18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss11.05.2007

Großer Lauschangriff: Regelungen zur akustischen Wohnrau­m­über­wachung sind verfas­sungsgemäßBundes­ver­fas­sungs­gericht weist Verfas­sungs­be­schwerde ab

Die neuen gesetzlichen Regelungen vom 1. Juli 2005 zum so genannten "großen Lauschangriff" verstoßen nicht gegen Grundrechte. Das hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden. Die Grundrechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie die Unver­letz­lichkeit der Wohnung seien nicht verletzt.

Der Beschwer­de­führer ist Mitglied der Humanistischen Union, Frakti­o­ns­vor­sit­zender in einem Stadtrat sowie Partner einer Anwaltskanzlei. Er wendet sich gegen § 100 c Straf­pro­zess­ordnung, der die akustische Wohnraumüberwachung zum Zwecke der Strafverfolgung regelt. § 100 c StPO ist mit Wirkung zum 1. Juli 2005 neu gefasst worden, nachdem das Bundes­ver­fas­sungs­gericht (Urteile v. 03.04.2004 - 1 BvR 2378/98, 1 BvR 1084/99 - die Vorschriften der Straf­pro­zess­ordnung zur akustischen Wohnrau­m­über­wachung („Großer Lauschangriff“) teilweise für verfas­sungs­widrig erklärt hatte. Nach Auffassung des Beschwer­de­führers erfüllen einzelne Regelungen des § 100 c StPO nicht die Voraussetzungen, die das Bundes­ver­fas­sungs­gericht in diesem Urteil aufgestellt hat.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Die angegriffenen Regelungen werden den sich aus Art. 13 Abs. 3 GG und Art. 2 Abs. 1 GG ergebenden Anforderungen an die Rechtmäßigkeit eines Eingriffs in die räumliche Privatsphäre gerecht. Der Gesetzgeber hat die verfas­sungs­recht­lichen Maßstäbe, die das Bundes­ver­fas­sungs­gericht in seinem Urteil vom 3. März 2004 entwickelt hat, beachtet.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Nach dem Urteil des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 3. März 2004 muss der Gesetzgeber hinreichende Vorkehrungen dafür treffen, dass Eingriffe in den absolut geschützten Kernbereich privater Lebens­ge­staltung unterbleiben. Der Gesetzgeber hat sich bei der Umsetzung der verfas­sungs­ge­richt­lichen Vorgaben in § 100 c Abs. 4 Satz 1 StPO für eine negative Kernbe­reich­s­prognose entschieden. Danach darf die Maßnahme nur angeordnet werden, wenn auf Grund tatsächlicher Anhaltspunkte anzunehmen ist, dass durch die Überwachung kernbe­reichs­re­levante Äußerungen nicht erfasst werden. Es ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber den Kernbereich nicht positiv formuliert hat. In Anbetracht dessen, dass eine abstrakte, alle denkbaren Sachver­halts­kon­stel­la­tionen konkret umschreibende Definition des Kernbereichs privater Lebens­ge­staltung nur schwer möglich sein wird, steht es dem Gesetzgeber offen, ob er eine allgemeine ausle­gungs­fähige Formulierung wählt oder aber mittels der Konstruktion von nicht abschließenden Regelbeispielen eine noch weiter gehende Konkretisierung vornimmt. Die vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht identifizierten Indikatoren für kernbe­reichs­re­levante Gespräche – die Art der zu überwachenden Räume sowie der beteiligten Personen – haben Eingang in die Neuregelung des § 100 c Abs. 4 Satz 1 StPO gefunden. Durch die Regel­ver­mu­tungen in § 100 c Abs. 4 Sätze 2 und 3 StPO für Gespräche in Büro- und Geschäftsräumen sowie für Gespräche über Straftaten erfährt der unbestimmte Gesetzesbegriff des „Kernbereichs privater Lebens­ge­staltung“ weitere Konkretisierung. Damit hat sich der Gesetzgeber an den zentralen Aussagen des Urteils des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 3. März 2004 orientiert und die gesetzlichen Vorschriften an dem Schutz der Privatsphäre ausgerichtet.

