18.10.2024
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Dokument-Nr. 28875

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Bundesverfassungsgericht Beschluss09.06.2020

BVerfG: Kategorische Versagung einstweiligen Rechtsschutzes gegen Entlassung aus Widerrufs­beamten­verhältnis wegen Nichtbestehens einer Prüfung verfas­sungs­widrigVerletzung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz

Das Bundes­verfassungs­gerichts hat mit Beschluss einer Verfassungs­beschwerde stattgegeben, die sich gegen einen Beschluss des Sächsischen Ober­verwaltungs­gerichts richtet, durch den dem Beschwer­de­führer einstweiliger Rechtsschutz gegen die Entlassung aus dem Beamten­ver­hältnis auf Widerruf kraft Gesetzes wegen endgültigen Nichtbestehens einer Prüfung im Rahmen der polizeilichen Ausbildung versagt wurde. Der angegriffene Beschluss verletzt den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz. Das Ober­verwaltungs­gericht verkennt Bedeutung und Tragweite dieses Grundrechts, indem es sich einer Prüfung der entlassungs­auslösenden Prüfungs­entscheidung sowie der dem Beschwer­de­führer entstehenden Nachteile vollständig verschließt und so dem Beschwer­de­führer einstweiligen Rechtsschutz in jedweder Form kategorisch versagt.

Im vorliegenden Fall absolvierte der Beschwer­de­führer als Beamter auf Widerruf den Vorbe­rei­tungs­dienst zum Erwerb der Laufbahn­be­fä­higung der Fachrichtung Polizei. Im September 2019 teilte die Hochschule dem Beschwer­de­führer mit, dass er die „Kontrollübung Pistole“ endgültig nicht bestanden habe und sein Studium mit Ablauf des Tages der schriftlichen Bekanntgabe des endgültigen Nichtbestehens ende. Dagegen erhob der Beschwer­de­führer Widerspruch. Gleichzeitig ersuchte er um verwal­tungs­ge­richt­lichen Eilrechtsschutz mit dem Hauptantrag, die Hochschule zu verpflichten, ihm unter erneuter Berufung in das Beamten­ver­hältnis auf Widerruf die Fortsetzung der Laufbahn­aus­bildung vorläufig zu gestatten.

OVG verneint Anspruch einstweiligen Rechtsschutz

Das Sächsische Oberver­wal­tungs­gericht wies die Beschwerde gegen die ablehnende Entscheidung des Verwal­tungs­ge­richts Dresden mit dem hier angegriffenen Beschluss zurück. Der Beschwer­de­führer habe gemäß § 40 Abs. 1 Nr. 2 SächsBG keinen Anspruch auf vorläufige Fortsetzung der Ausbildung. Nach dieser Vorschrift ist der Beamte auf Widerruf mit Ablauf des Tages aus dem Beamten­ver­hältnis entlassen, an dem ihm das endgültige Nichtbestehen einer vorge­schriebenen Zwischenprüfung schriftlich bekannt gegeben wird. Auf die Rechtmäßigkeit beziehungsweise Bestandskraft der zugrun­de­lie­genden Prüfungs­ent­scheidung komme es für die Beendigung des Beamten­ver­hält­nisses nicht an. Daher seien auch die Erfolgs­aus­sichten der prüfungs­recht­lichen Hauptsache und die dem Beschwer­de­führer entstehenden Nachteile im Rahmen des einstweiligen Rechts­schutz­ver­fahrens irrelevant. Die Laufbahn­aus­bildung könne deshalb weder innerhalb noch außerhalb eines Beamten­ver­hält­nisses auf Widerruf vorläufig fortgesetzt werden.

BVerfG: Beschluss des OVG verletzt den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz

Nach Auffassung BVerfG verletzt der Beschluss des OVG den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz. 1. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG eröffnet den Rechtsweg gegen jede behauptete Verletzung subjektiver Rechte durch ein Verhalten der öffentlichen Gewalt. Gewährleistet wird nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass gerichtlicher Rechtsschutz in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Der Rechtsschutz auch im Eilverfahren darf sich nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpfen, sondern muss zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht führen. Bei der Auslegung und Anwendung des § 123 VwGO sind die Fachgerichte daher gehalten, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn sonst dem Antragsteller eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen.

