21.11.2024
21.11.2024  
Sie sehen das Schild des Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Urteil03.04.2004

Verfas­sungs­be­schwerden gegen "Großen Lauschangriff" teilweise erfolgreich

Der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat entschieden, dass die in Art. 13 Abs. 3 GG im Jahr 1998 vorgenommene Verfas­sung­s­än­derung nicht ihrerseits verfas­sungs­widrig ist: Art.13 Abs. 3 GG ist mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar. Demgegenüber ist ein erheblicher Teil der Vorschriften der Straf­pro­zess­ordnung (StPO) zur Durchführung der akustischen Überwachung von Wohnraum zu Zwecken der Strafverfolgung verfas­sungs­widrig: § 100 c Abs. 1 Nr. 3, § 100 d Abs. 3, § 100 d Abs. 5 Satz 2 und § 100 f Abs. 1 StPO sind mit Art. 13 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs.1 GG, § 101 Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO darüber hinaus mit Art. 19 Abs. 4 GG, § 101 Abs. 1 Satz 3 StPO mit Art. 103 Abs. 1 GG und § 100 d Abs. 4 Satz 3 in Verbindung mit § 100 b Abs. 6 StPO mit Art. 19 Abs. 4 GG nach Maßgabe der Gründe unvereinbar. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, einen verfas­sungs­gemäßen Rechtszustand bis spätestens zum 30. Juni 2005 herzustellen. Bis zu diesem Termin können die beanstandeten Normen nach Maßgabe der Gründe weiterhin angewandt werden, wenn gesichert ist, dass bei der Durchführung der Überwachung der Schutz der Menschenwürde gewahrt und der Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit eingehalten wird.

Durch die Grund­ge­set­z­än­derung wurden in Art. 13 GG - dem Grundrecht der Unver­letz­lichkeit der Wohnung - die Absätze 3 bis 6 eingefügt, der bisherige Absatz 3 wurde Absatz 7 des Art. 13 GG. Der Gesetzgeber wollte damit vor allem eine Möglichkeit zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität schaffen. Nach Art. 13 Abs. 3 GG ist nunmehr die akustische Wohnrau­m­über­wachung zum Zwecke der Strafverfolgung möglich. Voraussetzung ist, dass bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass jemand eine durch Gesetz einzeln bestimmte besonders schwere Straftat begangen hat, sich der Beschuldigte vermutlich in der Wohnung aufhält und die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise unver­hält­nismäßig erschwert oder aussichtslos ist.

Art. 13 Abs. 3 GG wurde durch das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität einfach­ge­setzlich ausgestaltet. Im Zentrum steht § 100 c Abs. 1 Nr. 3 Straf­pro­zess­ordnung (StPO). Danach darf das in einer Wohnung nichtöffentlich gesprochene Wort eines Beschuldigten abgehört und aufgezeichnet werden, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass er eine der in der Vorschrift bezeichneten Katalogtaten begangen hat. Die Befugnis zur Anordnung durch Abhörmaßnahmen liegt bei der Staats­schutz­kammer des Landgerichts, bei Gefahr im Verzug ihrem Vorsitzenden. Weitere Vorschriften regeln unter anderem Beweiserhebungs- und Beweis­ver­wer­tungs­verbote und Pflichten zur Benach­rich­tigung der Betroffenen. Auch wird die Möglichkeit eröffnet, die Daten in weiteren Zusammenhängen zu verwenden. Die Beschwer­de­führer sehen sich insbesondere in ihren Grundrechten aus Art. 1 Abs. 1 und 3, Art. 13 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

In den Gründen der Entscheidung heißt es: I. Art. 13 Abs. 3 GG, der dem Gesetzgeber ermöglicht, Ermächtigungen zur Wohnrau­m­über­wachung zwecks Strafverfolgung zu schaffen, ist mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar. Art. 79 Abs. 3 GG verbietet nur Verfas­sung­s­än­de­rungen, durch welche die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden. Zu ihnen gehört das Gebot der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Diese Garantie gilt umfassend. Sie erstreckt sich auf alle Normen des Grundgesetzes und damit auch auf Verfas­sung­s­än­de­rungen, ohne dass der verfas­sung­s­än­dernde Gesetzgeber dies zusätzlich ausdrücklich anordnen muss. Da die Änderung des Art. 13 GG die Garantie des Art. 1 Abs. 1 GG unverändert gelassen hat, ermächtigt das Grundgesetz nur eingeschränkt zu Überwa­chungs­maß­nahmen, nämlich nur zu solchen, die die Menschenwürde wahren. Geboten ist daher eine restriktive, an der Menschenwürde orientierte Auslegung des Art. 13 Abs. 3 GG.

