21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss16.09.2010

BVerfG: Verfas­sungs­be­schwerde gegen die Anordnung der Festhaltung eines ausländischen Strafverfolgten im Rahmen internationaler Rechtshilfe erfolgreichVerletzung des Freiheits­grund­rechts in Verbindung mit Rechtsgarantien bei Freiheits­ent­ziehung

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat eine Verfas­sungs­be­schwerde gegen die Anordnung der Festhaltung eines türkischen Strafverfolgten im Rahmen der internationalen Rechtshilfe für zulässig erklärt, da die Inhaf­tie­rungs­a­n­ordnung eine Verletzung des Grundrechts auf persönliche Freiheit darstellt.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Falls, ein türkischer Staats­an­ge­höriger kurdischer Volks­zu­ge­hö­rigkeit, reiste im Jahre 2003 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Zur Begründung seines Asylantrags trug er im Wesentlichen vor, aufgrund seiner Aktivitäten als Mitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) von den türkischen Behörden gefoltert und zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden zu sein. Durch die deutschen Behörden wurde zunächst festgestellt, dass in der Person des Beschwer­de­führers die Voraussetzungen eines Abschie­be­verbots wegen politischer Verfolgung vorliegen, und später auch seine Asylbe­rech­tigung anerkannt.

Sachverhalt

Im September 2006 wurde der Beschwer­de­führer aufgrund eines türkischen Festnah­me­er­suchens, ausweislich dessen er an Bomben­an­schlägen und Tötungsdelikten in der Türkei beteiligt gewesen sein soll, in Deutschland festgenommen und dem Amtsgericht vorgeführt. Nach einem von dort eingeholten Bericht des Landes­kri­mi­nalamtes ist bei dem Beschwer­de­führer ein posttrau­ma­tisches, ggf. auch hirnorganisches Psychosyndrom nach langer Haft, Folter und Hungerstreik ärztlich diagnostiziert worden, aufgrund dessen bei längerer Haft mit schweren psychischen Krisen bei ihm zu rechnen und eine Fluchtgefahr eher unwahr­scheinlich sei. Nach Anhörung des Beschwer­de­führers ersuchte das Amtsgericht mit nicht unterzeichnetem formularmäßigem Schreiben ohne Begründung die Justiz­voll­zugs­anstalt um Aufnahme des Beschwer­de­führers zum Vollzug und ordnete mit Beschluss die ärztliche Begutachtung zur Feststellung seiner Haftfähigkeit an. Der Beschwer­de­führer wurde sechs Tage später aus der Haft entlassen, nachdem seine Haftunfähigkeit ärztlich festgestellt worden war. Mit Beschluss vom Juni 2007 lehnte das Kammergericht seine Anträge auf Gewährung einer Haftent­schä­digung und Feststellung der Rechts­wid­rigkeit seiner Inhaftierung ab.

Beschwer­de­führer sieht sich durch Inhaftierung in Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt

Der Beschwer­de­führer sieht sich durch die Inhaf­tie­rungs­a­n­ordnung des Amtgerichts und den ablehnenden Beschluss des Kammergerichts in seinem Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt. Die Regelung des § 22 Abs. 3 Satz 2 des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) sei als Ermäch­ti­gungs­grundlage für den Erlass einer Festhal­te­a­n­ordnung verfas­sungs­widrig, da sie keine richterliche Sachaufklärung für die Freiheits­ent­ziehung voraussetze. Selbst bei verfas­sungs­kon­former Auslegung fehle es an einer formell und materiell rechtmäßigen Festhal­te­a­n­ordnung des Amtsgerichts.

Beschwer­de­führer in Freiheits­grundrecht in Verbindung mit Rechtsgarantien bei Freiheits­ent­ziehung verletzt

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die angegriffenen Entscheidungen aufgehoben, weil sie den Beschwer­de­führer in seinem Freiheits­grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit den Rechtsgarantien bei Freiheits­ent­ziehung aus Art. 104 Abs. 1 bis 3 GG verletzen. Die Sache ist an das Kammergericht zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen worden.

Entscheidungen hinsichtlich eines Entzugs der persönlichen Freiheit müssen auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechts­s­taat­licher Verfahren, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheits­ga­rantie entspricht. Den sich daraus ergebenden verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht.

Verfas­sungs­be­schwerde hinsichtlich der Regelung zur Anordnung der Festhaltung im Rahmen internationaler Rechtshilfe erfolglos

Soweit der Beschwer­de­führer allerdings die Verfas­sungs­wid­rigkeit der Regelung des § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG als solche rügt, hat seine Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg. Die Vorschrift setzt zwar nach ihrem Wortlaut für die Anordnung der Festhaltung im Rahmen internationaler Rechtshilfe lediglich die richterliche Prüfung der Identität des Festgenommenen voraus, nicht aber eine Sachaufklärung des Amtsgerichts zur Prüfung der materiellen Voraussetzungen für die Freiheits­ent­ziehung. Diese ist nach § 17 IRG erst dem Oberlan­des­gericht vorbehalten, dem dabei keine Entschei­dungsfrist gesetzt ist.

Bei Bedenken gegen die Zulässigkeit der Haft muss Amtgericht in verfas­sungs­kon­former Auslegung des § 22 Abs. 3 IRG Freilas­sungs­a­n­ordnung erlassen

Zur Ausräumung der sich daraus ergebenden verfas­sungs­recht­lichen Bedenken, ob ein Gericht bei Freiheits­ent­zie­hungen von einer sachlichen Prüfung überhaupt derart weitreichend freigestellt werden darf, bedarf es einer verfas­sungs­kon­formen Auslegung der Regelung des § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG. So ist das Amtsgericht zumindest in Evidenzfällen verpflichtet, in summarischer Weise auch das Vorliegen eines Haftgrundes und die weiteren Haftvor­aus­set­zungen nach dem IRG in seine Prüfung einzubeziehen. Liegt danach ein Haftgrund offensichtlich nicht vor oder ist die Auslieferung von vornherein unzulässig, muss das Amtsgericht vor seiner Entscheidung zunächst versuchen, die Sach- und Rechtslage mit der General­staats­an­walt­schaft zu erörtern, damit diese entweder die umgehende Freilassung des Festgenommenen verfügen oder aber sachliche oder rechtliche Erkenntnisse einbringen kann. Bleiben durchgreifende Bedenken gegen die Zulässigkeit der Haft, über die das Oberlan­des­gericht nicht fristgerecht entscheiden kann, so muss das Amtgericht in erweiternder, verfas­sungs­kon­former Auslegung des § 22 Abs. 3 IRG eine Freilas­sungs­a­n­ordnung erlassen.

Fachgerichte setzen sich nicht ausreichend mit drohender Gefahr politischer Verfolgung auseinander

Die beiden Fachgerichte haben sich vorliegend nicht hinreichend mit der dem Beschwer­de­führer drohenden Gefahr politischer Verfolgung in der Türkei ausein­an­der­gesetzt, obwohl sich die Prüfung eines daraus folgenden Auslie­fe­rungs­hin­der­nisses nach dem IRG aufdrängen musste. Denn der Beschwer­de­führer war von den dafür zuständigen und sachkundigen Bundesämtern als politisch Verfolgter und Asylbe­rech­tigter anerkannt worden. Es fehlt schon an einer für den Beschwer­de­führer und das Bundes­ver­fas­sungs­gericht nachprüfbaren Entscheidung über die Freiheits­ent­ziehung durch das Amtsgericht, das keine schriftliche Festhal­te­a­n­ordnung gemäß § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG erlassen, sondern lediglich um Aufnahme des Beschwer­de­führers in die Justiz­voll­zugs­anstalt ersucht hat. Eine solche Verfahrensweise widerspricht den verfas­sungs­recht­lichen Verfah­rens­ga­rantien bei Freiheits­ent­ziehung, insbesondere dem Richter­vor­behalt, und erschwert die Eröffnung der Verteidigungs- und Einwen­dungs­mög­lich­keiten des Festgenommenen.

Haftgrund der Fluchtgefahr hätte aufgrund des Gesund­heits­zu­stands durch Gerichte ausnahmsweise verneint werden können

Ebenso wenig befassen sich beide Gerichte mit der gleichermaßen naheliegenden Frage, ob im Falle des Beschwer­de­führers, der über ein gesichertes Aufent­haltsrecht und eine Meldeanschrift in Deutschland verfügt, auch angesichts seines Gesund­heits­zu­stands der Haftgrund der Fluchtgefahr ausnahmsweise verneint werden kann.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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