Durch Ausbil­dungs­ver­zö­gerung verlorenen Studienjahre stellen gravierenden Nachteil dar

Einem Rechts­schutz­be­gehren auf vorläufige Fortsetzung einer polizeilichen Ausbildung innerhalb oder außerhalb eines Beamten­ver­hält­nisses auf Widerruf kommt besondere verfas­sungs­rechtliche Bedeutung zu. Denn die Beendigung einer für den Zugang zu einem staatlichen Beruf erforderlichen Ausbildung stellt eine Beein­träch­tigung des Rechts auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern bei gleicher Eignung gemäß Art. 12 Abs. 1, Art. 33 Abs. 2 GG dar. Durch die Entlassung wird dem Polizeianwärter verwehrt, die Ausbildung fortzusetzen, abzuschließen und den gewählten staatlichen Beruf zu ergreifen. In der verfas­sungs­ge­richt­lichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass sich jedenfalls dann besondere Erfordernisse an die Effektivität des Rechtsschutzes ergeben, wenn die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes zu einer erheblichen Ausbil­dungs­ver­zö­gerung führt. Die dadurch verlorenen Studienjahre stellen für sich genommen schon einen gravierenden Nachteil dar. Bereits in der Ausbildung befindliche Betroffene sind darüber hinaus gehalten, prüfungs­re­levante Kenntnisse und Fähigkeiten auf dem aktuellen Stand zu halten, obwohl ihre Situation durch die Ungewissheit über den weiteren Werdegang gekennzeichnet ist.

OVG verkennt mit Versagung des Eilschutz­rechtes die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts

Dies zugrunde gelegt, wird der Beschluss des Oberver­wal­tungs­ge­richts den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen nicht gerecht. Bei seiner Auslegung der Vorschriften zur Entlassung von Beamten auf Widerruf kraft Gesetzes bei endgültigem Nichtbestehen einer Prüfung verkennt das Oberver­wal­tungs­gericht Bedeutung und Tragweite der Gewähr­leis­tungen des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, indem es sich einer Prüfung der entlas­sungs­aus­lö­senden Prüfungs­ent­scheidung sowie der dem Beschwer­de­führer entstehenden Nachteile vollständig verschließt und so dem Beschwer­de­führer einstweiligen Rechtsschutz in jedweder Form kategorisch versagt.

Versagung des einstweiligen Rechtschutzes trotz gravierender und irreparabler Nachteile

Dem Oberver­wal­tungs­gericht zufolge kann eine einstweilige Anordnung selbst bei Eintritt existenzieller Nachteile nicht ergehen. Diese pauschale Rechts­schutz­ver­wei­gerung fällt insbesondere in Fällen der vorliegenden Art besonders ins Gewicht, da die Beendigung des Beamten- und Ausbil­dungs­ver­hält­nisses grundsätzlich zu einer Ausbil­dungs­ver­zö­gerung führt und dazu zwingt, Prüfungswissen und -fähigkeiten auf unbestimmte Zeit aufrecht zu erhalten. Den Polizei­an­wärtern werden mithin gravierende und – jedenfalls hinsichtlich der Ausbil­dungs­ver­zö­gerung – irreparable Nachteile zugemutet. Zwingende Gründe dafür nennt das Oberver­wal­tungs­gericht nicht; sie drängen sich auch nicht ohne Weiteres auf.

Vielge­stal­tigkeit möglicher Fehler der Prüfungs­ent­scheidung verkannt

Darüber hinaus verkennt das Oberver­wal­tungs­gericht die Vielge­stal­tigkeit möglicher Fehler der Prüfungs­ent­scheidung. Jedenfalls in Kombination mit der kategorischen Außer­acht­lassung möglicher schwerer Nachteile kann die zugrunde gelegte gesetz­ge­be­rische Intention einen derart undif­fe­ren­zierten und völligen Ausschluss einer Prüfung der Erfolgs­aus­sichten der prüfungs­recht­lichen Hauptsache nicht rechtfertigen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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