03.12.2024
03.12.2024  
Sie sehen das Schild des Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss17.12.2014

Staatliche Anerkennung der Mitgliedschaft in einer Religions­gemein­schaft hängt vom nach außen erkennbaren Willen des Betroffenen abAngabe "mosaisch" bei melde­be­hörd­licher Angabe kann als Synonym für "jüdische" Religions­zugehörig­keit verstanden werden

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass die staatliche Anerkennung der Mitgliedschaft in einer Religions­gemein­schaft von einem nach außen erkennbaren Willen des Betroffenen abhängt. Dem Staat ist es dabei aufgrund seiner Pflicht zur religiös-weltan­schau­lichen Neutralität nicht gestattet, Glauben und Lehre einer Religions­gemein­schaft als solche zu bewerten und unter­schiedliche Strömungen innerhalb der Rekigions­gemeinschaft zu bewerten und hieraus den möglichen Willen zur Zugehörigkeit einzelner Betroffener abzuleiten. Das Bundes­verfassungs­gericht gab mit seiner Entscheidung einer Beschwerde der jüdischen Gemeinde statt, die ein Ehepaar als Mitglieder ansah, das in melde­be­hörd­lichen Formularen zur Religion "mosaisch" angab, im nachhinein aber nicht als Mitglied der jüdischen Gemeinde gezählt werden wollte. Das Bundes­verfassungs­gericht verwies darauf, dass die Angabe "mosaisch" durchaus als Synonym für "jüdische" Religions­zugehörig­keit verstanden werden kann.

Die Beschwer­de­führerin ist die einzige jüdische Gemeinde in Frankfurt am Main. Sie ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Laut der Satzung der Beschwer­de­führerin sind alle Personen jüdischen Glaubens Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, die in Frankfurt ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben und nicht binnen einer Frist von drei Monaten nach ihrem Zuzug nach Frankfurt am Main gegenüber dem Gemein­de­vorstand schriftlich erklären, dass sie nicht Mitglieder der Gemeinde sein wollen. Nach § 3 der Satzung endet die Mitgliedschaft unter anderem durch Wegzug oder Austritt aus der jüdischen Gemeinde nach Bestimmungen des staatlichen Rechts. Gemäß § 8 der Satzung ist die Beschwer­de­führerin berechtigt, von ihren Mitgliedern Umlagen und Steuern nach Maßgabe einer Steuerordnung zu erheben und einzuziehen.

Kläger widersprechen Mitgliedschaft in der jüdischen Gemeinde

Die Kläger des Ausgangs­ver­fahrens, ein in Frankreich nach jüdischem Ritus getrautes Ehepaar, sind französische Staats­an­ge­hörige jüdischer Religionszugehörigkeit. Am 8. November 2002 verlegten die Kläger ihren Wohnsitz von Frankreich nach Frankfurt am Main. Im Meldebogen des Einwoh­ner­mel­deamts der Stadt Frankfurt am Main vom 11. November 2002 gaben sie in der Rubrik Nr. 6 - Religion - „mosaisch“ an. Mit Schreiben vom 12. Mai 2003 begrüßte die Beschwer­de­führerin die Kläger als neue Gemein­de­mit­glieder. Die Kläger widersprachen mit Schreiben vom 11. Juni 2003 ihrer Mitgliedschaft und beantragten hilfsweise die Wieder­ein­setzung in die versäumte dreimonatige Erklärungsfrist. Da die Besprechung zwischen den Klägern und der Beschwer­de­führerin am 29. Oktober 2003 zu keinem Einvernehmen führte, erklärten die Kläger am 29. Oktober 2003 gegenüber dem Amtsgericht Frankfurt am Main ihren Austritt aus der jüdischen Gemeinde mit Wirkung zum 31. Oktober 2003 und erhoben Klage auf Feststellung, dass sie vom 11. November 2002 bis zum 30. Oktober 2003 nicht Mitglieder der jüdischen Gemeinde gewesen seien.

Beschwer­de­führer wenden sich gegen Entscheidung des BVerwG

Mit ihrer Verfas­sungs­be­schwerde wendet sich die Beschwer­de­führerin gegen das Urteil des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts, das in seiner Entscheidung erklärte, dass das staatliche Recht nicht von einer Mitgliedschaft der Kläger bei der Beschwer­de­führerin ausgehen könne.