1. Die Unver­letz­lichkeit der Wohnung hat einen engen Bezug zur Menschenwürde und zu dem verfas­sungs­recht­lichen Gebot unbedingter Achtung einer Sphäre der ausschließlich privaten - "höchst­per­sön­lichen" - Entfaltung. Die vertrauliche Kommunikation benötigt einen räumlichen Schutz, auf den die Bürger vertrauen können. Dem Einzelnen soll das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, gerade in seinen privaten Wohnräumen gesichert sein, und zwar ohne Angst, dass staatliche Stellen die Entfaltung seiner Persönlichkeit im Kernbereich privater Lebens­ge­staltung überwachen. In diesen Kernbereich darf die akustische Überwachung von Wohnraum nicht eingreifen, und zwar auch nicht im Interesse der Effektivität der Straf­rechts­pflege und der Erforschung der Wahrheit. Eine Abwägung nach Maßgabe des Verhält­nis­mä­ßig­keits­grund­satzes zwischen der Unver­letz­lichkeit der Wohnung und dem Straf­ver­fol­gungs­in­teresse findet insoweit nicht statt. Selbst überwiegende Interessen der Allgemeinheit können einen Eingriff in diese Freiheit zur Entfaltung in den höchst­per­sön­lichen Angelegenheiten nicht rechtfertigen.

2. Allerdings verletzt nicht jede akustische Überwachung die Menschenwürde. So gehören Gespräche über begangene Straftaten ihrem Inhalt nach nicht zum absolut geschützten Kernbereich privater Lebens­ge­staltung. Eine auf die Überwachung von Wohnraum in solchen Fällen gerichtete gesetzliche Ermächtigung muss aber unter Beachtung des Grundsatzes der Normenklarheit nähere Sicherungen der Unantastbarkeit der Menschenwürde enthalten: Das Risiko ihrer Verletzung ist auszuschließen. Auch muss die Ermächtigung den tatbe­stand­lichen Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 3 GG und den übrigen Vorgaben der Verfassung entsprechen. Die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit der Wohnrau­m­über­wachung sind umso strenger, je größer das Risiko ist, dass mit ihnen Gespräche höchst­per­sön­lichen Inhalts erfasst werden könnten. So muss die Überwachung in Situationen von vornherein unterbleiben, in denen Anhaltspunkte bestehen, dass die Menschenwürde durch die Maßnahme verletzt wird. Führt die Überwachung unerwartet zur Erhebung von absolut geschützten Informationen, muss sie abgebrochen werden und die Aufzeichnungen müssen gelöscht werden; jede Verwendung solcher im Rahmen der Strafverfolgung erhobener absolut geschützter Daten ist ausgeschlossen. Das Risiko, solche Daten zu erfassen, besteht typischerweise beim Abhören von Gesprächen mit engsten Familien­an­ge­hörigen, sonstigen engsten Vertrauten und Personen, zu denen ein besonderes Vertrau­ens­ver­hältnis besteht (wie z. B. Pfarrern, Ärzten und Straf­ver­tei­digern). Bei diesem Personenkreis dürfen Überwa­chungs­maß­nahmen nur ergriffen werden, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Gesprächs­inhalte zwischen dem Beschuldigten und diesen Personen keinen absoluten Schutz erfordern, so bei einer Tatbeteiligung der das Gespräch führenden Personen. Anhaltspunkte, dass die zu erwartenden Gespräche nach ihrem Inhalt einen unmittelbaren Bezug zu Straftaten aufweisen, müssen schon zum Zeitpunkt der Anordnung bestehen. Sie dürfen nicht erst durch eine akustische Wohnrau­m­über­wachung begründet werden. Es besteht eine Vermutung dafür, dass Gespräche mit engsten Vertrauten in der Privatwohnung zum Kernbereich privater Lebens­ge­staltung gehören. Gespräche in Betriebs- und Geschäftsräumen nehmen zwar am Schutz des Art. 13 Abs. 1 GG teil, betreffen bei einem fehlenden Bezug des konkreten Gesprächs zum Persön­lich­keitskern aber nicht den Menschen­wür­de­gehalt des Grundrechts.

