21.11.2024
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Dokument-Nr. 30338

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Bundesverfassungsgericht Beschluss27.04.2021

Verfassungs­beschwerde gegen eine im Verfahren der gegenseitigen Anerkennung erteilte Zulassung für ein Tiera­rz­nei­mittel zurückgewiesenZulassung von Generikum in Deutschland auf Basis von britischer Beurteilung ist rechtens

Das Bundes­verfassungs­gericht hat eine Verfassungs­beschwerde gegen die einem Konkurrenz­unternehmen im Verfahren der gegenseitigen Anerkennung nach dem Arznei­mit­tel­gesetz durch das Bundesamt für Verbrau­cher­schutz und Lebensmittel­sicherheit erteilte Zulassung für ein Tiera­rz­nei­mittel zurückgewiesen. Weder der Zulas­sungs­be­scheid noch die ihn bestätigenden verwaltungs­gerichtlichen Urteile verletzen die Beschwerde­führerinnen in ihrem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG beziehungsweise Art. 16 GRCh. Da nicht nur die Auslegung der im Grundgesetz verbürgten Grundrechte im Lichte der Europäischen Menschenrechts­konvention, der Charta der Grundrechte und der gemeinsamen Verfassungs­überlieferungen der Mitgliedstaaten sowie ihrer höchst­rich­ter­lichen Konkretisierung erfolgen müsse, sondern auch die Auslegung der Charta der Grundrechte unter Rückgriff auf die Europäische Menschenrechts­konvention und die gemeinsamen Verfassungs­überlieferungen der Mitgliedstaaten in Gestalt ihrer höchst­rich­ter­lichen Konkretisierung, führe die Heranziehung von Art. 12 Abs. 1 GG beziehungsweise Art. 16 GRCh jedenfalls im vorliegenden Fall zum selben Ergebnis.

Die Beschwer­de­füh­re­rinnen wenden sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die einem Konkur­ren­z­un­ter­nehmen im Verfahren der gegenseitigen Anerkennung nach § 25 b Abs. 2 Arznei­mit­tel­gesetz (AMG) durch das Bundesamt für Verbrau­cher­schutz und Lebens­mit­tel­si­cherheit (Bundesamt) erteilte Zulassung für ein Tiera­rz­nei­mittel. Die Beschwer­de­führerin zu 1. ist Inhaberin und Eigentümerin der Rechte an den Zulas­sungs­un­terlagen für das Tiera­rz­nei­mittel Baytril. Die Beschwer­de­führerin zu 2. ist die ausschließliche Lizenznehmerin dieser Rechte in Deutschland sowie Inhaberin der nationalen Zulassung für Baytril. Im Jahr 1993 erteilte die für Arznei­mit­tel­zu­las­sungen zuständige Behörde in Großbritannien eine nationale Zulassung für das Medikament Baytril. Im Rahmen des 2004 durchgeführten Verfahrens zur Verlängerung der Zulassung legte ein zum Konzern der Beschwer­de­füh­re­rinnen gehörendes Unternehmen auf Verlangen der britischen Zulas­sungs­behörde von der Rechts­vor­gängerin der Beschwer­de­führerin zu 1. erstellte Ökotox-Daten von Baytril vor.

Bundesamt erkennt britische Zulassung an

Die im fachge­richt­lichen Verfahren Beigeladene besitzt Zulassungen für das mit Baytril im Wesentlichen inhaltsgleiche Tiera­rz­nei­mittel Enroxil in der Tschechischen Republik, Ungarn und Polen. Unter Bezugnahme auf die britische Zulassung für Baytril erteilte die britische Zulas­sungs­behörde am 9. September 2005 eine nationale Zulassung von Enroxil als Generikum. Im Jahr 2006 beantragte eine hierfür von der Beigeladenen beauftragte Firma beim Bundesamt die Erteilung einer nationalen Zulassung für Enroxil im Verfahren der gegenseitigen Anerkennung der britischen Referenz­zu­lassung. Nachdem das Bundesamt bei der formalen Vorprüfung des Zulas­sungs­antrags das Fehlen von Unterlagen zur Umwelt­ver­träg­lichkeit beanstandet hatte, übersandte die britische Zulas­sungs­behörde den im Jahr 2004 anlässlich der Verlängerung der britischen Zulassung für Baytril erstellten Beurtei­lungs­bericht, der auf den von der Rechts­vor­gängerin der Beschwer­de­führerin zu 1. erstellten Ökotox-Daten basierte. Daraufhin erteilte das Bundesamt der Beigeladenen die beantragte Zulassung.