Bundes­ver­wal­tungs­gericht stellt überzogene Anforderungen an erkennbaren Willen zur Religi­o­ns­zu­ge­hö­rigkeit

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass das Bundes­ver­wal­tungs­gericht zwar von zutreffenden verfas­sungs­recht­lichen Maßstäben bei der Abgrenzung zwischen dem Selbst­be­stim­mungsrecht der Religionsgemeinschaft (Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV) und der negativen Religi­o­ns­freiheit des Einzelnen (Art. 4 GG) ausgegangen ist. Es hat jedoch Bedeutung und Tragweite des Selbst­be­stim­mungs­rechts verkannt, indem es überzogene Anforderungen an den erkennbaren Willen, der Beschwer­de­führerin anzugehören, gestellt hat. Das Urteil des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts hat die Kammer daher aufgehoben und das Verfahren zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

Wille, einer Religi­o­ns­ge­mein­schaft angehören zu wollen, kann in vielfältiger Weise zum Ausdruck gebracht werden

Die angegriffene Entscheidung des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts verletzt die Beschwer­de­führerin in ihrem Recht aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 WRV. 1. Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV garantiert den Religi­o­ns­ge­sell­schaften die Freiheit, ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes zu ordnen und zu verwalten. Eigene Angelegenheiten in diesem Sinne sind auch die Rechte und Pflichten der Mitglieder der einzelnen Religi­o­ns­ge­mein­schaft, insbesondere Bestimmungen, die den Ein- und Austritt und die mitglied­s­chaftliche Stellung regeln. Die Pflicht des Staates, eine religi­o­ns­ge­mein­schaftliche Regelung für den weltlichen Rechtsbereich anzuerkennen, besteht jedoch nicht grenzenlos. Als Schranke des für alle geltenden Gesetzes kommt das Grundrecht der negativen Glaubens- und Bekennt­nis­freiheit (Art. 4 GG) eines als Mitglied Herangezogenen in Betracht. Abzustellen ist auf den nach einem objektivierten Empfän­ger­ho­rizont erkennbar gewordenen Willen des Betroffenen. Die Eingliederung in eine Religi­o­ns­ge­mein­schaft ist im staats­recht­lichen Bereich dann anerken­nungsfähig, wenn sie durch eine positive - wenn auch möglicherweise nur konkludente - Erklärung des Betroffenen legitimiert ist; eine darüber hinausgehende förmliche Beitritts­er­klärung ist nicht erforderlich. Der Wille, einer Religi­o­ns­ge­mein­schaft angehören zu wollen, kann in vielfältiger Weise, nicht nur gegenüber der Religi­o­ns­ge­mein­schaft selbst, zum Ausdruck gebracht werden.

Frage der Mitgliedschaft richtet sich nach dem inner­re­li­gi­o­ns­ge­mein­schaft­lichen Recht

Gemessen an diesen verfas­sungs­recht­lichen Maßstäben hat das Bundes­ver­wal­tungs­gericht in der angefochtenen Entscheidung die Bedeutung und Tragweite von Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV verkannt. Das Bundes­ver­wal­tungs­gericht geht in seiner Entscheidung zunächst zutreffend davon aus, dass sich die Frage der Mitgliedschaft nach dem inner­re­li­gi­o­ns­ge­mein­schaft­lichen Recht richtet, wenn das staatliche Recht an die Zugehörigkeit zu einer Religi­o­ns­ge­mein­schaft anknüpft. Auch soweit es Grenzen des Selbst­be­stim­mungs­rechts der Religi­o­ns­ge­mein­schaften in den allgemeinen Gesetzen und dort insbesondere in der negativen Bekennt­nis­freiheit sieht, geht es vom zutreffenden verfas­sungs­recht­lichen Maßstab aus.