2. Entgegen der Auffassung des Beschwer­de­führers wird der absolute Schutz des Kernbereichs privater Lebens­ge­staltung durch die Regelung des § 100 c Abs. 6 Satz 2 StPO nicht tangiert. Nach dieser Vorschrift dürfen Erkenntnisse aus Gesprächen, an denen ein naher Angehöriger oder eine andere durch ein Zeugnis­ver­wei­ge­rungsrecht geschützte Person (§§ 52, 53 a StPO) beteiligt ist, nur nach Maßgabe einer Abwägung mit dem Verhält­nis­mä­ßig­keits­grundsatz verwertet werden. Die Regelung setzt eine zulässige, den Kernbereich privater Lebens­ge­staltung nicht berührende Abhörmaßnahme voraus. § 100 c Abs. 6 Satz 2 StPO soll zusätzlich dem Umstand Rechnung tragen, dass mit der akustischen Wohnrau­m­über­wachung das Zeugnis­ver­wei­ge­rungsrecht ins Leere läuft, weil die Aussagen des Zeugnis­ver­wei­ge­rungs­be­rech­tigten bereits im Rahmen der Abhörmaßnahme aufgenommen wurden.

3. Die Neufassung des § 100 c Abs. 4 StPO genügt den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen auch, soweit der Gesetzgeber auf eine weitergehende gesetzliche Normierung des Personenkreises, für den eine Vermutung für kernbe­reichs­re­levante Gespräche besteht, verzichtet hat. Der Kreis der Personen, bei denen eine Vermutung für kernbe­reichs­re­levante Gespräche besteht, wird damit offen gelassen und ist der Auslegung zugänglich. Eine Beschränkung des Beweis­er­he­bungs­verbots auf Zeugnis­ver­wei­ge­rungs­be­rechtigte nach §§ 52 ff. StPO sieht die Neuregelung - entgegen der Auffassung des Beschwer­de­führers - gerade nicht vor.

4. Es bedurfte keiner gesonderten gesetzlichen Regelung, in der das Verbot einer Rundu­m­über­wachung ausgesprochen wird. Der Gesetzgeber hat durch vielfältige Regelungen deutlich gemacht, dass eine von Verfassungs wegen stets unzulässige Rundu­m­über­wachung, mit der ein umfassendes Persön­lich­keits­profil eines Beteiligten erstellt werden könnte, durch allgemeine verfah­rens­rechtliche Sicherungen auch ohne spezifische gesetzliche Regelung grundsätzlich ausgeschlossen sein soll. So enthält das Gesetz etwa Regelungen zur zeitlichen Begrenzung der Abhörmaßnahme und ordnet bei Anhaltspunkten für kernbe­reichs­re­levante Äußerungen den unverzüglichen Abbruch des Abhörens an.

Es ist nicht erforderlich, die verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an die Durchführung einer Maßnahme ausdrücklich und für alle Fälle gesetzlich anzuordnen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Ermitt­lungs­be­hörden den erkennbar gewordenen Willen des Gesetzgebers und die verfas­sungs­recht­lichen Maßstäbe bei ihren Maßnahmen beachten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ermitt­lungs­be­hörden verpflichtet sind, den Betroffenen im Anschluss an die durchgeführte Wohnrau­m­über­wachung gemäß § 100 d Abs. 8 StPO zu benachrichtigen und auf den nachträglichen Rechtsschutz hinzuweisen, so dass etwaige Verfas­sungs­verstöße festgestellt werden könnten. Von Verfassungs wegen besteht jedenfalls keine Verpflichtung zu einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung, solange keine Erkenntnisse vorliegen, dass die Ermitt­lungs­be­hörden gegen das verfas­sungs­rechtliche Verbot einer absoluten Rundu­m­über­wachung verstoßen.

5. Der Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 3. März 2004 lässt sich entgegen der Auffassung des Beschwer­de­führers nicht entnehmen, dass eine automatische Aufzeichnung in jedem Fall von Verfassungs wegen zwingend unzulässig ist. Ein generelles Verbot automatischer Aufzeichnungen ist nicht ersichtlich, soweit keine Gefahr der Erfassung kernbe­reichs­re­le­vanter Gespräche besteht.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 57/07 des BVerfG vom 25.05.2007

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