Beschwer­de­füh­re­rinnen klagen gegen Zulas­sungs­be­scheid

Den Widerspruch gegen den Zulas­sungs­be­scheid des Bundesamtes wies dieses als unzulässig zurück. Die dagegen gerichtete Klage blieb in allen Instanzen der Verwal­tungs­ge­richts­barkeit erfolglos. Mit ihrer Verfas­sungs­be­schwerde rügen die Beschwer­de­füh­re­rinnen eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG sowie ihres grund­rechts­gleichen Rechts aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

BVerfG: Anwendung der europäischen Grundrechte gewährleistet nach derzeitigem Stand einen hinreichend wirksamer Grund­rechts­schutz

Das Verfas­sungs­gericht hat Verfas­sungs­be­schwerde zurückgewiesen. Im Geltungsbereich des Rechts der Europäischen Union hängt die Bestimmung der für deutsche Behörden und Gerichte maßgeblichen Grund­rechts­ver­bür­gungen grundsätzlich davon ab, ob die zu entscheidende Rechtsfrage unionsrechtlich vollständig determiniert ist. Akte der deutschen öffentlichen Gewalt, die durch Unionsrecht vollständig determiniert werden, sind grundsätzlich nicht am Maßstab der im Grundgesetz verankerten Grundrechte zu messen. Mit der in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Ermächtigung, Hoheitsrechte auf die Europäische Union zu übertragen, billigt das Grundgesetz die im Zustim­mungs­gesetz zu den Verträgen enthaltene Einräumung eines Anwen­dungs­vorrangs zugunsten des Unionsrechts. Dieser Anwen­dungs­vorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht gilt grundsätzlich auch mit Blick auf entge­gen­ste­hendes nationales Verfas­sungsrecht und führt bei einer Kollision im konkreten Fall in der Regel zu dessen Unanwendbarkeit. Die Geltung der Grundrechte des Grundgesetzes lässt dies jedoch ebenso unberührt wie die Gültigkeit des sonstigen nationalen Rechts. In Übereinstimmung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG setzt ein den Rückgriff auf die Grundrechte des Grundgesetzes ausschließender Anwen­dungs­vorrang des Unionsrechts nach ständiger Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts jedoch voraus, dass durch die Anwendung der Grundrechte der Europäischen Union ein hinreichend wirksamer Grund­rechts­schutz gewährleistet ist. Nach dem derzeitigen Stand des Unionsrechts ist davon auszugehen, dass diese Voraussetzungen grundsätzlich erfüllt sind. Insoweit kommt den Grundrechten des Grundgesetzes nur eine Reservefunktion zu. Davon unberührt bleiben die verfas­sungs­recht­lichen Kontroll­vor­behalte der Ultra-vires- und der Identi­täts­kon­trolle. Ob eine Rechtsfrage vollständig unionsrechtlich determiniert ist, richtet sich in aller Regel nach den Normen, aus denen die Rechtsfolgen für den streit­ge­gen­ständ­lichen Fall abzuleiten sind, also danach, ob das streit­ge­gen­ständliche Rechts­ver­hältnis und die sich aus ihm konkret ergebenden Rechtsfolgen durch das Unionsrecht oder das nationale Recht festgelegt werden. Maßgeblich sind die im konkreten Fall anzuwendenden Vorschriften in ihrem Kontext, nicht eine allgemeine Betrachtung des in Rede stehenden Regelungs­be­reichs.

