18.10.2024
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Dokument-Nr. 33690

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Bundesverfassungsgericht Beschluss04.12.2023

Teilweise erfolgreiche Verfassungs­beschwerde einer rechtskräftig Verurteilten gegen die Ablehnung einer Wiederaufnahme des StrafverfahrensVerfassungs­beschwerde gegen OLG-Beschluss zulässig und begründet

Das Bundes­verfassungs­gericht hat der Verfassungs­beschwerde einer wegen Mordes rechtskräftig Verurteilten teilweise stattgegeben. Diese wendet sich gegen die fachge­richtliche Ablehnung einer Wiederaufnahme des Strafverfahrens, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Verletzung der Europäischen Menschenrechts­konvention (EMRK) festgestellt hatte.

Die Beschwer­de­führerin wurde wegen Mordes an ihrem damaligen Ehemann zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. An dem Urteil wirkte ein Richter mit, der auch schon an der Verurteilung des ehemaligen Lebensgefährten der Beschwer­de­führerin wegen derselben Tat mitgewirkt hatte. Nachdem der EGMR aufgrund dieser Mitwirkung einen Konventionsverstoß festgestellt hatte, beantragte die Beschwer­de­führerin die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen sie. Das Landgericht lehnte dies ab. Das Oberlan­des­gericht wies die hiergegen erhobene sofortige Beschwerde als unbegründet zurück. Die Beschwer­de­führerin habe nicht dargelegt, dass das Urteil auf dem Konven­ti­o­ns­verstoß beruhe.

Anforderungen an Darle­gungs­pflicht unerfüllbar und unzumutbar

Soweit sich die Verfas­sungs­be­schwerde gegen den Beschluss des OLG richtet, ist sie zulässig und begründet. Das OLG hat den allgemeinen Justi­z­ge­wäh­rungs­an­spruch der Beschwer­de­führerin (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt. Es stellt Anforderungen an die Darlegung, dass das Urteil auf dem festgestellten Konven­ti­o­ns­verstoß beruhe, die im Fall der Beschwer­de­führerin unerfüllbar und unzumutbar sind und damit den Zugang zu einer erneuten Haupt­ver­handlung in einer Weise erschweren, die aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen ist. Das OLG fordert von der Beschwer­de­führerin eine Darlegung dazu, dass sich im Urteil gegen sie Anhaltspunkte für eine Begründung der Besorgnis der Befangenheit finden. Es sei nicht Aufgabe des Wieder­auf­nah­me­ge­richts zu untersuchen, ob in dem umfangreichen Urteil gegen sie Feststellungen getroffen oder im Rahmen der Beweiswürdigung Schlüsse gezogen wurden, die auf einer Vorein­ge­nom­menheit beruhen könnten. Hiermit verlangt das OLG Anhaltspunkte, die in einem Fall wie dem streit­ge­gen­ständ­lichen nicht vorliegen können. Denn in einem Fall der Vorbefassung können sich aus dem späteren Urteil Zweifel an der Unpar­tei­lichkeit des Gerichts dann ergeben, wenn zum einen Indikatoren gegen die Unpar­tei­lichkeit vorliegen und zum anderen solche fehlen, die für sie sprechen.

Nach der Rechtsprechung des EGMR spricht für die Unpar­tei­lichkeit, dass das im Folgeprozess ergangene Urteil keine Verweise oder Bezugnahmen auf die Feststellungen im früheren Urteil enthält. Umgekehrt spricht die Zitierung von Auszügen aus dem früheren Urteil in der späteren Rechtssache gegen die Unpar­tei­lichkeit. Fehlen – wie im vorliegenden Fall – im späteren Urteil gegen die Unpar­tei­lichkeit sprechende Gesichtspunkte, können gleichwohl objektiv begründete Zweifel an der Unpar­tei­lichkeit bestehen, wenn sich dies aus der Prüfung des früheren Urteils ergibt. Wird für die Wiederaufnahme nach § 359 Nr. 6 Straf­pro­zess­ordnung (StPO) dennoch gefordert, trotz der im Urteil des EGMR festgestellten Indikatoren für die Unpar­tei­lichkeit im späteren Urteil dem entge­gen­stehende gegen sie sprechende Anhaltspunkte in eben diesem Urteil darzulegen, wird Unmögliches verlangt. Denn beides schließt sich gegenseitig aus. Enthält ein Urteil keine Verweise oder Bezugnahmen auf Feststellungen im früheren Urteil und beruht es auf einer eigenständigen Beweiserhebung und Beweiswürdigung, können Auszüge aus dem früheren Urteil oder Bezugnahmen auf seine Feststellungen ohne eigene Beweiserhebung und Beweiswürdigung im späteren nicht enthalten sein. Jedenfalls ist eine solche Darlegung unzumutbar. Denn es ist nicht erkennbar, welche hiervon unabhängigen Anhaltspunkte gegen die Unpar­tei­lichkeit gemeint sein könnten, wenn die in der Rechtsprechung des EGMR entwickelten Indikatoren im späteren Urteil gerade nicht vorliegen. In der Sache verkennt das OLG, dass der vom EGMR festgestellte Konven­ti­o­ns­verstoß nicht darin liegt, dass (möglicherweise) ein tatsächlich vorein­ge­nommener Richter an dem gegen die Beschwer­de­führerin geführten Verfahren und an der gegen sie ergangenen Entscheidung beteiligt war, sondern darin, dass ein Richter mitgewirkt hat, bezüglich dessen Unvor­ein­ge­nom­menheit bei objektiver Betrachtung aus Sicht der Beschwer­de­führerin gerechtfertigte Zweifel bestanden. Dieser Konven­ti­o­ns­verstoß wirkte sich bereits in der Einflussnahme dieses Richters im gegen die Beschwer­de­führerin geführten Verfahren als solcher und nicht nur dann aus, wenn eine etwaige Vorein­ge­nom­menheit in der Entscheidung ihren Niederschlag gefunden hätte.

OLG-Entscheidung "aus Sachgründen nicht zu rechtfertigen"

Die vom OLG aufgestellten Anforderungen sind auch sachlich nicht gerechtfertigt. Wegen der Bedeutung der Rechtskraft ist die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens grundsätzlich nur unter engen Voraussetzungen möglich ist. Dies rechtfertigt jedoch keine Auslegung, durch die bestimmte Fälle, in denen ein Verstoß gegen die EMRK festgestellt wurde, schon dem Grunde nach von einer Wiederaufnahme gemäß § 359 Nr. 6 StPO ausgeschlossen sind. Das wäre indes die Folge der unerfüllbaren Darle­gungs­an­for­de­rungen der Fachgerichte. Sie lassen die Wiederaufnahme schon dem Grunde nach nicht zu, wenn im Fall der Vorbefassung eines Richters der EGMR einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen objektiv begründeter Zweifel an der Unpar­tei­lichkeit des Gerichts allein auf Anhaltspunkte im früheren Urteil stützt. Der Gesetzgeber hat mit § 359 Nr. 6 StPO die Möglichkeit zur Korrektur eines Verstoßes gegen die EMRK geschaffen. Das Beruhen­s­er­for­dernis schließt dabei die Wiederaufnahme in den Fällen aus, in denen sich ein Konven­ti­o­ns­verstoß nicht ausgewirkt hat. Dies darf aber nicht dazu führen, dass bestimmte, in der Rechtsprechung des EGMR anerkannte Konstellationen einer Verletzung der EMRK von vorneherein ausgeschlossen sind. Andernfalls bestünde ein Wertungs­wi­der­spruch zu den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen, die aus einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG folgen. Verlangt Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, dass bei fehlerhafter Besetzung des Gerichts Strafurteile aufgehoben werden – was im Rahmen der Revision gemäß § 338 Nr. 3 StPO gerügt und gegebenenfalls erreicht werden kann –, kann eine gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßende Besetzung des Gerichts nicht weniger schwer wiegen. Dies ist auch bei der Auslegung und Anwendung des § 359 Nr. 6 StPO zu berücksichtigen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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