Dokument-Nr. 30638
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Bundesverfassungsgericht Beschluss08.06.2021
Teilweise erfolgreiche Verfassungsbeschwerden zu Zwangsbehandlungen bei Patientenverfügung im MaßregelvollzugKeine Zwangsbehandlungen im Maßregelvollzug bei Ausschluss durch Patientenverfügung
Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Verfassungsbeschwerden teilweise stattgegeben, die sich gegen gerichtliche Entscheidungen richteten, mit denen die Einwilligung in eine medizinische Zwangsbehandlung des Beschwerdeführers in der einstweiligen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sowie im anschließenden Maßregelvollzug erteilt wurde.
Im hier vorliegenden Fall war der Beschwerdeführer aufgrund einer gerichtlichen Anordnung ab Oktober 2015 zunächst einstweilig und nach Abschluss des Strafverfahrens dauerhaft in einem Bezirkskrankenhaus im Maßregelvollzug untergebracht. Bereits im Juni 2005 hatte er in einem Formular erklärt, eine „Patientenverfügung“ getroffen zu haben und sie in diesem Dokument zu wiederholen. Er traf insbesondere Anordnungen zu lebensverlängernden Maßnahmen sowie Fremdbluttransfusionen und setzte seine Mutter als bevollmächtigte Vertreterin ein. Mit Datum vom 4. Januar 2015 hatte er seine Mutter nochmals als Bevollmächtigte eingesetzt, die ihn in allen Angelegenheiten vertreten sollte. In einem weiteren Schriftstück vom 11. Januar 2015 erklärte der Beschwerdeführer, dass er es jedem Arzt, Pfleger (und anderen Personen) verbiete, ihm Neuroleptika in irgendeiner Form gegen seinen Willen zu verabreichen oder ihn dazu zu drängen. Im September 2016 beantragte das Bezirkskrankenhaus die Zwangsbehandlung des Beschwerdeführers, weil er an einer Schizophrenie vom paranoid-halluzinatorischen Typ leide. Die Behandlung sei notwendig, um ihn vor irreversiblen hirnorganischen Gesundheitsschäden zu bewahren, die bei weiterer Verzögerung des Behandlungsbeginns mit hoher Wahrscheinlichkeit einträten. In den Jahren 2017 und 2018 erteilten verschiedene Gericht rechtkräftig auf Grundlage der Art. 6 Abs. 4 Satz 1, Abs. 3, Art. 41 Nr. 3 des Gesetzes über den Vollzug der Maßregeln der Besserung und Sicherung sowie der einstweiligen Unterbringung des Freistaates Bayern in der Fassung vom 17. Juli 2015 (BayMRVG a. F.) die Einwilligung, den Beschwerdeführer mit einem atypischen Neuroleptikum zu behandeln. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seines Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG) und seiner Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Mittelbar richten sich die Verfassungsbeschwerden gegen die die Zwangsbehandlung betreffende Regelung des Art. 6 Abs. 3 bis 6 BayMRVG a. F. Mittelbar richten sich die Verfassungsbeschwerden gegen die die Zwangsbehandlung betreffende Regelung des Art. 6 Abs. 3 bis 6 BayMRVG a. F.