Maßstäbe des Grundgesetzes und EU-Grund­recht­echarta stimmen im Wesentlichen überein

Geht man vorliegend davon aus, dass die Frage der Heranziehung und Verarbeitung der von den Beschwer­de­füh­re­rinnen erstellten Ökotox-Daten durch das Bundesamt nicht vollständig unionsrechtlich determiniert ist, ist der Bescheid des Bundesamts am Maßstab von Art. 12 Abs. 1 GG zu messen. Dabei sind die Grundrechte des Grundgesetzes auch im Lichte der Charta auszulegen. Ebenso wie diese aus den verschiedenen Grund­recht­s­tra­di­tionen der Mitgliedstaaten entstanden und im Einklang mit diesen auszulegen ist, ist für das Verständnis der grund­ge­setz­lichen Garantien neben der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention auch die Charta als Auslegungshilfe heranzuziehen. Darüber hinaus hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht zur Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes von jeher auch auf die Verfas­sungs­über­lie­fe­rungen anderer demokratischer Rechtsstaaten zurückgegriffen. Für den Schutz der Berufs­aus­übungs­freiheit ist dieser Maßstab in der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hinreichend geklärt und ausdif­fe­renziert. Geht man hingegen von einer vollständigen unions­recht­lichen Determinierung der Heranziehung und Verarbeitung der von den Beschwer­de­füh­re­rinnen erstellten Ökotox-Daten aus, ist der Bescheid des Bundesamts am Maßstab von Art. 16 GRCh zu messen. Dabei sind auch die Grundrechte des Grundgesetzes, die Garantien der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention und die Grundrechte der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu berücksichtigen. Wie die Charta der Grundrechte wurzeln sie überwiegend in gemeinsamen Verfas­sungs­über­lie­fe­rungen und sind insoweit Ausprägungen gemei­n­eu­ro­pä­ischer und universaler Werte. Sie gründen auf dem Schutz der Menschenwürde, gewährleisten einen nach Inhabern, Verpflichteten und Struktur im Wesentlichen funktional vergleichbaren Schutz und stellen sich in weitem Umfang als deckungsgleiche Gewähr­leis­tungen dar. Vor diesem Hintergrund empfängt nicht nur die Auslegung der im Grundgesetz verbürgten Grundrechte Direktiven von der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention, der Charta der Grundrechte und den gemeinsamen Verfas­sungs­über­lie­fe­rungen der Mitgliedstaaten sowie ihrer höchst­rich­ter­lichen Konkretisierung. Auch die Auslegung der Charta der Grundrechte ist an der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention und den gemeinsamen Verfas­sungs­über­lie­fe­rungen der Mitgliedstaaten in Gestalt ihrer höchst­rich­ter­lichen Konkretisierung auszurichten. Deshalb ist auch bei der Auslegung und Anwendung von Art. 16 GRCh dessen Einbettung in die europäische und universale Rechtstradition und -entwicklung zu berücksichtigen. Im Ergebnis stimmen die im vorliegenden Fall einschlägigen verfas­sungs­recht­lichen Maßstäbe des Grundgesetzes und der Charta der Grundrechte im Wesentlichen überein. Beide erkennen Betriebs- und Geschäfts­ge­heimnisse als Bestandteil der Berufsfreiheit an, legen einen weiten Eingriffs­begriff zugrunde und erlauben Beschränkungen nur bei Vorliegen einer wirksamen Rechtsgrundlage.

Rechtmäßigkeit oder Rechts­wid­rigkeit der britische Referenz­zu­lassung bedeutungslos

Laut BVerfG verletzen weder der Zulas­sungs­be­scheid noch die ihn bestätigenden verwal­tungs­ge­richt­lichen Urteile die Beschwer­de­füh­re­rinnen in ihren Rechten aus Art. 12 Abs. 1 GG beziehungsweise Art. 16 GRCh. Für die rechtliche Beurteilung des streit­ge­gen­ständ­lichen Bescheids des Bundesamts ist ohne Bedeutung, ob die britische Referenz­zu­lassung rechtmäßig oder rechtswidrig war. Das Bundes­ver­wal­tungs­gericht hat im Ergebnis zu Recht darauf hingewiesen, dass Recht­mä­ßig­keits­mängel der britischen Zulas­sungs­ent­scheidung vom Bundesamt nicht zu prüfen waren. Eventuelle Rechtsverstöße hätten die Beschwer­de­füh­re­rinnen insoweit mit einer Anfechtung der Referenz­zu­lassung in Großbritannien geltend machen müssen.