II. Die auf Art. 13 Abs. 3 GG gestützte gesetzliche Ermächtigung zur Durchführung der akustischen Wohnrau­m­über­wachung (§ 100 c Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 und 3 StPO) und weitere damit verknüpfte Regelungen sind in wesentlichen Teilen verfas­sungs­widrig.

1. So hat der Gesetzgeber die mit Blick auf den Kernbereich privater Lebens­ge­staltung verfas­sungs­rechtlich gebotenen Überwachungs- und Erhebungs­verbote in § 100 d Abs. 3 StPO nicht in ausreichender Weise konkretisiert. Die Überwachung muss ausgeschlossen sein, wenn sich der Beschuldigte allein mit seinen engsten Familien­an­ge­hörigen oder anderen engsten Vertrauten in der Wohnung aufhält und keine Anhaltspunkte für deren Tatbeteiligung bestehen. Auch fehlen hinreichende gesetzliche Vorkehrungen dafür, dass die Überwachung abgebrochen wird, wenn unerwartet eine Situation eintritt, die dem unantastbaren Kernbereich privater Lebens­ge­staltung zuzurechnen ist. Auch fehlen ein Verbot der Verwertung und ein Gebot unverzüglicher Löschung rechtswidrig erhobener Informationen. Ferner muss gesichert sein, dass Informationen aus dem unantastbaren Bereich privater Lebens­ge­staltung, weder im Haupt­sa­che­ver­fahren verwertet noch zum Anknüp­fungspunkt weiterer Ermittlungen werden.

2. Nach Art. 13 Abs. 3 GG kommt eine Überwachung nur zur Ermittlung besonders schwerer, im Gesetz einzeln aufgeführter Straftaten in Betracht. Die besondere Schwere ist nur gegeben, wenn der Gesetzgeber die Straftat jedenfalls mit einer höheren Höchststrafe als fünf Jahre Freiheitsstrafe bewehrt hat. Eine Reihe der in § 100 c Abs. 1 Nr. 3 StPO in Bezug genommenen so genannten Katalogtaten erfüllen diese Anforderungen nicht. Sie scheiden daher als Anlass einer Wohnrau­m­über­wachung aus.

3. Das Grundrecht der Unver­letz­lichkeit der Wohnung ist auch verfah­rens­rechtlich zu sichern, so insbesondere durch die Einschaltung des Richters (§ 100 d Abs. 2 und 4 Satz 1 und 2 StPO). Der Senat hat die Anforderungen an den Inhalt und die schriftliche Begründung der gerichtlichen Anordnung näher konkretisiert. So sind in der Anordnung Art, Dauer und Umfang der Maßnahme zu bestimmen. Bei einer - grundsätzlich möglichen - Verlängerung des ursprünglich festgesetzten Überwa­chungs­zeitraums unterliegen die Staats­an­walt­schaft und das Gericht eingehenden Prüfungs? und Begrün­dungs­pflichten. Das Gericht ist auch zur Sicherung der Beweis­ver­wer­tungs­verbote einzuschalten.

4. Die Regelungen über die Pflicht zur Benach­rich­tigung der Beteiligten (§ 101 StPO) sind nur teilweise mit dem Grundgesetz vereinbar. Die Grund­recht­s­träger haben einen Anspruch, grundsätzlich über Maßnahmen der akustischen Wohnrau­m­über­wachung informiert zu werden. Zu benachrichtigen sind neben dem Beschuldigten die Inhaber und Bewohner einer Wohnung, in denen Abhörmaßnahmen durchgeführt worden sind. Dies gilt auch für Drittbetroffene, es sei denn, durch Recherchen über ihre Namen und Adressen wird der Eingriff in das Persön­lich­keitsrecht vertieft. Die in § 101 Abs. 1 Satz 1 StPO genannten Gründe für eine ausnahmsweise Zurückstellung der Benach­rich­tigung sind nur teilweise verfas­sungsgemäß. Unbedenklich ist es, die Benach­rich­tigung zurückzustellen, wenn andernfalls der Unter­su­chungszweck oder Leib und Leben einer Person gefährdet sind. Demgegenüber reicht die Gefährdung der - nur pauschal in Bezug genommenen - öffentlichen Sicherheit oder der Möglichkeit des weiteren Einsatzes eines nicht offen ermittelnden Beamten nicht zur Zurückstellung der Benach­rich­tigung. Auch verletzt es den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), wenn nach Erhebung der öffentlichen Klage das Prozessgericht über die Zurückstellung der Benach­rich­tigung entscheidet, so dass ihm Tatsachen bekannt werden, die dem Angeklagten verborgen bleiben.

5. Die gesetzlichen Regelungen über den nachträglichen Rechtsschutz der Betroffenen unter Einschluss von Dritt­be­troffenen werden verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen gerecht.

6. Die Regelungen über die Verwendung perso­nen­be­zogener Informationen in anderen Verfahren (§ 100 d Abs. 5 Satz 2 und § 100 f Abs. 1 StPO) sind weitgehend verfas­sungsgemäß. Allerdings führt eine restriktive Auslegung dazu, dass Informationen nur zur Aufklärung anderer ähnlich gewichtiger Katalogtaten und zur Abwehr von im Einzelfall bestehenden Gefahren für hochrangige Rechtsgüter nutzbar gemacht werden dürfen. Der Verwen­dungszweck muss mit dem ursprünglichen Zweck der Überwachung vereinbar sein. Verfas­sungs­widrig ist das Fehlen einer Pflicht zur Kennzeichnung der weitergegebenen Informationen. 7. Unvereinbar mit Art. 19 Abs. 4 GG sind die Vorschriften über die Daten­ver­nichtung (§ 100 d Abs. 4 Satz 3, § 100 b Abs. 6 StPO). Der Gesetzgeber hat die Interessen an einer Vernichtung der Daten und das Gebot effektiven Rechtsschutzes gegenüber einer Wohnrau­m­über­wachung nicht hinreichend aufeinander abgestimmt. Soweit die Daten im Interesse der gerichtlichen Kontrolle noch verfügbar sein müssen, dürfen sie nicht gelöscht, müssen aber gesperrt werden. Auch dürfen sie zu keinem anderen Zweck als dem zur Information des Betroffenen und zur gerichtlichen Kontrolle verwendet werden.

