23.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss27.06.2017

Referendarin im juristischen Vorbe­rei­tungs­dienst des Landes Hessen scheitert mit Eilantrag gegen KopftuchverbotAuch Rechts­re­fe­rendare haben als Repräsentanten staatlicher Gewalt staatliches Neutra­li­tätsgebot zu beachten

Das Bundes­verfassungs­gericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung einer Referendarin im juristischen Vorbe­rei­tungs­dienst des Landes Hessen abgelehnt. In Hessen dürfen Rechts­referendarinnen, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen, bei Verhandlungen im Gerichtssaal nicht auf der Richterbank sitzen, keine Sitzungs­lei­tungen und Beweisaufnahmen durchführen, keine Sitzungs­vertretungen für die Amtsan­walt­schaft übernehmen und während der Verwal­tungs­station keine Anhörungs­ausschuss­sitzung leiten. Die Beschwer­de­führerin, die als Ausdruck ihrer individuellen Glaubens­über­zeugung in der Öffentlichkeit ein Kopftuch trägt, wandte sich mit ihrer Verfassungs­beschwerde und dem damit verbundenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen diese Beschränkungen und rügt vornehmlich die Verletzung ihrer Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und ihrer Glaubens­freiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG). Die Entscheidung des Bundes­verfassungs­gerichts beruht auf einer Folgenabwägung.

Die Beschwer­de­führerin des zugrunde liegenden Verfahrens hat die deutsche und die marokkanische Staats­bür­ger­schaft. Als Ausdruck ihrer individuellen Glaubens­über­zeugung trägt sie in der Öffentlichkeit ein Kopftuch. Sie ist seit Januar 2017 Rechts­re­fe­rendarin im Land Hessen. Referendarinnen im juristischen Vorbe­rei­tungs­dienst des Landes Hessen, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen, dürfen bei Verhandlungen im Gerichtssaal nicht auf der Richterbank sitzen, keine Sitzungs­lei­tungen und Beweisaufnahmen durchführen, keine Sitzungs­ver­tre­tungen für die Amtsan­walt­schaft übernehmen und während der Verwal­tungs­station keine Anhörungs­aus­schuss­sitzung leiten (Erlass des Hessischen Ministeriums der Justiz vom 28. Juni 2007 in Verbindung mit § 27 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über die juristische Ausbildung - JAG - in Verbindung mit § 45 Hessisches Beamtengesetz - HBG). Im Januar 2017 legte die Beschwer­de­führerin beim Präsidenten des Landgerichts erfolglos Beschwerde gegen die ihr aufgrund des getragenen Kopftuchs auferlegten Beschränkungen ein. Das Verwal­tungs­gericht hat auf Antrag der Beschwer­de­führerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes dem Land Hessen auferlegt, sicherzustellen, dass die Beschwer­de­führerin vorläufig ihre Ausbildung als Rechts­re­fe­rendarin vollumfänglich mit Kopftuch wahrnehmen kann. Der Hessische Verwal­tungs­ge­richtshof hat auf die Beschwerde des Landes Hessen den Beschluss des Verwal­tungs­ge­richts aufgehoben.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht darf Folgenabwägung vornehmen

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht kann einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist (§ 32 Abs. 1 BVerfGG). Die Erfolgs­aus­sichten in der Hauptsache haben außer Betracht zu bleiben, es sei denn, der in der Hauptsache gestellte Antrag erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Haupt­sa­che­ver­fahrens muss das Bundes­ver­fas­sungs­gericht eine Folgenabwägung vornehmen. Richtet sich das Begehren gegen den Vollzug eines Gesetzes darf das Bundes­ver­fas­sungs­gericht von seiner Befugnis, den Vollzug eines Gesetzes auszusetzen, nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen, weil dies einen erheblichen Eingriff in die Gestal­tungs­freiheit des Gesetzgebers darstellt.

Erforderliches Überwiegen der Gründe für Erlass einer einstweiligen Anordnung kann nicht festgestellt werden

Die Verfas­sungs­be­schwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Allerdings kann das erforderliche Überwiegen der Gründe, die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen, hier nicht festgestellt werden. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich später die Verfas­sungs­be­schwerde jedoch als begründet, dann wäre die Beschwer­de­führerin bis zur Entscheidung über die Verfas­sungs­be­schwerde in Grundrechten verletzt.

Verbot kann grundsätzlich persönliche Identität und Berufsfreiheit berühren

Eine den Rechts­re­fe­rendaren auferlegte Pflicht, bei Tätigkeiten, bei denen sie als Repräsentanten des Staates wahrgenommen werden oder wahrgenommen werden könnten, die eigene Zugehörigkeit zu einer Religi­o­ns­ge­mein­schaft nicht durch das Befolgen von religiös begründeten Beklei­dungs­regeln sichtbar werden zu lassen, greift in die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgte individuelle Glaubens­freiheit ein. Sie stellt die Betroffenen vor die Wahl, entweder die angestrebte Tätigkeit auszuüben oder dem als verpflichtend angesehenen religiösen Beklei­dungsgebot Folge zu leisten. Daneben kann ein Verbot die persönliche Identität (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) und die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) der Betroffenen berühren.

Kopftuchverbot greift nur zeitlich begrenzt in Grundrechte ein

Das Kopftuchverbot greift in die Grundrechte der Beschwer­de­führerin allerdings in zeitlicher sowie örtlicher Hinsicht lediglich begrenzt ein, indem die Beschwer­de­führerin ausschließlich von der Repräsentation der Justiz oder des Staates ausgeschlossen wird. So erstreckt sich das Verbot etwa auf den Zeitraum einer mündlichen Verhandlung und das Platznehmen hinter der Richterbank. Hingegen bleiben die übrigen, weit überwiegenden Ausbil­dungs­inhalte im Rahmen der Einze­l­aus­bildung oder der Arbeits­ge­mein­schaften unberührt.

Erginge indessen die einstweilige Anordnung, hätte die Verfas­sungs­be­schwerde aber keinen Erfolg, würden die vom Landes­ge­setzgeber mit § 27 JAG in Verbindung mit § 45 HBG verfolgten Belange, die mit denen der Beschwer­de­führerin zumindest gleich zu gewichten sind, einstweilen nicht verwirklicht.

Einbringen religiöser oder weltan­schau­licher Bezüge durch Rechts­re­fe­rendare kann Neutralität beeinträchtigen

Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes ist gekennzeichnet von Offenheit gegenüber der Vielfalt weltanschaulich-religiöser Überzeugungen und gründet dies auf ein Menschenbild, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbst­be­stimmung und Eigen­ver­ant­wortung geprägt ist. Der Staat darf keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltan­schau­lichen Richtung betreiben oder sich durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren. Dies gilt nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts insbesondere auch für den vom Staat garantierten und gewährleisteten Bereich der Justiz. Das Grundgesetz gewährleistet den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens, vor einem unabhängigen und unparteilichen Richter zu stehen, der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber allen Verfah­rens­be­tei­ligten und dem Verfah­rens­ge­genstand bietet. Auch Rechts­re­fe­rendare, die als Repräsentanten staatlicher Gewalt auftreten und als solche wahrgenommen werden, haben das staatliche Neutra­li­tätsgebot zu beachten. Das Einbringen religiöser oder weltan­schau­licher Bezüge durch Rechts­re­fe­rendare kann den in Neutralität zu erfüllenden staatlichen Auftrag der Rechtspflege und der öffentlichen Verwaltung beeinträchtigen. Ein islamisches Kopftuch ist ein religiös konnotiertes Kleidungsstück. Wird es als äußeres Anzeichen religiöser Identität verstanden, so bewirkt es das Bekenntnis einer religiösen Überzeugung, ohne dass es hierfür einer besonderen Kundgabeabsicht oder eines zusätzlichen wirkungs­ver­stär­kenden Verhaltens bedarf.

Negative Glaubens- und Bekennt­nis­freiheit von Prozess­be­tei­ligten muss berücksichtigt werden

Darüber hinaus ist die negative Glaubens- und Bekennt­nis­freiheit der Prozess­be­tei­ligten zu berücksichtigen. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistet die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben. Es erscheint nachvollziehbar, wenn sich Prozess­be­teiligte in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG verletzt fühlen, wenn sie dem für sie unaus­weich­lichen Zwang ausgesetzt werden, einen Rechtsstreit unter der Beteiligung von Repräsentanten des Staates zu führen, die ihre religiösen oder weltan­schau­lichen Überzeugungen erkennbar nach außen tragen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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