21.11.2024
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Dokument-Nr. 32063

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Bundesverfassungsgericht Beschluss22.07.2022

Erfolgreiche Verfassungs­beschwerde gegen beaufsichtigte Drogen­s­creenings mittels Urinkontrollen in Justiz­vollzugs­anstaltLandgericht muss den Fall nun noch einmal beurteilen

Das Bundes­verfassungs­gericht hat einer Verfassungs­beschwerde stattgegeben, die sich gegen fachge­richtliche Entscheidungen richtet, mit denen der inhaftierte Beschwer­de­führer bei mehreren zur Feststellung eines Sucht­mit­tel­konsums durchgeführten Urinkontrollen zur Entblößung seines Genitals verpflichtet wurde. Die Urinkontrollen fanden jeweils unter der Aufsicht eines gleich­geschlecht­lichen Justiz­vollzugs­bediensteten statt. Die angegriffene Entscheidung des Landgerichts verletzt den Beschwer­de­führer in seinem aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) folgenden allgemeinen Persönlichkeits­recht; die angegriffene Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts verletzt den Beschwer­de­führer in seinen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 GG. Sie werden aufgehoben und die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.

Um Sucht­mit­tel­miss­brauch im Strafvollzug zu unterbinden, hatte eine JVA regelmäßig allgemeine Drogen­s­creenings durch Urinkontrollen angeordnet und durch gleich­ge­schlechtliche Bedienstete des allgemeinen Vollzugs­dienstes durchgeführt. Um Manipulationen oder Täuschungs­hand­lungen, wie die Verwendung von Fremdurin, möglichst auszuschließen, erfolgten die Urinabgaben unter Aufsicht. Auch beim Beschwer­de­führer wurden in der Zeit vom 24. November bis zum 28. Dezember 2020 vier beaufsichtigte Urinkontrollen durchgeführt, bei denen der anwesende Justiz­voll­zugs­be­dienstete während der Abgabe der Urinprobe jeweils einen freien Blick auf das entkleidete Genital des Beschwer­de­führers hatte. Anfang Januar 2021 beantragte der Beschwer­de­führer eine gerichtliche Entscheidung. Er begehrte, dass zukünftig Feststellungen zum Sucht­mit­tel­konsum durch eine Blutentnahme aus der Fingerbeere erfolgen sollten. Zudem beantragte er die Feststellung, dass die durchgeführten Urinabgaben unter Sichtkontrolle rechtswidrig gewesen seien. Die vier Urinproben innerhalb von gut vier Wochen hätten sein Schamgefühl erheblich verletzt und massiv in seine Intimsphäre eingegriffen. Die Justizvollzugsanstalt entgegnete, dass der erste Antrag auf gerichtliche Entscheidung unzulässig sei, weil zuvor kein entsprechender Antrag bei ihr gestellt worden sei. Der zweite Antrag sei unbegründet. Rechtsgrundlage der Urinkontrollen sei § 65 Abs. 1 des Straf­voll­zugs­ge­setzes des Landes Nordrhein-Westfalen (StVollzG NRW). Diese dienten der Feststellung des Sucht­mit­tel­miss­brauchs. Um Manipulationen oder Täuschungs­hand­lungen, namentlich die Verwendung von Fremdurin, möglichst auszuschließen, sei eine Urinabgabe unter Aufsicht erforderlich.

Anträge vor Insta­nz­ge­richten ohne Erfolg

Das Landgericht verwarf den ersten Antrag als unzulässig und den zweiten Antrag als unbegründet. Die Urinkontrollen seien rechtmäßig erfolgt. Die Maßnahme berühre nicht nur die gesund­heit­lichen Belange eines Gefangenen und seine Resozi­a­li­sierung, sondern auch die Sicherheit des Strafvollzugs. Weiterhin ergebe sich aus § 65 StVollzG NRW keine Pflicht, eine andere Form der Kontrolle anzubieten. Andere Maßnahmen, die Manipulationen ausschließen würden, wären mit körperlichen Untersuchungen verbunden, welche einen wesentlich gravierenderen Eingriff in das allgemeine Persön­lich­keitsrecht darstellten. Die gegen den Beschluss des Landgerichts erhobene Rechts­be­schwerde des Beschwer­de­führers verwarf das Oberlan­des­gericht als unzulässig. In Bezug auf den Verpflich­tungs­antrag (Antrag zu 1.) sei die Rechts­be­schwerde unzulässig, weil kein zulässiger Antrag auf gerichtliche Entscheidung vorgelegen habe. Im Hinblick auf den Feststel­lungs­antrag (Antrag zu 2.) sei es nicht geboten, die Nachprüfung des angefochtenen Beschlusses zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwer­de­führer insbesondere eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG.

Verletzung des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts

Die zulässige Verfas­sungs­be­schwerde ist offensichtlich begründet. Der angegriffene Beschluss des Landgerichts vom 11. März 2021 verletzt den Beschwer­de­führer in seinem aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgenden allgemeinen Persön­lich­keitsrecht. Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts sind grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte, unterliegen aber der verfas­sungs­ge­richt­lichen Prüfung daraufhin, ob sie die Grenze zur Willkür überschreiten oder die Bedeutung eines Grundrechts grundsätzlich verkennen. Grundrechte dürfen nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes und nur unter Beachtung des Grundsatzes der Verhält­nis­mä­ßigkeit eingeschränkt werden; dies gilt auch für Grundrechte von Gefangenen. Staatliche Maßnahmen, die mit einer Entkleidung verbunden sind, stellen einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persön­lich­keitsrecht dar. Eingriffe, die den Intimbereich und das Schamgefühl des Inhaftierten berühren, lassen sich im Haftvollzug zwar nicht immer vermeiden. Sie sind aber von besonderem Gewicht. Der Gefangene hat insoweit Anspruch auf besondere Rücksichtnahme. Diesen Maßstäben wird der angegriffene Beschluss des Landgerichts nicht gerecht. Die durch das Landgericht vorgenommene Auslegung der Tatbe­stands­merkmale der Rechtsgrundlage (§ 65 StVollzG NRW) sowie die gerichtliche Überprüfung der durch die Justiz­voll­zugs­anstalt vorgenommenen Abwägung auf Ermessensfehler beruhen auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts des Beschwer­de­führers. Es ist bereits fraglich, ob die von der Justiz­voll­zugs­anstalt auf § 65 StVollzG NRW gestützte Urinkontrolle aufgrund des damit einhergehenden schwerwiegenden Eingriffs in das allgemeine Persön­lich­keitsrecht auch ohne konkreten Verdacht des Drogen­miss­brauchs des betroffenen Gefangenen angeordnet werden kann. Diese Frage kann vorliegend offen bleiben. Denn das Landgericht hat bei der vorgenommenen Auslegung der Tatbe­stands­merkmale bereits nicht berücksichtigt, dass § 65 StVollzG NRW speziell Maßnahmen „zur Aufrecht­er­haltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt“ ermöglicht. Für Maßnahmen zum Gesund­heits­schutz des Gefangenen sehen hingegen sowohl das Straf­voll­zugs­gesetz (des Bundes) als auch das Straf­voll­zugs­gesetz des Landes Nordrhein-Westfalen eine eigenständige Rechtsgrundlage vor (vgl. § 56 StVollzG, § 43 StVollzG NRW). So hätte sich das Landgericht insbesondere bei der umstrittenen Frage, ob beaufsichtigte Urinkontrollen auch anlasslos angeordnet werden können, damit ausein­an­der­setzen müssen, ob diese unter Berück­sich­tigung des damit verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in das allgemeine Persön­lich­keitsrecht „zur Aufrecht­er­haltung der Sicherheit oder Ordnung“ (so die von der Justiz­voll­zugs­anstalt herangezogene spezielle Rechtsgrundlage für Sucht­mit­tel­kon­trollen nach § 65 StVollzG NRW) gerechtfertigt sein können. Die vom Landgericht insoweit nicht diffe­ren­zierende Abwägung lässt eine Unterscheidung der genannten Rechts­grundlagen nicht erkennen. Unter Berück­sich­tigung des schwerwiegenden Eingriffs in das allgemeine Persön­lich­keitsrecht, der die Intimsphäre berührt, kann die dieses Grundrecht einschränkende Rechtsgrundlage aber nicht dahinstehen.

Punktion der Fingerbeere als alternative Testmöglichkeit nicht geprüft

Darüber hinaus hat das Landgericht nicht beachtet, dass § 65 Abs. 1 Satz 2 StVollzG NRW im September 2017 dahingehend geändert wurde, dass die Maßnahme mit einem geringfügigen Eingriff, namentlich einer Punktion der Fingerbeere zur Abnahme einer geringen Menge von Kapillarblut, verbunden sein darf, wenn der Gefangene einwilligt. Mit Blick auf die dadurch ausdrücklich ermöglichte alternative Testmöglichkeit kommt es nicht mehr darauf an, ob als milderes Mittel auch eine vorherige Durchsuchung des Gefangenen mit dessen Einverständnis in Betracht kommt. Das Landgericht hat nicht geprüft, ob die Justiz­voll­zugs­anstalt als milderes Mittel statt einer beobachteten Urinkontrolle die Kontrolle durch Punktion der Fingerbeere zur Abnahme einer geringen Menge von Kapillarblut hätte anbieten müssen. Die vom Landgericht nicht näher erläuterte Annahme, dass andere Maßnahmen, die eine Manipulation ausschließen, körperliche Untersuchungen voraussetzen würden, welche einen wesentlich gravierenderen Eingriff in das allgemeine Persön­lich­keitsrecht darstellten, ist unter Berück­sich­tigung des ausdrücklich erklärten Einver­ständ­nisses des Beschwer­de­führers mit einer Punktion der Fingerbeere nicht nachvollziehbar. So wiegt der die Intimsphäre berührende Eingriff in das allgemeine Persön­lich­keitsrecht bei beaufsichtigten, mit Entkleidung verbundenen Urinkontrollen in der Regel deutlich schwerer als der mit einer (einver­ständ­lichen) Punktion der Fingerbeere verbundene Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Gefangenen. Da die Justiz­voll­zugs­anstalt bei Anordnung grund­recht­s­ein­schrän­kender Maßnahmen von Amts wegen zu prüfen hat, ob diese die Verhält­nis­mä­ßigkeit wahren, also kein milderes Mittel zur Wahrung der Sicher­heits­in­teressen in Betracht kommt, steht dem auch nicht entgegen, dass der Beschwer­de­führer vor Anordnung der ersten Urinkontrolle keinen ausdrücklichen Antrag gestellt hat, die Kontrolle mittels Punktion der Fingerbeere durchzuführen. Schließlich hat es das Landgericht versäumt, innerhalb der Verhält­nis­mä­ßig­keits­prüfung zu berücksichtigen, dass auch die angeordnete Frequenz der Kontrollen nicht angemessen gewesen sein könnte. So erfordert ein gerechter Ausgleich zwischen dem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht, insbesondere der Wahrung der Intimsphäre des Gefangenen, und dem Sicher­heits­in­teresse der Vollzugsanstalt auch die Prüfung, in welcher Frequenz einzelne beobachtete Urinkontrollen zur Sucht­mit­tel­prä­vention angeordnet werden dürfen.

Auch Verfas­sungs­be­schwerde gegen OLG-Beschluss offensichtlich begründet

Die Verfas­sungs­be­schwerde ist auch hinsichtlich des angegriffenen Beschlusses des Oberlan­des­ge­richts offensichtlich begründet. Dieser Beschluss verletzt den Beschwer­de­führer in seinen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 GG. § 119 Abs. 3 StVollzG erlaubt, von einer Begründung der Rechts­be­schwer­de­ent­scheidung abzusehen, wenn das Oberlan­des­gericht die Beschwerde für unzulässig oder offensichtlich unbegründet erachtet, was der Senat hinsichtlich des Feststel­lungs­be­gehrens des Beschwer­de­führers vorliegend getan hat. Dies ist verfas­sungs­rechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden. Daraus folgt jedoch nicht, dass sich der Beschluss selbst verfas­sungs­recht­licher Prüfung entzöge oder die Maßstäbe der Prüfung zu lockern wären. Vielmehr ist in einem solchen Fall die Entscheidung bereits dann aufzuheben, wenn an ihrer Vereinbarkeit mit Grundrechten des Beschwer­de­führers erhebliche Zweifel bestehen. Dies ist angesichts der inhaltlichen Abweichung der Entschei­dungs­gründe des Landgerichts von der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hier der Fall.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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