21.11.2024
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Dokument-Nr. 30638

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Bundesverfassungsgericht Beschluss08.06.2021

Teilweise erfolgreiche Verfassungs­beschwerden zu Zwangs­be­hand­lungen bei Patien­ten­ver­fügung im MaßregelvollzugKeine Zwangs­be­hand­lungen im Maßregelvollzug bei Ausschluss durch Patien­ten­ver­fügung

Das Bundes­verfassungs­gericht hat zwei Verfassungs­beschwerden teilweise stattgegeben, die sich gegen gerichtliche Entscheidungen richteten, mit denen die Einwilligung in eine medizinische Zwangs­be­handlung des Beschwer­de­führers in der einstweiligen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sowie im anschließenden Maßregelvollzug erteilt wurde.

Im hier vorliegenden Fall war der Beschwer­de­führer aufgrund einer gerichtlichen Anordnung ab Oktober 2015 zunächst einstweilig und nach Abschluss des Strafverfahrens dauerhaft in einem Bezirks­kran­kenhaus im Maßregelvollzug untergebracht. Bereits im Juni 2005 hatte er in einem Formular erklärt, eine „Patien­ten­ver­fügung“ getroffen zu haben und sie in diesem Dokument zu wiederholen. Er traf insbesondere Anordnungen zu lebens­ver­län­gernden Maßnahmen sowie Fremd­blut­trans­fu­sionen und setzte seine Mutter als bevollmächtigte Vertreterin ein. Mit Datum vom 4. Januar 2015 hatte er seine Mutter nochmals als Bevollmächtigte eingesetzt, die ihn in allen Angelegenheiten vertreten sollte. In einem weiteren Schriftstück vom 11. Januar 2015 erklärte der Beschwer­de­führer, dass er es jedem Arzt, Pfleger (und anderen Personen) verbiete, ihm Neuroleptika in irgendeiner Form gegen seinen Willen zu verabreichen oder ihn dazu zu drängen. Im September 2016 beantragte das Bezirks­kran­kenhaus die Zwangsbehandlung des Beschwer­de­führers, weil er an einer Schizophrenie vom paranoid-hallu­zi­na­to­rischen Typ leide. Die Behandlung sei notwendig, um ihn vor irreversiblen hirnorganischen Gesund­heits­schäden zu bewahren, die bei weiterer Verzögerung des Behand­lungs­beginns mit hoher Wahrschein­lichkeit einträten. In den Jahren 2017 und 2018 erteilten verschiedene Gericht rechtkräftig auf Grundlage der Art. 6 Abs. 4 Satz 1, Abs. 3, Art. 41 Nr. 3 des Gesetzes über den Vollzug der Maßregeln der Besserung und Sicherung sowie der einstweiligen Unterbringung des Freistaates Bayern in der Fassung vom 17. Juli 2015 (BayMRVG a. F.) die Einwilligung, den Beschwer­de­führer mit einem atypischen Neuroleptikum zu behandeln. Der Beschwer­de­führer rügt eine Verletzung seines Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG) und seiner Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Mittelbar richten sich die Verfas­sungs­be­schwerden gegen die die Zwangs­be­handlung betreffende Regelung des Art. 6 Abs. 3 bis 6 BayMRVG a. F. Mittelbar richten sich die Verfas­sungs­be­schwerden gegen die die Zwangs­be­handlung betreffende Regelung des Art. 6 Abs. 3 bis 6 BayMRVG a. F.

Ausschluss im Zustand der Einsichts­fä­higkeit zu beachten

Die Verfas­sungs­be­schwerden haben überwiegend Erfolg. Der in der medizinischen Zwangs­be­handlung einer untergebrachten Person mit Neuroleptika liegende Grund­recht­s­eingriff wiegt dabei besonders schwer. Ungeachtet der besonderen Schwere des mit ihr verbundenen Grund­recht­s­ein­griffs kann die Zwangs­be­handlung einer untergebrachten Person jedoch gerechtfertigt sein. Eine Zwangs­be­handlung zum Schutz der Grundrechte der untergebrachten Person selbst kann jedoch dann nicht gerechtfertigt werden, wenn diese sie im Zustand der Einsichtsfähigkeit wirksam ausgeschlossen hat. Sofern Betroffene mit freiem Willen über medizinische Maßnahmen zur Erhaltung oder Besserung der eigenen Gesundheit entscheiden können, besteht keine Schutz- und Hilfs­be­dürf­tigkeit, die Voraussetzung für eine staatliche Schutzpflicht ist. Der Einzelne ist grundsätzlich frei, über Eingriffe in seine körperliche Integrität und den Umgang mit seiner Gesundheit nach eigenem Ermessen zu entscheiden. Diese Freiheit ist Ausdruck der persönlichen Autonomie des Einzelnen und als solche durch das allgemeine Persön­lich­keitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützt. Dieses Grundrecht verstärkt durch die Inbezugnahme der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG den Gewähr­leis­tungs­gehalt der körperlichen Unversehrtheit zu einer „Freiheit zur Krankheit“ und verleiht ihm dadurch ein besonderes Gewicht. Die Freiheits­grund­rechte schließen das Recht ein, von der Freiheit einen Gebrauch zu machen, der in den Augen Dritter den wohlver­standenen Interessen des Grund­recht­s­trägers zuwiderläuft. Das schließt die „Freiheit zur Krankheit“ und damit das Recht ein, auf Heilung zielende Eingriffe abzulehnen, selbst wenn diese nach dem Stand des medizinischen Wissens dringend angezeigt sind und deren Unterlassen zum dauerhaften Verlust der persönlichen Freiheit führen kann. Hat der Betroffene im Zustand der Einsichts­fä­higkeit die Ablehnung einer medizinischen Zwangs­be­handlung wirksam verfügt, darf sich der Staat deshalb jedenfalls zum Schutz des Betroffenen im Maßregelvollzug über diese Disposition nicht hinwegsetzen. Die Schutzpflicht des Staates tritt gegenüber dem Betroffenen insoweit zurück.

BVerfG: Zweistufige Prüfung der Patien­ten­ver­fügung nötig

Dies setzt voraus, dass der Betroffene seine Entscheidung mit freiem Willen und im Bewusstsein über ihre Reichweite getroffen hat. Das ist in einer zweistufigen Prüfung zu beantworten: Die Erklärung muss im Zustand der Einsichts­fä­higkeit in die Bedeutung ihres Aussagegehalts abgegeben worden sein. Auf der zweiten Stufe ist der Inhalt der Erklärung daraufhin auszulegen, ob dieser hinreichend bestimmt und die konkrete Behand­lungs­si­tuation von der Reichweite der Erklärung umfasst ist. Liegen die Voraussetzungen für eine bindende Erklärung vor, so ist diese Ausdruck des freien Willens des Erklärenden und schließt eine Zwangs­be­handlung, die sich zur Rechtfertigung allein auf den Schutz des Betroffenen selbst stützt, auch im Maßregelvollzug aus. Allerdings ist fortlaufend zu überprüfen, ob die jeweiligen Umstände und Krank­heits­si­tua­tionen noch von der Patientenverfügung gedeckt sind. Die staatliche Pflicht zum Schutz der Grundrechte anderer Personen, die mit dem Betroffenen in der Einrichtung des Maßre­gel­vollzugs in Kontakt treten und daher dessen krank­heits­be­dingten Übergriffen ausgesetzt sein können, bleibt dabei unberührt. Die autonome Willen­s­ent­scheidung des Patienten kann nur so weit reichen, wie seine eigenen Rechte betroffen sind. Über Rechte anderer Personen kann er nicht disponieren. Sieht der Gesetzgeber in Wahrnehmung seiner Schutzpflicht die Maßnahme einer Zwangs­be­handlung der untergebrachten Person vor, von der die Gefährdung anderer ausgeht, so ist er dabei an den Grundsatz strikter Verhält­nis­mä­ßigkeit gebunden.

Fachgerichte haben Selbst­be­stim­mungsrecht unzureichend Rechnung getragen

Diesen Maßstäben genügen die angegriffenen Gericht­s­ent­schei­dungen nicht. Die Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG durch die medizinischen Zwangs­be­hand­lungen sind nicht gerechtfertigt. Die gesetzliche Grundlage in Art. 6 Abs. 3 und Abs. 4 BayMRVG a. F. (in Bezug auf die vorläufige Unterbringung in Verbindung mit Art. 41 Nr. 3 BayMRVG a. F.) genügt zwar den Anforderungen, die das Grundgesetz an die Zulassung von Zwangs­be­hand­lungen stellt. Die Fachgerichte haben bei der Auslegung und Anwendung der Vorschrift Bedeutung und Tragweite der Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG unzureichend Rechnung getragen. Obwohl sie von einer wirksamen Patien­ten­ver­fügung ausgingen, haben die Gerichte die Erklärung vom 11. Januar 2015 hinter der staatlichen Pflicht zum Schutz der Gesundheit des Beschwer­de­führers und insbesondere zur Herstellung seiner Entlas­sungs­fä­higkeit zurücktreten lassen, ohne zu ermessen, inwieweit die Schutzpflicht ihre Grenzen in dessen Selbst­be­stim­mungsrecht als Patient findet.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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