Verwendung der Ökotox-Daten wären jedenfalls gerechtfertigt

Ob der Bescheid des Bundesamts die Beschwer­de­füh­re­rinnen in ihren Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 GG beziehungsweise Art. 16 GRCh verletzt, hängt vielmehr davon ab, ob Heranziehung und Verarbeitung der von den Beschwer­de­füh­re­rinnen erstellten Ökotox-Daten Aufgabe des Bundesamts waren und wie weit sein Entschei­dungs­spielraum und seine Entschei­dungs­ver­ant­wortung dabei reichten. Das hat das Bundes­ver­wal­tungs­gericht allerdings mit Blick auf § 23 und § 24 b sowie § 25 b AMG 2005 nicht im Einzelnen ermittelt. Gleichwohl kann hier dahinstehen, ob die Heranziehung und Verarbeitung der Ökotox-Daten im streit­ge­gen­ständ­lichen Bescheid des Bundesamts eine selbständige Bezugnahme auf die Ökotox-Daten der Beschwer­de­füh­re­rinnen im Sinne von § 24 b AMG 2005 darstellt, die einen der Bundesrepublik Deutschland zuzurechnenden eigenständigen Eingriff in das Grundrecht der Beschwer­de­füh­re­rinnen aus Art. 12 Abs. 1 GG beziehungsweise Art. 16 GRCh bewirkt. Auch wenn dies der Fall sein sollte, wäre er durch § 25 b in Verbindung mit 24b Abs. 1 Satz 1 und § 23 Abs. 1 Nr. 3 AMG 2005 jedenfalls gerechtfertigt. Unabhängig davon, ob und inwieweit § 24 b Abs. 1 Satz 1 AMG 2005 mit Art. 13 Abs. 1 Richtlinie 2001/82/EG in der durch die Richtlinie 2004/28/EG geänderten Fassung vereinbar war, war letzterer mangels unmittelbarer Anwendbarkeit jedenfalls nicht geeignet, § 24 b Abs. 1 Satz 1 AMG 2005 zu verdrängen. Vor diesem Hintergrund richtete sich die Frage nach der Verwendung von Ökotox-Daten des Rechteinhabers - eine selbständige Bezugnahme durch das Bundesamt bei der Anerkennung des Generikums vorausgesetzt - hier nach § 24 b Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 23 Abs. 1 Nr. 3 AMG 2005. Bei der Erstzulassung eines Generikums gestattete dieser die Bezugnahme auf Unterlagen des Voran­trag­stellers auch, soweit mit ihnen eine Bewertung möglicher Umweltrisiken nachgewiesen wurde, sofern das Referenz­a­rz­nei­mittel seit mindestens acht Jahren oder vor mindestens acht Jahren zugelassen worden war. Entsprechendes hätte für die Anerkennung eines Generikums im Verfahren nach § 25 b Abs. 1 AMG gegolten.

Etwaige Eingriff in die Berufsfreiheit dient Gemein­wohl­belang und wiegen nicht besonders schwer

Verfas­sungs­rechtliche Bedenken gegen § 25 b in Verbindung mit § 24 b Abs. 1 Satz 1 und § 23 Abs. 1 Nr. 3 AMG 2005 sind nicht ersichtlich. Der etwaige Eingriff in die Berufsfreiheit und die mit der Heranziehung der von den Beschwer­de­füh­re­rinnen erstellten Ökotox-Daten zugunsten der Beigeladenen des Ausgangs­ver­fahrens verbundene Wettbe­wer­bs­ver­zerrung dienen einem Gemein­wohl­belang und wiegen unter dem Gesichtspunkt von Art. 12 Abs. 1 GG nicht besonders schwer. Da der angegriffene Zulas­sungs­be­scheid des Bundesamts danach jedenfalls auf einer zureichenden Rechtsgrundlage ergangen ist, scheidet im Ergebnis auch eine Verletzung von Art. 14 GG beziehungsweise Art. 17 GRCh sowie von Art. 19 Abs. 4 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG aus.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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