18.10.2024
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Dokument-Nr. 34045

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Bundesverfassungsgericht Beschluss21.05.2024

Bundes­verfassungs­gericht stoppt Auslieferung in die Türkei wegen Gesundheits­problemenVerfassungs­beschwerde eines türkischen Staats­an­ge­hörigen gegen seine Auslieferung in die Türkei überwiegend erfolgreich

Das Bundes­verfassungs­gericht hat der Verfassungs­beschwerde eines türkischen Staats­an­ge­hörigen gegen seine Auslieferung in die Türkei überwiegend stattgegeben.

Dem Auslie­fe­rungs­ver­fahren liegen insgesamt vier Verurteilungen des Beschwer­de­führers in der Türkei zugrunde. Gegen ihn wurde eine mehrjährige Gesamt­frei­heits­strafe festgelegt. Die Türkei ersuchte die deutschen Behörden um Auslieferung des Beschwer­de­führers, das OLG ordnete die Auslie­fe­rungshaft an. Der Beschwer­de­führer, der sich zu dieser Zeit wegen einer Verurteilung in anderer Sache im Maßre­ge­lungs­vollzug befand, unternahm einen Suizidversuch. In einem Schreiben vom Februar 2023 führten der Ärztliche Direktor und die stell­ver­tretende Ärztliche Direktorin des Maßre­gel­voll­zugs­zentrums aus, der Beschwer­de­führer sei nicht ausreichend von seiner Suizidalität distanziert, was an den äußeren Umständen der drohenden „Abschiebung“ und Haft in der Türkei liege. Nach der Entlassung des Beschwer­de­führers aus dem Maßre­ge­lungs­vollzug wurde der Auslie­fe­rungs­haft­befehl in Vollzug gesetzt und der Beschwer­de­führer inhaftiert. Das OLG erklärte die Auslieferung für zulässig. Insbesondere stehe seine Suizidalität der Auslieferung nicht entgegen. Die Haftanstalt Yalvaç verfüge über einen festan­ge­stellten Psychologen. Damit könne suizidalen Tendenzen ausreichend belastbar entgegengewirkt werden. In der Folgezeit übersandte der Beschwer­de­führer dem OLG zwei weitere ärztliche Stellungnahmen. In der Stellungnahme des Anstaltsarztes der Justiz­voll­zugs­anstalt wird dringend von einer „Abschiebung“ in die Türkei abgeraten. Der Beschwer­de­führer bedürfe im Nachgang zu seinem Suizidversuch der täglichen medizinischen Behandlung. Diese spezifische Behandlung sei in der Türkei nicht durchführbar. Die Stellungnahme eines Facharztes für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Suchtmedizin kommt zu dem Ergebnis, der Beschwer­de­führer sei nicht reise- beziehungsweise trans­port­tauglich. Mit angegriffenem Beschluss erklärte das OLG die Auslieferung des Beschwer­de­führers an die Türkei für zulässig. Was die fortbestehende Suizidalität des Beschwer­de­führers angehe, hätten die türkischen Behörden den Umfang einer psychologischen Betreuung Inhaftierter in der Türkei dargelegt. Daraus folgten insbesondere ein Programm zur Suizid- und Selbst­ver­let­zungs­prä­vention und die Möglichkeit des Gesprächs mit einem festan­ge­stellten Psychologen in der Haftanstalt Yalvaç. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwer­de­führer unter anderem gegen die Beschlüsse des OLG. Er sieht sich insbesondere in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletzt.

OLG-Entscheidung stellt Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz dar

Nach Überzeugung des BVerfG ist die Verfas­sungs­be­schwerde "offensichtlich begründet". Die Beschlüsse verletzen den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Im Rahmen des gerichtlichen Zuläs­sig­keits­ver­fahrens im Vorgriff auf eine Auslieferung sind die Gerichte verpflichtet, den entschei­dungs­er­heb­lichen Sachverhalt aufzuklären und etwaige Auslie­fe­rungs­hin­dernisse in hinreichender Weise, also in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig, zu prüfen. Die Gründe, aus denen das OLG nach Vorlage der ärztlichen Stellungnahmen offenbar davon ausgegangen ist, dass es seinen Aufklärungs- und Prüfungs­pflichten genügt habe, werden den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen nicht gerecht. Gerade vor dem Hintergrund des bereits durchgeführten Suizidversuchs des Beschwer­de­führers bleibt offen, weshalb das OLG von der Hinzuziehung eines Sachver­ständigen abgesehen hat. Die vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen enthielten gewichtige Gründe im Sinne der Rechtsprechung des EGMR für die Annahme, dass im Falle der Durchführung der Auslieferung tatsächlich die Gefahr eines erneuten Suizidversuchs bestehe. Selbst wenn - wie das OLG ausführt - das fachärztliche Gutachten Tendenzen eines „Gefäl­lig­keits­gut­achtens“ aufweist, genügt die Zurückweisung der dortigen Erkenntnisse den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen nicht. Denn auch der Anstaltsarzt der Justiz­voll­zugs­anstalt sowie der Ärztliche Direktor des Maßre­gel­voll­zugs­zentrums und seine Stell­ver­treterin beurteilten das Risiko eines erneuten Suizidversuchs aus fachlicher Sicht als hoch und rieten von einer „Abschiebung“ des Beschwer­de­führers in die Türkei dringend ab.

Unzureichende Sachaufklärung

Soweit das OLG wiederholt auf die Möglichkeit der psychologischen Betreuung in der Justiz­voll­zugs­anstalt Yalvaç verweist, bleibt schon ungeklärt, ob dies für eine adäquate Behandlung des suizidalen Beschwer­de­führers genügt. Es erscheint zweifelhaft, ob ein einziger Psychologe, der für sämtliche Häftlinge in der Haftanstalt Yalvaç verantwortlich ist, allein die zeitlichen Kapazitäten hat, den Beschwer­de­führer adäquat zu betreuen. Der pauschale Verweis hierauf ist jedenfalls aufgrund der Vorgeschichte im Fall des Beschwer­de­führers nicht ausreichend. Überdies übersieht das Gericht, dass die Suizidgefahr nicht nur nach einer erfolgten Auslieferung, sondern gerade auch während des Transports bestehen kann. Unter Berück­sich­tigung dieser Umstände und angesichts der eindringlichen Warnung von insgesamt vier Ärzten hätte sich das OLG veranlasst sehen müssen, zumindest aufzuklären, ob und wie während des Transports die Verhinderung eines erneuten Suizidversuchs sichergestellt werden könne, oder - bei fortbestehenden Zweifeln an der Tragfähigkeit der ärztlichen Stellungnahmen - ein Sachver­stän­di­gen­gut­achten zur Transport- und Haftfähigkeit des Beschwer­de­führers einholen müssen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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