Zwangs­mit­glied­schaft liegt im vorliegenden Fall nicht vor

Soweit das Bundes­ver­wal­tungs­gericht darauf abstellt, ob eine Willens­be­kundung festgestellt werden könne, die den Schluss auf eine vom Willen des Betroffenen getragene Zuordnung zu einer Religi­o­ns­ge­mein­schaft erlaube, ist dies nicht zu beanstanden. Dem verfas­sungs­rechtlich garantierten Schutz der Glaubens- und Bekennt­nis­freiheit wird dadurch hinreichend Rechnung getragen. Wenn Rechte im konkreten Fall in der konkreten Person des Dritten durch die Mitglied­s­chafts­re­gelung nicht verletzt werden, bedarf das Selbst­be­stim­mungsrecht der Religi­o­ns­ge­mein­schaften keiner Einschränkung durch die allgemeinen Gesetze. Eine mit Art. 4 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarende Zwangs­mit­glied­schaft liegt in diesem Fall nicht vor. Das Selbst­be­stim­mungsrecht der Religi­o­ns­ge­mein­schaften verpflichtet den Staat dann zur Anerkennung ihrer Mitglied­s­chafts­ordnung, auch soweit sie von den staatlichen Regeln für Zusam­men­schlüsse abweicht.

BVerwG verkennt Reichweite und Grenzen des Selbst­be­stim­mungs­rechts der Religi­o­ns­ge­mein­schaften

Auch soweit das Bundes­ver­wal­tungs­gericht fordert, die Willens­be­kundung müsse sich auf die Mitgliedschaft in der konkreten rechtlich verfassten Religi­o­ns­ge­mein­schaft beziehen, ist hiergegen von Verfassungs wegen nichts zu erinnern. Nur die jeweiligen verfassten Religi­o­ns­ge­mein­schaften sind - ungeachtet ihrer rechtlichen Organi­sa­ti­o­nsform - Träger des in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV gewährleisteten Selbst­be­stim­mungs­rechts. Ob das Bundes­ver­wal­tungs­gericht mit seiner Auffassung, einer sich allein auf Wohnsitz und Abstammung stützenden Mitglied­s­chafts­re­gelung sei die Anerkennung im staatlichen Recht zu versagen, die Beschwer­de­führerin in ihrem Selbst­be­stim­mungsrecht verletzt hat, kann vorliegend offen bleiben. Denn jedenfalls verkennt es Reichweite und Grenzen des Selbst­be­stim­mungs­rechts der Religi­o­ns­ge­mein­schaften, indem es davon ausgeht, angesichts der konkreten Umstände des Einzelfalles sei keine ausreichende Willens­be­kundung der Kläger des Ausgangs­ver­fahrens erkennbar, der Beschwer­de­führerin angehören zu wollen.

Angabe "mosaisch" lässt Willen zur Zugehörigkeit zur Beschwer­de­führerin nach außen hinreichend erkennen

Aus den Angaben der Kläger gegenüber der Meldebehörde lässt sich - erst recht in einer Gesamtschau mit den weiteren Umständen des Einzelfalles - aus Sicht eines objektiven Dritten der nach außen objektiv erklärte Wille der Kläger entnehmen, der Beschwer­de­führerin angehören zu wollen. Angaben gegenüber Meldebehörden sind als voluntative Grundlage zur Begründung eines Mitglied­s­chafts­ver­hält­nisses in einer Religi­o­ns­ge­mein­schaft geeignet; insbesondere ist unschädlich, dass die Religi­o­ns­ge­mein­schaft lediglich mittelbarer Adressat der melde­be­hörd­lichen Angabe ist. Zwar haben die Kläger keine Abkürzung verwendet, die eine der als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannten Religi­o­ns­ge­mein­schaften zweifelsfrei identifiziert. Jedoch wird aus der Angabe „mosaisch“ nach außen hinreichend erkennbar, dass die Kläger der Beschwer­de­führerin angehören wollten. Insbesondere lässt diese Angabe für einen objektiven Dritten nicht erkennbar werden, dass die Kläger einer bestimmten liberalen Richtung des Judentums angehören wollten. Vielmehr kann der Begriff im vorliegenden Zusammenhang nach außen erkennbar nur als Synonym dafür verstanden werden, „jüdischer“ Religi­o­ns­zu­ge­hö­rigkeit zu sein.

Staat ist Bewertung von Glauben und Lehre einer Religi­o­ns­ge­mein­schaft aufgrund seiner Pflicht zur religiös-weltan­schau­lichen Neutralität nicht gestattet

Wenn das Bundes­ver­wal­tungs­gericht sich angesichts einer von ihm angenommenen Tendenz zur Pluralisierung und Rekon­fes­si­o­na­li­sierung des Judentums daran gehindert sieht, aus der Angabe einer „mosaischen“ Religi­o­ns­zu­ge­hö­rigkeit auf die Zuordnung zur konkreten jüdischen Gemeinde zu schließen, verkennt es, dass es sich bei den von den Klägern angeführten unter­schied­lichen Strömungen jedenfalls um Strömungen innerhalb des Judentums handelt. Dem Staat ist es aufgrund seiner Pflicht zur religiös-weltan­schau­lichen Neutralität nicht gestattet, Glauben und Lehre einer Religi­o­ns­ge­mein­schaft als solche zu bewerten. Versteht sich eine Religi­o­ns­ge­mein­schaft als dem jüdischen Glauben verpflichtet, ohne eine weitere Differenzierung in eine bestimmte liberale oder orthodoxe Richtung vorzunehmen, so ist es dem Staat mangels Einsicht und geeigneter Kriterien verwehrt, diese Beurteilung in Zweifel zu ziehen. Auch der einzelne Gläubige kann eine derartige Bewertung nicht in Frage stellen. Die verfasste Religi­o­ns­ge­mein­schaft bestimmt, wie sie Glaube, Lehre und Kultus versteht. Dem kann der Einzelne als Mitglied dieser Religi­o­ns­ge­mein­schaft folgen oder, wenn er die Auffassungen der verfassten Religi­o­ns­ge­mein­schaft nicht mehr teilt, dies durch Austritt deutlich machen

Mitgliedschaft in jüdischer Gemeinde kann aus der Gesamtschau der Begleitumstände bejaht werden

Unabhängig hiervon kann vorliegend jedenfalls aus der Gesamtschau der Begleitumstände die Mitgliedschaft in der konkreten Gemeinde bejaht werden. Die Beschwer­de­führerin ist die einzige jüdische Gemeinde in Frankfurt; es entspricht daher lebensnaher Auslegung, dass der Anmeldende im Zweifel Mitglied dieser Gemeinde werden möchte. Ein Vorbehalt, nur dann Mitglied in einer Religi­o­ns­ge­mein­schaft werden zu wollen, wenn diese einer bestimmten - sei es orthodoxen, sei es liberalen - Ausrichtung folgt, kann der Erklärung der Kläger schon von ihrer Wortbedeutung nicht entnommen werden. Zudem muss beachtet werden, dass sich die Beschwer­de­führerin nach ihrem über Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV geschützten Selbst­ver­ständnis vorliegend als Einheits­ge­meinde versteht, deren Ziel es gerade ist, unter­schiedliche Strömungen des Judentums innerhalb einer Gemeinde zu vereinen. Die von den Klägern vorgenommene Unterscheidung zwischen orthodox und liberal geprägten jüdischen Gemeinden ist der Satzung der Beschwer­de­führerin nicht zu entnehmen.

Klägerin bereits vor Wegzug nach Frankreich Mitglied der Gemeinde

Dieses Verständnis der Angaben der Kläger drängt sich im vorliegenden Fall umso mehr auf, da zumindest die Klägerin bereits vor ihrem Wegzug nach Frankreich - ebenso wie ihre in der dortigen Gemeinde aktiven Eltern - Mitglied der Beschwer­de­führerin war. Auch vor ihrem Wegzug nach Frankreich hatte sie von der Möglichkeit, den Austritt aus der Beklagten zu erklären, keinen Gebrauch gemacht.

Ob die Beschwer­de­führerin durch die Ausführungen des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts zum Parochialrecht in ihren Rechten verletzt ist, kann danach ebenso offen gelassen werden, wie die von der Beschwer­de­führerin geltend gemachte Verletzung weiterer Rechte.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

Nicht gefunden, was Sie gesucht haben?

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Beschluss20506

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI