18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss18.12.2017

Gerichte haben Pflicht zur Sachaufklärung bei Hinweisen auf Foltergefahr in Abschie­bungs­fällenBehörden und Gerichte müssen sich über Verhältnisse vor Ort informieren und geeignete Zusicherungen über Ausschluss von Folter und unmenschlicher Behandlung einholen

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass Gerichte das in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistete Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletzen, wenn sie trotz gewichtiger Anhaltspunkte nicht aufklären, ob einem Betroffenen im Falle der Abschiebung Folter oder unmenschliche Haftbedingungen drohen. Es ist verfassungs­rechtlich geboten, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor einer Rückführung in den Zielstaat über die dortigen Verhältnisse informieren und vor einer Abschiebung gegebenenfalls geeignete Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen, die Folter und unmenschliche Behandlung wirksam ausschließen. Das Gericht gab mit seiner Entscheidung teilweise der Verfassungs­beschwerde eines wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilten türkischen Staats­an­ge­hörigen statt und verwies den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung an das Verwal­tungs­gericht zurück.

Der in Deutschland geborene und aufgewachsene Beschwer­de­führer ist türkischer Staats­an­ge­höriger. Er wurde durch das Kammergericht Berlin im Jahr 2015 unter anderem wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Gesamt­frei­heits­strafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt, weil er sich salafistischen Kreisen angeschlossen und in Syrien der terroristischen Vereinigung Junud al-Sham erhebliche Geld- und Sachleistungen überlassen hatte. Die Auslän­der­behörde wies den Beschwer­de­führer im Juni 2016 aus der Bundesrepublik aus, drohte die Abschiebung in die Türkei an. Den Eilantrag des Beschwer­de­führers lehnte das Verwal­tungs­gericht ab; die Beschwerde zum Verwal­tungs­ge­richtshof blieb erfolglos. Zusätzlich stellte der Beschwer­de­führer im August 2017 einen Asylantrag, der als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde. Hiergegen begehrte der Beschwer­de­führer Eilrechtsschutz und trug vor, dass gegen ihn in der Türkei ein Strafverfahren wegen Unterstützung des islamistischen Terrorismus anhängig sei, und ihm Folter drohe. Er legte zur Begründung seines Antrags ein Schreiben von amnesty international vor, wonach die deutsche Sektion Ende Juli 2017 von dem Vater eines in der Türkei als Terror­ver­dächtiger inhaftierten türkischen Staats­an­ge­hörigen Hinweise darauf erhalten habe, dass sein Sohn seit einiger Zeit zusammen mit den Mitgefangenen schwer geschlagen und gefoltert werde; jede ärztliche Versorgung werde den Gefangenen verweigert, die in Zellen voller menschlicher Fäkalien untergebracht seien. Das Verwal­tungs­gericht lehnte den Eilantrag mit Beschluss vom 21. September 2017 ab. Wie der Verwal­tungs­ge­richtshof im auswei­sungs­recht­lichen Verfahren zu Recht festgestellt habe, drohe lediglich Angehörigen der kurdischen PKK oder der Gülen-Bewegung Folter. An Anhaltspunkten für eine beachtliche Gefahr von Folter oder menschen­rechts­widriger Behandlung im Falle des Beschwer­de­führers fehle es jedoch.

Bei Gefahr von Folter oder unmenschlichen Haftbedingungen kommt verfah­rens­recht­licher Sachauf­klä­rungs­pflicht verfas­sungs­recht­liches Gewicht zu

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die mit der Verfas­sungs­be­schwerde angegriffene Entscheidung vom 21. September 2017 den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG verletzt. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verlangt nicht nur, dass jeder potenziell rechts­ver­letzende Akt der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der gerichtlichen Prüfung unterstellt werden kann; vielmehr müssen die Gerichte den betroffenen Rechten auch tatsächliche Wirksamkeit verschaffen. Das Maß dessen, was wirkungsvoller Rechtsschutz ist, bestimmt sich auch nach dem sachlichen Gehalt des als verletzt behaupteten Rechts, hier der Menschenwürde sowie des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Verbindung mit der Gewährleistung des Art. 3 EMRK im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Die verfah­rens­recht­lichen Anforderungen an die Sachver­halts­auf­klärung haben dem hohen Wert dieser Rechte Rechnung zu tragen. In Fällen, in denen die Gefahr von Folter oder unmenschlichen Haftbedingungen in Rede steht, kommt der verfah­rens­recht­lichen Sachauf­klä­rungs­pflicht (§ 86 Abs. 1 Verwal­tungs­ge­richts­ordnung) verfas­sungs­recht­liches Gewicht zu. Liegen ernsthafte Anhaltspunkte für eine Foltergefahr vor, ist es verfas­sungs­rechtlich und konven­ti­o­ns­rechtlich geboten, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor einer Rückführung in den Zielstaat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen, die die Gefahr einer Art. 3 EMRK verletzenden Behandlung wirksam ausschließen.

BVerfG bejaht Vorliegen ernsthaftet Anhaltspunkte für Bestehen einer Foltergefahr

Diesen Maßgaben wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht. Mit der Begründung, es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Beschwer­de­führer im Falle seiner Abschiebung in die Türkei mit beachtlicher Wahrschein­lichkeit Folter oder menschen­rechts­widrige Haftbedingungen drohten, da nur kurdische Aktivisten und Anhänger der Gülen-Bewegung, nicht aber Unterstützer des islamistischen Terrorismus mit menschen­rechts­widriger Behandlung rechnen müssten, verfehlt das Verwal­tungs­gericht die verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben. Es bestand im Hinblick auf das vom Beschwer­de­führer überreichte Schreiben von amnesty international und insbesondere vor dem Hintergrund der als gerichtsbekannt einzustufenden allgemeinen Erkenntnisse zur politischen Situation in der Türkei von Verfassungs wegen Anlass zu weiterer Sachaufklärung oder zur Einholung von Zusicherungen der türkischen Behörden zur Behandlung des Beschwer­de­führers. Denn es gab ernsthafte Anhaltspunkte für das Bestehen einer Foltergefahr auch im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Unterstützung des islamistischen Terrorismus und damit auch in Bezug auf den Beschwer­de­führer. Diese Anhaltspunkte hätten einer Überprüfung bedurft.

Gericht durfte nicht von ausbleibenden menschen­rechts­widrigen Behandlungen ausgehen

Auch in Anbetracht der oberge­richt­lichen Rechtsprechung zu den Haftbedingungen in der Türkei konnte das Verwal­tungs­gericht nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass dem Beschwer­de­führer nach der Abschiebung keine menschen­rechts­widrige Behandlung drohte. Im Hinblick auf den festgestellten Verstoß gegen die aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgende Aufklä­rungs­pflicht bedarf die weitere Frage, ob Personen, die islamistischen terroristischen Organisationen zuzurechnen sind, in der Türkei generell mit Folter zu rechnen haben, im vorliegenden Verfas­sungs­be­schwer­de­ver­fahren keiner Entscheidung.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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