Ausschluss im Zustand der Einsichtsfähigkeit zu beachten
Die Verfassungsbeschwerden haben überwiegend Erfolg. Der in der medizinischen Zwangsbehandlung einer untergebrachten Person mit Neuroleptika liegende Grundrechtseingriff wiegt dabei besonders schwer. Ungeachtet der besonderen Schwere des mit ihr verbundenen Grundrechtseingriffs kann die Zwangsbehandlung einer untergebrachten Person jedoch gerechtfertigt sein. Eine Zwangsbehandlung zum Schutz der Grundrechte der untergebrachten Person selbst kann jedoch dann nicht gerechtfertigt werden, wenn diese sie im Zustand der Einsichtsfähigkeit wirksam ausgeschlossen hat. Sofern Betroffene mit freiem Willen über medizinische Maßnahmen zur Erhaltung oder Besserung der eigenen Gesundheit entscheiden können, besteht keine Schutz- und Hilfsbedürftigkeit, die Voraussetzung für eine staatliche Schutzpflicht ist. Der Einzelne ist grundsätzlich frei, über Eingriffe in seine körperliche Integrität und den Umgang mit seiner Gesundheit nach eigenem Ermessen zu entscheiden. Diese Freiheit ist Ausdruck der persönlichen Autonomie des Einzelnen und als solche durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützt. Dieses Grundrecht verstärkt durch die Inbezugnahme der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG den Gewährleistungsgehalt der körperlichen Unversehrtheit zu einer „Freiheit zur Krankheit“ und verleiht ihm dadurch ein besonderes Gewicht. Die Freiheitsgrundrechte schließen das Recht ein, von der Freiheit einen Gebrauch zu machen, der in den Augen Dritter den wohlverstandenen Interessen des Grundrechtsträgers zuwiderläuft. Das schließt die „Freiheit zur Krankheit“ und damit das Recht ein, auf Heilung zielende Eingriffe abzulehnen, selbst wenn diese nach dem Stand des medizinischen Wissens dringend angezeigt sind und deren Unterlassen zum dauerhaften Verlust der persönlichen Freiheit führen kann. Hat der Betroffene im Zustand der Einsichtsfähigkeit die Ablehnung einer medizinischen Zwangsbehandlung wirksam verfügt, darf sich der Staat deshalb jedenfalls zum Schutz des Betroffenen im Maßregelvollzug über diese Disposition nicht hinwegsetzen. Die Schutzpflicht des Staates tritt gegenüber dem Betroffenen insoweit zurück.
BVerfG: Zweistufige Prüfung der Patientenverfügung nötig
Dies setzt voraus, dass der Betroffene seine Entscheidung mit freiem Willen und im Bewusstsein über ihre Reichweite getroffen hat. Das ist in einer zweistufigen Prüfung zu beantworten: Die Erklärung muss im Zustand der Einsichtsfähigkeit in die Bedeutung ihres Aussagegehalts abgegeben worden sein. Auf der zweiten Stufe ist der Inhalt der Erklärung daraufhin auszulegen, ob dieser hinreichend bestimmt und die konkrete Behandlungssituation von der Reichweite der Erklärung umfasst ist. Liegen die Voraussetzungen für eine bindende Erklärung vor, so ist diese Ausdruck des freien Willens des Erklärenden und schließt eine Zwangsbehandlung, die sich zur Rechtfertigung allein auf den Schutz des Betroffenen selbst stützt, auch im Maßregelvollzug aus. Allerdings ist fortlaufend zu überprüfen, ob die jeweiligen Umstände und Krankheitssituationen noch von der Patientenverfügung gedeckt sind. Die staatliche Pflicht zum Schutz der Grundrechte anderer Personen, die mit dem Betroffenen in der Einrichtung des Maßregelvollzugs in Kontakt treten und daher dessen krankheitsbedingten Übergriffen ausgesetzt sein können, bleibt dabei unberührt. Die autonome Willensentscheidung des Patienten kann nur so weit reichen, wie seine eigenen Rechte betroffen sind. Über Rechte anderer Personen kann er nicht disponieren. Sieht der Gesetzgeber in Wahrnehmung seiner Schutzpflicht die Maßnahme einer Zwangsbehandlung der untergebrachten Person vor, von der die Gefährdung anderer ausgeht, so ist er dabei an den Grundsatz strikter Verhältnismäßigkeit gebunden.
Fachgerichte haben Selbstbestimmungsrecht unzureichend Rechnung getragen
Diesen Maßstäben genügen die angegriffenen Gerichtsentscheidungen nicht. Die Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG durch die medizinischen Zwangsbehandlungen sind nicht gerechtfertigt. Die gesetzliche Grundlage in Art. 6 Abs. 3 und Abs. 4 BayMRVG a. F. (in Bezug auf die vorläufige Unterbringung in Verbindung mit Art. 41 Nr. 3 BayMRVG a. F.) genügt zwar den Anforderungen, die das Grundgesetz an die Zulassung von Zwangsbehandlungen stellt. Die Fachgerichte haben bei der Auslegung und Anwendung der Vorschrift Bedeutung und Tragweite der Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG unzureichend Rechnung getragen. Obwohl sie von einer wirksamen Patientenverfügung ausgingen, haben die Gerichte die Erklärung vom 11. Januar 2015 hinter der staatlichen Pflicht zum Schutz der Gesundheit des Beschwerdeführers und insbesondere zur Herstellung seiner Entlassungsfähigkeit zurücktreten lassen, ohne zu ermessen, inwieweit die Schutzpflicht ihre Grenzen in dessen Selbstbestimmungsrecht als Patient findet.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 04.08.2021
Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)
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