21.11.2024
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Dokument-Nr. 28933

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Bundesverfassungsgericht Beschluss10.06.2020

BVerfG: Ablehnung von Anträgen Asylsuchender auf einstweiligen Rechtsschutz unter Hinweis auf die Berliner Weisungslage verfas­sungs­widrigVerletzung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz

Das Bundes­verfassungs­gericht hat drei Verfassungs­beschwerden von afghanischen Asylsuchenden stattgegeben, die sich gegen die Ablehnung ihrer Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz wenden. Die Annahme des Verwal­tungs­ge­richts Berlin, den Beschwer­de­führern fehle im Hinblick auf die derzeit restriktive Berliner Praxis bei Abschiebungen nach Afghanistan das Rechts­schutzbedürfnis für ihre Anträge, ist mit dem verfassungs­rechtlichen Gebot effektiven Rechtsschutzes nicht vereinbar. Denn die Berliner Weisungslage zu Abschiebungen nach Afghanistan schließt die mit den gegen die Beschwer­de­führer vorliegenden Abschiebungs­androhungen verbundenen rechtlichen Risiken nicht mit der erforderlichen Zuverlässigkeit aus.

Die Beschwer­de­führer sind afghanische Staats­an­ge­hörige, die bereits in Schweden erfolglos ein Asylverfahren durchlaufen haben. Die anschließend in Deutschland gestellten Asylanträge lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) als unzulässig ab. Zugleich stellte es fest, dass Abschie­bungs­verbote nicht vorlägen, und drohte die Abschiebung nach Afghanistan an.

VG verneint Notwendigkeit des Eilschutzrechts wegen Berliner Weisungslage

Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwer­de­führer Klage beim Verwal­tungs­gericht Berlin und stellten zugleich Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Mit den angefochtenen Beschlüssen lehnte das Verwal­tungs­gericht die Eilanträge als unzulässig ab. Den Beschwer­de­führern fehle das erforderliche Rechts­schutz­be­dürfnis. Nach der Berliner Weisungslage und Praxis für ausrei­se­pflichtige Personen aus Afghanistan werde die gesetzlich angeordnete Abschiebung derzeit nicht durchgesetzt; gerichtlicher Rechtsschutz sei unnötig.

BVerfG: Beschlüsse stellen Verletzung des Grundrechts auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz dar

Das BVerfG hat den Verfas­sungs­be­schwerden nun stattgegeben und die Sachen an das VG Berlin zurückverwiesen. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen die Beschwer­de­führer in ihrem Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Ein zulässiger Antrag auf Anordnung oder Wieder­her­stellung der aufschiebenden Wirkung einer Klage setzt ein schutzwürdiges Interesse an dem erstrebten Rechts­schutzziel voraus. Dieses Rechts­schutz­be­dürfnis fehlt ausnahmsweise, wenn die gerichtliche Eilentscheidung für den Antragsteller nutzlos erscheint, weil sie zu keiner Verbesserung seiner Rechtsstellung führen könnte. Darüber hinaus fehlt das Rechts­schutz­be­dürfnis, wenn auch ohne eine Gericht­s­ent­scheidung eine Vollziehung des Verwaltungsakts ausgeschlossen ist.

Vollzug der Abschiebung nach Berliner Weisungslage rechtlich nicht ausgeschlossen

In den vorliegenden Fällen ist die Annahme des Verwal­tungs­ge­richts, den Beschwer­de­führern fehle das Rechts­schutz­be­dürfnis, jedoch mit dem verfas­sungs­recht­lichen Gebot effektiven Rechtsschutzes nicht vereinbar. Das Rechts­schutz­be­dürfnis der Beschwer­de­führer ergibt sich bereits daraus, dass ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ein Vollzug der Abschiebung rechtlich nicht ausgeschlossen ist. Die Berliner Weisungslage schließt eine Abschiebung auch solcher Personen, die nicht als Straftäter, Gefährder oder hartnäckige Identi­täts­ver­weigerer eingestuft sind, nicht mit der erforderlichen Zuverlässigkeit aus. Darüber hinaus handelt es sich bei den maßgeblichen Verfah­rens­hin­weisen zum Aufent­haltsrecht Berlin - VAB E Afghanistan 1 (Stand: 19. Juli 2019) - und dem ebenfalls einschlägigen Schreiben der Senats­ver­waltung für Integration, Arbeit und Soziales an Mitarbeitende von Beratungs­stellen, Vereinen und Projekten vom 19. Mai 2017 lediglich um interne Verwal­tungs­vor­schriften, von denen auch nach dem Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung aus sachlichen Gründen in Einzelfällen abgewichen und die zudem jederzeit geändert werden können. Eine weitere mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes unvereinbare Verschlech­terung der Rechtsposition der Beschwer­de­führer ergibt sich daraus, dass sie ohne gerichtlichen Schutz bei jeder Änderung der Weisungslage einen erneuten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung stellen müssten; zwischen­zeitliche, für sie nachteilige Recht­s­än­de­rungen gingen dabei zu ihren Lasten.

Eilschutzrecht kann Rechtsstellung auch verbessern

Die von den Beschwer­de­führern beantragte gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung verhindert im Übrigen nicht nur eine Verschlech­terung ihrer rechtlichen Situation, sondern kann ihre Rechtsstellung auch verbessern, etwa wenn über einen Asylzweitantrag zu entscheiden ist. Entgegen der Auffassung des Verwal­tungs­ge­richts kommt es auch nicht darauf an, dass ein Beschwer­de­führer auch bei Ablehnung seines Eilantrages möglicherweise eine Duldung erhalten würde. Denn die Entscheidung über die Erteilung einer solchen Duldung aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen steht im Ermessen der Auslän­der­behörde. Selbst wenn dieses Ermessen aufgrund der Berliner Weisungslage in Verbindung mit einer Selbstbindung der Verwaltung auf null reduziert sein mag, erfordert die Erteilung der Duldung jedenfalls ein weiteres Tätigwerden des Betroffenen sowie der zuständigen Auslän­der­behörde in einem zusätzlichen Verwal­tungs­ver­fahren.

Eilantrag nach Änderung der Berliner Weisungslage voraussichtlich nicht mehr nachholbar

Schließlich ist auf weitere prozessuale Risiken bei den hier vorliegenden Zweitanträgen hinzuweisen: Folgen Schutzsuchende der Annahme des Verwal­tungs­ge­richts und stellen zunächst keinen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung, könnte dieser Antrag nach einer Änderung der Berliner Weisungslage voraussichtlich nicht mehr nachgeholt werden, weil er einer besonders kurzen Frist unterworfen ist.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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