III. Die Richterinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt haben der Entscheidung eine abweichende Meinung angefügt. Nach ihrer Auffassung ist schon Art. 13 Abs. 3 GG mit Art. 79 Abs. 3 GG nicht vereinbar und daher nichtig. Sie plädieren dafür, Art. 79 Abs. 3 GG streng und unnachgiebig auszulegen. Es gehe heute, wo man sich inzwischen an den grenzenlosen Einsatz technischer Möglichkeiten gewöhnt zu haben scheint und selbst die persönliche Intimsphäre, manifestiert in den eigenen vier Wänden, kein Tabu mehr ist, vor dem das Sicher­heits­be­dürfnis Halt zu machen hat, darum, nicht mehr nur den Anfängen eines Abbaus von verfassten Grund­rechts­po­si­tionen, sondern einem bitteren Ende zu wehren, an dem das durch eine solche Entwicklung erzeugte Menschenbild einer freiheitlich-rechts­s­taat­lichen Demokratie nicht mehr entspricht. Art. 13 Abs. 3 GG überschreitet die materielle Grenze, die Art. 79 Abs. 3 GG Eingriffen in die Unver­letz­lichkeit der Wohnung nach Art. 13 Abs. 1 GG setzt. Die Grundrechtsnorm enthält ihrem Wortlaut nach keine Eingrenzungen, die sicherstellen könnten, dass bei Einsatz der akustischen Wohnrau­m­über­wachung in der Privatwohnung ein unantastbarer Kernbereich privater Lebens­ge­staltung geschützt bleibt. Es erscheint auch fraglich, ob der Gesetzgeber eine solche Einschränkung gewollt hat. Im Gesetz­ge­bungs­ver­fahren sind Änderungs­anträge, die auf deren Aufnahme abzielten, mehrheitlich mit dem Argument abgelehnt worden, damit werde die Effektivität des Ermitt­lungs­in­struments gänzlich in Frage gestellt. So ist das höchst­per­sönliche Gespräch mit Familien­an­ge­hörigen und engen Vertrauten vom verfas­sung­s­än­dernden Gesetzgeber durch Art. 13 Abs. 3 GG ungeschützt geblieben, da es mit technischen Mitteln belauscht werden darf und lediglich seine Verwertung einfach­ge­setzlich unter Verhält­nis­mä­ßig­keits­ge­sichts­punkten in Frage steht. Folge davon ist, dass das Zeugnis­ver­wei­ge­rungsrecht der Angehörigen teilweise ausgehöhlt wird und unverdächtige Gespräch­s­partner des Beschuldigten durch Abschöpfen der in der Privatwohnung herrschenden Vertrau­en­s­at­mo­sphäre zum Objekt staatlicher Strafverfolgung werden. Der durch Verfas­sung­s­än­derung eingeführte Art. 13 Abs. 3 GG kann nicht durch verfassungs-konforme oder verfas­sungs­sys­te­ma­tische Auslegung verfassungsfest gemacht werden. Eine Verfas­sung­s­än­derung ist nach Art. 79 Abs. 3 GG an den in Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätzen zu messen, nicht dagegen mit deren Maßstäben auszulegen, um sie erst auf diesem Wege abweichend vom Wortlaut in Konformität mit der Verfassung zu bringen. Auch die Senatsmehrheit geht davon aus, dass Art. 13 Abs. 3 GG für sich genommen mit Art. 79 Abs. 3 GG nicht in Einklang steht. Sie fügt deshalb unter Zuhilfenahme einer systematischen Verfas­sungs­aus­legung mithilfe des Menschen­wür­de­gehalts in Art. 13 Abs. 1 GG dem Art. 13 Abs. 3 GG weitere ungeschriebene Grenzen hinzu und engt damit die Ermächtigung zur akustischen Wohnrau­m­über­wachung über den geschriebenen Text hinaus ein. So aber verliert der Menschen­wür­de­gehalt des Wohnraum­schutzes seine Sperrwirkung gegenüber Verfas­sung­s­än­de­rungen und dient nur noch dazu, als Inter­pre­ta­ti­o­nshilfe einer ansonsten verfas­sungs­widrigen Verfas­sung­s­än­derung zu einem verfas­sungs­gemäßen Bestand zu verhelfen. Gerade das, was in der verfas­sung­s­än­dernden Norm gar nicht geschrieben steht, lässt diese die Hürde des Art. 79 Abs. 3 GG überwinden. Die Kompe­tenz­zu­weisung des Grundgesetzes und der rechts­s­taatliche Grundsatz der Normenklarheit verbieten es aber dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht, die Verfassungsnorm soweit einzuengen, dass sie die Hürde des Art. 79 Abs. 3 GG nehmen kann, dann aber kompensatorisch die einfach­ge­setz­lichen Regelungen, die sich auf die in der geänderten Verfassungsnorm zum Ausdruck kommende Eingriffs­er­mäch­tigung stützen, wegen Verfas­sungs­wid­rigkeit zu beanstanden. Verfas­sung­s­än­de­rungen müssen beim Wort genommen werden. Indem die Senatsmehrheit die Verfas­sungs­mä­ßigkeit einer verfas­sung­s­än­dernden Norm durch deren verfas­sungs­konforme Auslegung herstellt, schränkt sie außerdem den Geltungsbereich von Art. 79 Abs. 3 in unzulässiger Weise ein, da auf diesem Weg seine für Verfas­sung­s­än­de­rungen gesetzten Schranken letztlich nur noch dort greifen, wo der Gesetzgeber Art. 1 oder Art. 20 GG selbst in Gänze abzuschaffen versucht. Art. 79 Abs. 3 GG reicht aber weiter. Denn der Grund­ge­setzgeber hat bereits eine Verfas­sung­s­än­derung als unzulässig ausgeschlossen, die die in diesen Artikeln niedergelegten Grundsätze berührt. Geschieht dies, ist deshalb kein Raum mehr für eine verfas­sungs­konforme Auslegung, die einer unzulässigen Verfas­sung­s­än­derung im Nachhinein zur Verfas­sungs­mä­ßigkeit verhilft.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 22/04 des BVerfG vom 03.03.2004

Nicht gefunden, was Sie gesucht haben?

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Urteil4301

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI