03.12.2024
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Dokument-Nr. 28853

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Bundesverfassungsgericht Beschluss20.05.2020

BVerfG: Einbür­ge­rungs­an­spruch für nichtehelicher Kinder von NS-VerfolgtenVerweigerte Einbürgerung nichtehelicher Kinder stellt Verstoß gegen den Gleich­be­hand­lungs­grundsatz dar

Das BVerfG hat entschieden, dass der Tochter eines jüdischen Emigranten, dem die deutsche Staatan­ge­hö­rigkeit 1938 entzogen worden war, die Einbürgerung nicht mit der Begründung versagt werden darf, dass sie als nichteheliches Kind die deutsche Staats­an­ge­hö­rigkeit auch ohne Ausbürgerung ihres Vaters nicht hätte erlangen können.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die im Jahr 1967 in den USA geborene Beschwer­de­führerin ist wie ihre Mutter US-amerikanische Staats­an­ge­hörige. Ihrem 1921 geborenen Vater wurde 1938 die deutsche Staats­an­ge­hö­rigkeit entzogen. Er war als Jude in die USA geflohen. Die Eltern der Beschwer­de­führerin waren nicht verheiratet. Der Vater erkannte sie als sein Kind an. Sie beantragte 2013 die Einbürgerung gemäß Art. 116 Abs. 2 GG und begründete im Bundesgebiet ihren Wohnsitz.

Bundes­ver­wal­tungsamt lehnte Antrag auf Einbürgerung ab

Das Bundes­ver­wal­tungsamt lehnte den Antrag auf Einbürgerung ab. Zwar habe der Vater der Beschwer­de­führerin zu dem Personenkreis des Art. 116 Abs. 2 GG gehört. Zusätzlich sei jedoch eine hypothetische Prüfung erforderlich, ob der Entzug der deutschen Staats­an­ge­hö­rigkeit bei ihrem Vater Auswirkungen auf den Erwerb beziehungsweise Nichterwerb der deutschen Staats­an­ge­hö­rigkeit durch sie gehabt habe. Die Beschwer­de­führerin sei nichtehelich geboren worden und habe deshalb die Staats­an­ge­hö­rigkeit zum damaligen Zeitpunkt nicht von ihrem Vater erwerben können. Die Klage auf dem Verwal­tungs­rechtsweg blieb bis hin zur Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung erfolglos.

BVerfG gibt Verfas­sungs­be­schwerde der Tochter eines jüdischen Emigranten statt

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat der Verfassungsbeschwerde stattgegeben. Bei der Anwendung von Regelungen zur Staats­an­ge­hö­rigkeit, die mit einer Genera­ti­o­nenfolge an die Familienbindung des Einzelnen anknüpfen, sind die Wertent­schei­dungen zu beachten, in denen die Verfassung das Verhältnis der Geschlechter zueinander, die Beziehungen in der Familie und deren Verhältnis zum Staat kennzeichnet und bestimmt. 1. Art. 6 Abs. 5 GG enthält einen Verfas­sungs­auftrag, der die Gleichstellung und Gleich­be­handlung aller Kinder ungeachtet ihres Familienstandes zum Ziel hat und den Gesetzgeber verpflichtet, nichtehelichen Kindern die gleichen Bedingungen für ihre körperliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie ehelichen Kindern. Art. 6 Abs. 5 GG enthält die Wertent­scheidung, dass ein Kind nicht wegen seiner nichtehelichen Geburt benachteiligt werden darf. Auch eine mittelbare Schlech­ter­stellung nichtehelicher Kinder ist verboten. Der Auftrag aus Art. 6 Abs. 5 GG ist auch von der Verwaltung und der Rechtsprechung bei der Anwendung des geltenden Rechts zu berücksichtigen. Eine diffe­ren­zierende Regelung für nichteheliche Kinder ist verfas­sungs­rechtlich nur gerechtfertigt, wenn sie aufgrund der unter­schied­lichen tatsächlichen Lebenssituation zwingend erforderlich ist, um das Ziel der Gleichstellung von nichtehelichen Kindern mit ehelichen Kindern zu erreichen.

Unter­schiedliche Behandlung von nichtehelichen Kindern stellt Diskriminierung dar

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kann überdies eine willkürliche Verweigerung der Staats­an­ge­hö­rigkeit wegen der Auswirkung einer solchen Maßnahme auf das Privatleben einer Person in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK fallen. Denn das von Art. 8 EMRK geschützte Privatleben umfasst Aspekte der sozialen Identität einer Person. Wenn ein Staat das Recht vorsieht, seine Staats­an­ge­hö­rigkeit zu erlangen, muss dieses Recht auch ohne Diskriminierung gegenüber nichtehelichen Kindern ausgestaltet sein. Eine unter­schiedliche Behandlung stellt eine Diskriminierung im Sinne des Art. 14 EMRK dar, wenn sie kein legitimes Ziel verfolgt oder die angewandten Mittel nicht verhältnismäßig sind. Die Mitgliedstaaten verfügen hier zwar über einen gewissen Beurtei­lungs­spielraum. Es müssen aber „sehr gewichtige Gründe“ vorgebracht werden, damit eine unter­schiedliche Behandlung von nichtehelichen Kindern als vereinbar mit der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention angesehen werden kann. Daneben verbietet Art. 3 Abs. 2 GG die rechtliche Differenzierung nach dem Geschlecht und schützt sowohl Männer als auch Frauen vor Benachteiligung. Bei Regelungen, die an den Geschlech­ter­un­ter­schied der Eltern anknüpfen, kann Art. 3 Abs. 2 GG insbesondere als objektiver Wertmaßstab von Bedeutung sein. Wenn die Staats­an­ge­hö­rigkeit eines Kindes von der Staats­an­ge­hö­rigkeit der Eltern oder eines Elternteils abhängig gemacht wird, so verbietet Art. 3 Abs. 2 GG grundsätzlich, das Problem der Staats­an­ge­hö­rigkeit von Kindern einseitig zulasten der Mutter oder des Vaters zu lösen.

Instanzgerichte haben Abkömm­lings­begriff nicht hinreichend berücksichtigt

An diesen Maßstäben gemessen halten die angegriffenen Entscheidungen einer verfas­sungs­recht­lichen Überprüfung nicht stand. Bei der Interpretation von Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG haben die Gerichte unter Zugrundelegung eines engen Abkömm­lings­be­griffs trotz der offenen Formulierung der Norm die Wertent­schei­dungen des hier vorrangig maßgeblichen Art. 6 Abs. 5 GG und des Art. 3 Abs. 2 GG nicht hinreichend berücksichtigt. Sie haben nicht beachtet, dass die Interpretation des Abkömm­lings­be­griffs in einer Weise, die nichteheliche Kinder eines ausgebürgerten deutschen Vaters mitumfasst, den Wertent­schei­dungen des Grundgesetzes besser entspricht als die von ihnen gewählte enge Auslegung und daher den Vorzug verdient. Die angegriffenen Entscheidungen stützen sich auf die Rechtsprechung des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts. Hiernach setzt nach dem Gesetzeszweck der Einbür­ge­rungs­an­spruch des Abkömmlings nach Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG ein rechtliches Verhältnis zum Ausgebürgerten voraus, an welches das Staats­an­ge­hö­rig­keitsrecht den Erwerb der deutschen Staats­an­ge­hö­rigkeit knüpft. Die Auslegung des Begriffs „Abkömmlinge“ im Sinne von Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG in den angegriffenen Entscheidungen trägt der Bedeutung und Tragweite des Art. 6 Abs. 5 GG und des Art. 3 Abs. 2 GG nicht hinreichend Rechnung. Ist eine Norm so formuliert, dass mehrere Ausle­gungs­er­gebnisse möglich sind, ist diejenige Auslegung zu wählen, welche die juristische Wirkungskraft einer Grundrechtsnorm am stärksten entfaltet und den Wertent­schei­dungen der Verfassung am besten Rechnung trägt. Art. 116 Abs. 2 GG ist einer solchen Auslegung zugänglich. Wortlaut lässt sich eine Eingrenzung auf eheliche Abkömmlinge nicht zwingend entnehmen. Die systematische Stellung des Art. 116 Abs. 2 GG spricht zudem dafür, dass nichteheliche Kinder ebenso wie im Anwen­dungs­bereich des Art. 116 Abs. 1 GG vom Abkömm­lings­begriff umfasst sind. Nach seinem Sinn und Zweck dient Art. 116 Abs. 2 GG der Wieder­gut­machung natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Unrechts im Bereich des Staats­an­ge­hö­rig­keits­rechts. Der Gesetzeszweck der Wieder­gut­machung steht einer einengenden Auslegung grundsätzlich entgegen, was ebenfalls für eine Einbeziehung der nichtehelichen Kinder eines ausgebürgerten Vaters spricht. Die Ausbürgerung von jüdischen Staatsbürgern im Sinne der natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Gesetzgebung bleibt ein historisches Geschehen, das als solches nicht nachträglich beseitigt werden kann. Art. 116 Abs. 2 GG will aber das Unrecht, das den ausgebürgerten Verfolgten angetan worden ist, im Rahmen des Möglichen ausgleichen. Eine weite Auslegung erscheint auch deshalb angezeigt, weil im Rahmen der hypothetischen Prüfung bei der Einbürgerung von Abkömmlingen nicht mehr in Kraft befindliche Regelungen des Staats­an­ge­hö­rig­keits­rechts perpetuiert werden, die den Wertent­schei­dungen des Grundgesetzes zuwiderlaufen. Schließlich lässt sich auch der Entste­hungs­ge­schichte ein Ausschluss von nichtehelichen Kindern nicht entnehmen. Danach ist es verfas­sungs­rechtlich geboten, den Begriff „Abkömmlinge“ in Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG weit auszulegen, dabei die in Art. 6 Abs. 5 GG und Art. 3 Abs. 2 GG enthaltenen Wertent­schei­dungen mitein­zu­be­ziehen und den Einbür­ge­rungs­an­spruch nicht solchen Abkömmlingen vorzuenthalten, die nach einem durch das Grundgesetz überwundenen Rechts­ver­ständnis die Staats­an­ge­hö­rigkeit von ihrem Vater auch ohne dessen Ausbürgerung nicht hätten erwerben können.

