15.11.2024
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Dokument-Nr. 18514

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Beschluss27.06.2014Bundesverfassungsgericht2 BvR 429/12
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • GRURPrax 2014, 357 (Joachim Jahn)Zeitschrift: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Praxis im Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht (GRURPrax), Jahrgang: 2014, Seite: 357, Entscheidungsbesprechung von Joachim Jahn
  • NJW 2014, 2777Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2014, Seite: 2777
  • NJW-Spezial 2014, 506 (Klaus Leipold und Stephan Beukelmann)Zeitschrift: NJW-Spezial, Jahrgang: 2014, Seite: 506, Entscheidungsbesprechung von Klaus Leipold und Stephan Beukelmann
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Bundesverfassungsgericht Beschluss27.06.2014

Verbot zur Veröf­fent­lichung von Ankla­ge­schriften vor der Haupt­ver­handlung rechtmäßigStraftatbestand schütz Rechte des Angeklagten und Befangenheit der Verfahrens­beteiligten verhindern

Der Straftatbestand des § 353 d Nr. 3 Strafgesetzbuch, der unter anderem verbietet, eine Anklageschrift im Wortlaut öffentlich mitzuteilen, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert wurde, ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht im Anschluss an einen Beschluss des Ersten Senats aus dem Jahr 1985. In verfas­sungs­gemäßer Weise soll dieser Straftatbestand nicht nur die Rechte des Angeklagten schützen, sondern auch verhindern, dass Verfahrens­beteiligte - insbesondere Laienrichter und Zeugen - in ihrer Unbefangenheit beeinträchtigt werden.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Verfahrens wurde am 17. April 2009 wegen gewerbsmäßigen Betrugs in Tateinheit mit gewerbsmäßiger Urkun­den­fäl­schung angeklagt. Mit Beschluss vom 1. Dezember 2009 ließ das Landgericht die Anklage teilweise zu und eröffnete das Hauptverfahren; im Übrigen lehnte es die Eröffnung des Hauptverfahrens aus tatsächlichen Gründen ab. In der ersten Dezemberhälfte 2009 stellte der Beschwer­de­führer diesen Beschluss sowie Teile der Anklageschrift auf seiner Homepage als Download zur Verfügung. Durch Urteil vom 8. April 2010 verurteilte das Amtsgericht den Beschwer­de­führer wegen verbotener Mitteilung über Gerichts­ver­hand­lungen (§ 353 d Nr. 3 StGB) zu einer Geldstrafe in Höhe von zehn Tagessätzen à 16 Euro. Berufung und Revision des Beschwer­de­führers blieben ohne Erfolg.

Kein Verstoß gegen Analogieverbot

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die Verurteilung des Beschwer­de­führers nicht gegen das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG verstößt. Insbesondere steht der Beschluss des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 3. Dezember 1985 (BVerfGE 71, 206), soweit er in Gesetzeskraft erwachsen ist, nicht entgegen. Der - insoweit maßgebliche - Tenor der Entscheidung, wonach § 353 d Nr. 3 StGB "mit dem Grundgesetz vereinbar [ist], soweit die in dieser Bestimmung unter Strafe gestellte wörtliche öffentliche Mitteilung der Anklageschrift oder anderer amtlicher Schriftstücke ohne oder gegen den Willen des von der Berich­t­er­stattung Betroffenen erfolgt ist", beinhaltet nicht die ausdrückliche Feststellung, dass die Norm in jedem anderen Anwendungsfall unvereinbar mit der Verfassung sei.

Strafnorm verletzt weder Meinungs­freiheit noch allgemeines Persön­lich­keitsrecht

Die Strafnorm des § 353 d Nr. 3 StGB verletzt auch in Fällen, in denen die Veröffentlichung mit dem Willen des Betroffenen erfolgt, nicht die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) oder das allgemeine Persön­lich­keitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG). Es ist prinzipiell Aufgabe des Gesetzgebers, zu entscheiden, mit welchen Mitteln der von einer Regelung verfolgte Zweck zu erreichen ist; die Funkti­o­nen­teilung zwischen gesetzgebender und recht­spre­chender Gewalt gebietet daher insoweit Zurückhaltung bei der verfas­sungs­ge­richt­lichen Kontrolle. Die Geeignetheit wäre im vorliegenden Fall nur zu verneinen, wenn § 353 d Nr. 3 StGB zum Schutz der Rechtsgüter, denen er dient, schlechthin ungeeignet wäre.

Verbot gewährleistet unbedingte Neutralität des Gerichts

§ 353 d Nr. 3 StGB verfolgt nach einhelliger Auffassung eine doppelte Schutzrichtung. Er soll in erster Linie verhindern, dass Verfah­rens­be­teiligte, insbesondere Laienrichter und Zeugen, durch die vorzeitige Veröf­fent­lichung amtlicher Schriftstücke in ihrer Unbefangenheit beeinträchtigt werden. Damit dient die Strafvorschrift einerseits der Ermittlung des wahren Sachverhalts als Grundlage der gerichtlichen Entscheidung und gewährleistet andererseits die unbedingte Neutralität des Gerichts. Daneben treten als Schutzgut die Persön­lich­keits­rechte der Betroffenen und - hinsichtlich des Angeklagten - die Aufrecht­er­haltung der Unschulds­ver­mutung. Aufgrund dieser doppelten Schutzrichtung entfällt die Zweck­taug­lichkeit der Vorschrift nicht allein dadurch, dass sich ein Betroffener durch die verfrühte Veröf­fent­lichung seines eigenen Schutzes begibt. Bedeutung und Tragweite des materiellen Schuldprinzips und der Neutralität des Gerichts für das rechts­s­taatliche Strafverfahren rechtfertigen bereits isoliert betrachtet die Strafbarkeit seines Handelns. Daneben steht weiterhin der Schutz der Persön­lich­keits­rechte von anderen Betroffenen, etwa von Mitangeklagten oder Nebenklägern.

Wiedergaben des Inhalts der Anklageschrift in indirekter Rede nicht vom Verbot umfasst

Zur Erreichung dieser Ziele ist § 353 d Nr. 3 StGB trotz bestehender Umgehungs­mög­lich­keiten nicht schlechterdings ungeeignet. Dies gilt insbesondere, soweit der Gesetzgeber nur die Veröf­fent­lichung im Wortlaut unter Strafe gestellt, aber Wiedergaben in indirekter Rede vom Tatbestand ausgenommen hat. Die hierdurch bestehenden Umgehungs­mög­lich­keiten sind der Meinungs­freiheit geschuldet, die es gebietet, nur absolut notwendige Einschränkungen vorzunehmen. Gegenüber der erkennbaren Meinung­s­äu­ßerung kommt dem Zitat die besondere Überzeugungs- und Beweiskraft des Faktums zu. Nur eine wortgetreue Wiedergabe von Aktenteilen erweckt den Eindruck amtlicher Authentizität und bezweckt diesen regelmäßig auch. Sie wird deshalb in der Regel weitergehende Wirkung haben als die bloße Mitteilung eines Dritten, in der über den Inhalt amtlicher Akten berichtet wird. Gerade für den Schutz der Unbefangenheit der Verfah­rens­be­tei­ligten ist dieser Unterschied wesentlich.

Einseitiges Recht des Angeklagten zur Veröf­fent­lichung würde Wahrheits­findung zurückdrängen

Auch die Verhält­nis­mä­ßig­keits­ab­wägung im engeren Sinne fällt zu Gunsten der Verfas­sungs­mä­ßigkeit von § 353 d Nr. 3 StGB aus, selbst wenn die Veröf­fent­lichung mit dem Willen eines Betroffenen erfolgt. Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass die Strafvorschrift sich bereits begrifflich nicht auf Elemente des persönlichen Meinens und Dafürhaltens, sondern nur auf Tatsa­chen­be­haup­tungen erstreckt. Zudem ist das Verbot zeitlich beschränkt bis zur Erörterung in der mündlichen Verhandlung; auch während dieser Dauer bleiben Formen der indirekten Wiedergabe erlaubt. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass § 353 d Nr. 3 StGB für alle Verfah­rens­be­tei­ligten des Strafprozesses, einschließlich der Staats­an­walt­schaft und der Nebenklage, gilt. Ein einseitiges Recht des Angeklagten zur Veröf­fent­lichung würde die Wahrheits­findung als zentrales Element des Strafprozesses zu Gunsten einer außer­pro­zes­sualen Diskussion zurückdrängen.

Verletzungen der Meinungs­freiheit oder des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts durch die mit der Verfas­sungs­be­schwerde angegriffenen Entscheidungen der Strafgerichte sind auch bezogen auf den konkreten Einzelfall nicht ersichtlich.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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