Antrag­stel­le­rinnen und Antragsteller aus. Erginge die einstweilige Anordnung, könnte der Eigen­mit­tel­be­schluss 2020 bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht in Kraft treten. Das Haupt­sa­che­ver­fahren wird voraussichtlich einen erheblichen Zeitraum in Anspruch nehmen. Ein verzögertes Inkrafttreten des Eigen­mit­tel­be­schlusses 2020 würde dessen wirtschafts­po­li­tische Zielsetzung beeinträchtigen. Die damit verbundenen Nachteile könnten sich zudem als irreversibel herausstellen und – da das Aufbau­in­strument NGEU gerade der Bewältigung der Folgen der COVID-19-Pandemie dienen soll und die Maßnahmen über einen relativ kurzen Zeitraum erfolgen sollen – angesichts der mit dieser Pandemie verbundenen Dynamik ihren Zweck verfehlen. Ein verspätetes Inkrafttreten hätte nach Einschätzung der Bundesregierung, der bei der Bewertung außenpolitisch erheblicher Sachverhalte ein weiter Einschätzungs- und Progno­se­spielraum zukommt, zudem erhebliche außen- und europa­po­li­tische Verwerfungen zur Folge.

Nachteile bei späterer Verfas­sungs­wid­rigkeit des Eigen­mit­tel­be­schlusses nicht irreversibel

Demgegenüber wiegen die Nachteile erheblich weniger schwer, die sich ergeben, wenn die einstweilige Anordnung nicht erlassen wird, sich das Eigen­mit­tel­be­schluss-Ratifi­zie­rungs­gesetz später jedoch als verfas­sungs­widrig erweisen sollte. Der Eigen­mit­tel­be­schluss 2020 könnte nach der Zustimmung aller Mitgliedstaaten in Kraft treten und die Europäische Kommission wäre ermächtigt, bis 2026 im Namen der Europäischen Union Mittel bis zu 750 Milliarden Euro zu Preisen von 2018 an den Kapitalmärkten aufzunehmen. Für den Bundeshaushalt können sich daraus nur dann zusätzliche Belastungen ergeben, wenn die Gesamtguthaben der Europäischen Union ihren Kassen­mit­tel­bedarf nicht decken. Für den Fall, dass sämtliche anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ihrer Nachschuss­pflicht nicht nachkommen, könnte sich bis 2058 rechnerisch nach Darstellung der Bundesregierung eine jährliche Belastung des Bundeshaushalts von ca. 21 Milliarden Euro ergeben. Dieses Szenario halten Bundestag und Bundesregierung für unrealistisch. Sollte sich der Eigen­mit­tel­be­schluss 2020 im Haupt­sa­che­ver­fahren als Ultra-vires-Akt erweisen, besteht die Möglichkeit, dass der – vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht nach Art. 267 AEUV zu befassende – Gerichtshof der Europäischen Union den Eigen­mit­tel­be­schluss für nichtig erklärt. Stellt der Senat einen Ultra-vires-Akt fest oder sollte er entgegen der summarischen Prüfung im vorliegenden Beschluss eine Berührung der Verfas­sungs­i­dentität durch den Eigen­mit­tel­be­schluss bejahen, müssten Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat die ihnen zu Gebote stehenden Maßnahmen ergreifen, um die Verfas­sungs­ordnung wieder­her­zu­stellen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/aw)

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