Auslegung der Verwal­tungs­ge­richte verstößt gegen das Diskri­mi­nie­rungs­verbot

Die Auslegung der Verwal­tungs­ge­richte in den angegriffenen Entscheidungen verstößt zuvörderst gegen das Diskri­mi­nie­rungs­verbot in Art. 6 Abs. 5 GG. Wenn es dem Verfas­sungsgeber notwendig erschien, Diffe­ren­zie­rungen nach der Abstammung durch einen besonderen Verfassungssatz zu verbieten, damit diese unter dem Grundgesetz wirksam ausgeschlossen werden, spricht dies gegen eine Auslegung des Grundgesetzes an anderer Stelle, die nichteheliche Kinder vom Erwerb der deutschen Staats­an­ge­hö­rigkeit durch ihren Vater ausschließt. Art. 6 Abs. 5 GG stellt mit dem Verbot der Diskriminierung nichtehelicher Kinder die menschliche Persönlichkeit und ihre Würde in den Mittelpunkt des Wertsystems der Verfassung und des gesamten Rechts, und diese Wertent­scheidung muss auch bei der Bestimmung des Begriffs „Abkömmlinge“ in Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG beachtet werden. Die in dem heute nicht mehr gültigen Staats­an­ge­hö­rig­keitsrecht vorgenommene ausschließliche Zuordnung des nichtehelichen Kindes zu seiner Mutter ist weder nach der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts ein wesentlicher noch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein sehr gewichtiger Grund, der die Ungleich­be­handlung des nichtehelichen Kindes beim Erwerb der deutschen Staats­an­ge­hö­rigkeit rechtfertigen könnte.

Erwerb der Staats­bür­ger­schaft nach Abstam­mungs­prinzip verstößt gegen Art. 3 Abs. 2 GG

Daneben ist es auch mit Art. 3 Abs. 2 GG als objektivem Wertmaßstab nicht vereinbar, wenn der Erwerb der deutschen Staats­an­ge­hö­rigkeit nach dem Abstam­mungs­prinzip nur im Verhältnis zu einem Elternteil, im Falle einer nichtehelichen Geburt allein zur Mutter, anerkannt wird. Denn eine Regelung über den Erwerb der Staats­an­ge­hö­rigkeit des Vaters oder der Mutter regelt nicht nur den objektiven Status des Kindes, sondern berührt auch unmittelbar die Rechtsstellung der Elternteile in ihrem Verhältnis zum Staat wie zur Familie. Das Abstam­mungs­prinzip als Grundlage des Staats­an­ge­hö­rig­keits­erwerbs soll zum einen die Bindung an die eigenständige soziale Einheit der Familie vermitteln und gewährleisten, zum anderen macht die gemeinsame Bindung an eine bestimmte staatliche Gemeinschaft einen Teil der vielfältigen engen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern aus und trägt dazu bei, den Zusammenhang in der Familie zu dokumentieren und zu stärken. Die Wertent­scheidung des Art. 3 Abs. 2 GG wird verfehlt, wenn ein solcher Zusammenhang abhängig vom Geschlecht nur im Verhältnis von Mutter und Kind, nicht aber im Verhältnis von Vater und Kind anerkannt wird. Dies gilt bei einer Auslegung der Vorschriften des Staats­an­ge­hö­rig­keits­rechts im Lichte der Wertent­schei­dungen des Grundgesetzes nicht nur, wenn die Eltern des Kindes miteinander verheiratet sind, sondern auch dann, wenn es um das Verhältnis eines nichtehelichen Kindes zu seinen Eltern geht.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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