18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss12.11.2020

Bußgeld­ver­fahren bei Geschwin­digkeits­verstoß: Betroffene haben Anspruch auf Einsicht in RohmessdatenBundes­verfassungs­gericht stärkt Verfah­rens­rechte in Bußgeld­ver­fahren

Das Bundes­verfassungs­gericht hat mit Beschluss vom 12.11.2020 die Verfah­rens­rechte Betroffener in gegen sie geführten Bußgeld­ver­fahren wegen Geschwin­digkeits­überschreitung gestärkt. Danach erstreckt sich das Recht auf Akteneinsicht auch auf Rohmessdaten, die sich außerhalb der eigentlichen Bußgeldakte befinden. Mit diesen Informationen haben Betroffene deutlich bessere Möglichkeiten, die Rechtmäßigkeit eines gegen sie ergangenen Bußgeld­be­scheids zu überprüfen.

Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat mit ihrer Entscheidung einer Verfas­sungs­be­schwerde stattgegeben, die den Zugang des Betroffenen im Bußgeld­ver­fahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung zu Informationen betrifft, die nicht Teil der Bußgeldakte waren. Der Beschwer­de­führer begehrte zunächst im Rahmen des behördlichen Bußgeld­ver­fahrens erfolglos Zugang zu Informationen, unter anderem der Lebensakte des verwendeten Messgeräts, dem Eichschein und den sogenannten Rohmessdaten, die sich nicht in der Bußgeldakte befanden. Der gegen den anschließend erlassenen Bußgeldbescheid eingelegte Einspruch blieb vor den Fachgerichten erfolglos. Der begehrte Zugang zu den Informationen wurde dem Beschwer­de­führer auch von den Fachgerichten vor seiner Verurteilung nicht gewährt. Die Entscheidungen der Fachgerichte verletzen den Beschwer­de­führer in seinem Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

Autofahrer verlangte im Bußgeld­ver­fahren Einsicht in Lebensakte und Rohmessdaten des Messgeräts

Der Beschwer­de­führer beantragte im Rahmen eines Bußgeld­ver­fahrens wegen einer Geschwin­dig­keits­über­schreitung Einsicht insbesondere in die gesamte Verfahrensakte, die Lebensakte des Messgerätes, die Bedie­nungs­an­leitung des Herstellers, die Rohmessdaten der gegen­ständ­lichen Messung und in den Eichschein des verwendeten Messgerätes. Die Bußgeldstelle gewährte daraufhin Einsicht in die Bußgeldakte, die neben dem Messprotokoll und dem Messergebnis auch den Eichschein des eingesetzten Messgerätes enthielt. Die Bedie­nungs­an­leitung zu dem verwendeten Messgerät wurde dem Beschwer­de­führer als Datei auf der Internetseite der Bußgeldstelle zugänglich gemacht. Bezüglich der übrigen angefragten Informationen teilte die Behörde mit, dass diese nicht Bestandteil der Ermittlungsakte seien und nur auf gerichtliche Anordnung vorgelegt würden.

Amtsgericht verweigerte Akten­ein­sichts­an­spruch mit pauschalem Verweis auf Richtigkeit des Messverfahrens

Gegen den anschließend erlassenen Bußgeldbescheid legte der Beschwer­de­führer Einspruch ein und wiederholte sein Gesuch. Einen Antrag des Beschwer­de­führers auf gerichtliche Entscheidung verwarf das Amtsgericht als unzulässig, da der Beschwer­de­führer nicht mehr beschwert sei. Aufgrund des Einspruchs werde nunmehr im gerichtlichen Bußgeld­ver­fahren eine umfassende Prüfung erfolgen, ob der Beschwer­de­führer die ihm vorgeworfene Straßen­ver­kehrs­ord­nungs­wid­rigkeit tatsächlich begangen habe.

In der Haupt­ver­handlung wies das Amtsgericht die Anträge des Beschwer­de­führers auf Aussetzung der Haupt­ver­handlung und gerichtliche Entscheidung gemäß § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 238 Abs. 2 StPO zurück, verurteilte ihn wegen Überschreitung der zulässigen Höchst­ge­schwin­digkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 30 km/h zu einer Geldbuße und erteilte ihm ein einmonatiges Fahrverbot. Der begehrte Zugang zu den Informationen wurde dem Beschwer­de­führer zuvor nicht gewährt. Das Amtsgericht führte zur Begründung der Verurteilung aus, bei einer Geschwindigkeitsmessung mit dem zum Einsatz gekommenen Messgerät handele es sich um ein sogenanntes standa­r­di­siertes Messverfahren. Das Gerät sei geeicht gewesen und durch geschultes Personal entsprechend den Vorgaben der Bedie­nungs­an­leitung des Herstellers eingesetzt worden. Die Richtigkeit des gemessenen Geschwin­dig­keitswerts sei damit indiziert. Konkrete Anhaltspunkte, die geeignet wären, Zweifel an der Funkti­o­ns­tüch­tigkeit oder der sachgerechten Handhabung des Messgeräts und deshalb an der Richtigkeit des Messergebnisses zu begründen, seien im Rahmen der Haupt­ver­handlung nicht entstanden und auch im Vorfeld vom Beschwer­de­führer nicht vorgetragen worden. Das Oberlan­des­gericht Bamberg verwarf die dagegen eingelegte Rechts­be­schwerde und führte unter anderem aus, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens nicht vorliege, da es allein um eine Frage der gerichtlichen Aufklä­rungs­pflicht gehe. Der Betroffene habe im Verfahren ausreichende prozessuale Möglichkeiten, sich aktiv an der Wahrheits­findung zu beteiligen. Eine Beiziehung von Beweismitteln oder Unterlagen sei allerdings unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt geboten.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht sieht Recht des Beschwer­de­führers auf faires Verfahren verletzt

Mit seiner Verfas­sungs­be­schwerde hat der Beschwer­de­führer unter anderem eine Verletzung seines aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Rechts auf ein faires Verfahren durch die Fachgerichte gerügt. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht gab ihm in seiner Entscheidung Recht. Das Gericht führte wie folgt aus:

Die zulässige Verfas­sungs­be­schwerde ist begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwer­de­führer in seinem aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Recht auf ein faires Verfahren.

Von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden ist, dass die Fachgerichte von einer reduzierten Sachver­halts­auf­klärungs- und Darle­gungs­pflicht im Fall eines standa­r­di­sierten Messverfahrens ausgegangen sind.

Bei diesen Messverfahren sind nach der Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs geringere Anforderungen an die Beweisführung und die Urteils­fest­stel­lungen der Fachgerichte zu stellen. Bestehen keine Bedenken gegen die Richtigkeit des Messergebnisses, genügt deshalb zum Nachweis eines Geschwin­dig­keits­ver­stoßes grundsätzlich die Mitteilung des eingesetzten Messverfahrens, der ermittelten Geschwindigkeit nach Abzug der Toleranz und des berück­sich­tigten Toleranzwertes.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht bestätigt grundsätzlich die Verwendung standa­r­di­sierter Messverfahren bei Verkehrs­ord­nungs­wid­rig­keiten

Bei standa­r­di­sierten Messverfahren sind daher im Regelfall - ohne konkrete Anhaltspunkte für eventuelle Messfehler - die Feststellungs- und Darle­gungs­pflichten des Tatgerichts reduziert. Dem Betroffenen bleibt aber die Möglichkeit eröffnet, das Tatgericht auf Zweifel aufmerksam zu machen und einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen. Hierfür muss er konkrete Anhaltspunkte für technische Fehlfunktionen des Messgerätes vortragen. Die bloße Behauptung, die Messung sei fehlerhaft, begründet für das Gericht keine Pflicht zur Aufklärung.

Diese Vorgehensweise der Fachgerichte im Ordnungswidrigkeitenverfahren ist nicht zu beanstanden. Hierdurch wird gewährleistet, dass bei massenhaft vorkommenden Verkehrs­ord­nungs­wid­rig­keiten nicht bei jedem einzelnen Bußgeld­ver­fahren anlasslos die technische Richtigkeit einer Messung jeweils neu überprüft werden muss. Dem geringeren Unrechtsgehalt der Ordnungs­wid­rig­keiten gerade im Bereich von massenhaft vorkommenden Verkehrs­ver­stößen kann durch Vereinfachungen des Verfahrensgangs Rechnung getragen werden.

Betroffene müssen jedoch auch bei standa­r­di­sierten Messverfahren Möglichkeit der Prüfung der gemessenen Daten haben

Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt grundsätzlich auch im Ordnungs­wid­rig­kei­ten­ver­fahren das Recht, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden. Wenn der Betroffene Zugang zu Informationen begehrt, die sich außerhalb der Gerichtsakte befinden, um sich Gewissheit über seiner Entlastung dienende Tatsachen zu verschaffen, ist ihm dieser Zugang grundsätzlich zu gewähren. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen unbegrenzt gilt. Gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungs­wid­rig­keiten ist in Hinblick auf die Funkti­o­ns­tüch­tigkeit der Rechtspflege eine sachgerechte Eingrenzung des Infor­ma­ti­o­ns­zugangs geboten. Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungs­wid­rig­kei­ten­vorwurf stehen und zum anderen eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen, um eine uferlose Ausforschung, erhebliche Verfah­rens­ver­zö­ge­rungen und Rechts­miss­brauch zu verhindern. Insofern ist maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen beziehungsweise seines Verteidigers abzustellen. Entscheidend ist, ob dieser eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungs­wid­rig­kei­ten­vorwurfs für bedeutsam halten darf.

Recht auf Infor­ma­ti­o­ns­zugang steht nicht in Widerspruch zur Rechtsprechung zu standa­r­di­sierten Messverfahren

Durch die Gewährung eines solchen Infor­ma­ti­o­ns­zugangs wird der Rechtsprechung zu standa­r­di­sierten Messverfahren nicht die Grundlage entzogen. Zwar steht dem Betroffenen ein Zugangsrecht vom Beginn bis zum Abschluss des Verfahrens zu. Er kann sich mit den Erkenntnissen aus dem Zugang zu weiteren Informationen aber nur erfolgreich verteidigen, wenn er diesen rechtzeitig im Bußgeld­ver­fahren begehrt. Solange sich aus der Überprüfung der Informationen keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für die Fehler­haf­tigkeit des Messergebnisses ergeben, bleiben die Aufklärungs- und Feststel­lungs­pflichten der Fachgerichte nach den Grundsätzen des standa­r­di­sierten Messverfahrens reduziert. Ermittelt der Betroffene indes konkrete Anhaltspunkte für eine Fehler­haf­tigkeit des Messergebnisses, hat das Gericht zu entscheiden, ob es sich - gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachver­ständigen - dennoch von dem Geschwindigkeitsverstoß überzeugen kann. Im Übrigen bleiben die Möglichkeiten zur Ablehnung von Beweisanträgen aus § 77 Abs. 2 OWiG unberührt.

Recht auf eigenständige Überprüfung des Messvorgangs im Bußgeld­ver­fahren

In dem Verfahren des Beschwer­de­führers haben die Fachgerichte bereits verkannt, dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren für den Beschwer­de­führer grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen folgt. Entgegen der Annahme der Fachgerichte kam es dem Beschwer­de­führer insbesondere auch nicht auf die Erweiterung des Aktenbestandes oder der gerichtlichen Aufklä­rungs­pflicht an. Vielmehr ging es ihm um die Möglichkeit einer eigenständigen Überprüfung des Messvorgangs, um - gegebenenfalls - bei Anhaltspunkten für die Fehler­haf­tigkeit des Messergebnisses die Annahme des standa­r­di­sierten Messverfahrens erschüttern zu können.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/we)

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