21.11.2024
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Dokument-Nr. 9879

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Beschluss11.06.2010Bundesverfassungsgericht2 BvR 1046/08
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • JuS 2010, 1126 (Michael Sachs)Zeitschrift: Juristische Schulung (JuS), Jahrgang: 2010, Seite: 1126, Entscheidungsbesprechung von Michael Sachs
  • NJW 2010, 2864Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2010, Seite: 2864
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ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss11.06.2010

BVerfG zur Notwendigkeit des Richter­vor­behalts bei Entnahme von Blutproben bei Trunken­heits­fahrtenAnordnung zur Blutentnahme durch Polizei darf nur bei Gefährdung des Untersuchungs­erfolgs vorgenommen werden

Soll bei einem Autofahrer wegen einer Trunken­heitsfahrt nach Ansicht der Polizei eine Blutentnahme vorgenommen werden, ist zuvor ein Richter einzuschalten und dessen Zustimmung einzuholen. Eine Anordnung zur Blutentnahme durch Polizei darf nur bei Gefährdung des Untersuchungs­erfolgs ("Gefahr in Verzug") eigenständig vorgenommen werden. Es obliegt dann der Gerichte umfassend und eigenständig zu prüfen, ob auf die Einschaltung des Richters verzichtet werden durfte und die Blutentnahme rechtmäßig war. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht.

Der Beschwer­de­führerin des zugrunde liegenden Streitfalls wurde im Rahmen eines straf­recht­lichen Ermitt­lungs­ver­fahrens ohne richterliche Anordnung Blut entnommen. Ein Zeuge hatte die Polizei auf eine mögliche Trunken­heitsfahrt der Beschwer­de­führerin aufmerksam gemacht. Eine halbe Stunde nach Hinweis des Zeugen war die Polizei bei der Wohnung der Beschwer­de­führerin, die sich dort inzwischen aufhielt, eingetroffen und hatte sich nach erfolglosem Klingeln über einen Zweitschlüssel des Vermieters Zutritt zur Wohnung verschafft. Ein noch in der Wohnung durchgeführter Atemalkoholtest ergab einen Wert von 1,01 mg/l. Etwa 35 Minuten später wurde ihr auf dem Polizeirevier auf Anordnung eines Polizeibeamten von einem Arzt Blut entnommen.

Beschwer­de­führerin beantragt erfolglos Feststellung der Rechts­wid­rigkeit und Vernichtung der Blutproben

Das Strafverfahren gegen die Beschwer­de­führerin wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr wurde in der Berufungs­instanz eingestellt. Im Zuge des Einspruchs gegen den zunächst erlassenen Strafbefehl hatte die Beschwer­de­führerin - erfolglos - die Feststellung der Rechts­wid­rigkeit der Durchsuchung und der Blutentnahme sowie die Vernichtung der Blutproben beantragt: Die Polizei habe den Richter­vor­behalt eklatant missachtet; ein Richter hätte ohne weiteres eingeschaltet werden können.

Gerichte sehen als Folge einer richterlichen Einbindung regelmäßig zu spät erfolgende Blutentnahmen

Die Gerichte haben die Rechtmäßigkeit der Anordnung der Blutentnahme mit allgemeinen Erwägungen begründet: Im Sinne einer effektiven Strafverfolgung sei eine zeitnahe Blutentnahme generell zur Sicherung der Beweise geboten. Eine richterliche Entscheidung könne aber selbst zur Tageszeit an einem Wochentag nur mit erheblicher Zeitverzögerung ergehen; in der Regel dürfe die Entscheidung des Richters nur aufgrund schriftlicher Unterlagen ergehen, müsse schriftlich abgefasst und außerdem mit Gründen versehen sein. Würde der Richter eingebunden, käme die Blutentnahme deshalb regelmäßig zu spät.

BVerfG nimmt Verfas­sungs­be­schwerde aufgrund nicht rechtmäßiger Anordnung einer Blutprobe zur Entscheidung an

Soweit die Beschwer­de­führerin die Rechts­wid­rigkeit der Anordnung der Blutentnahme geltend macht, hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Verfas­sungs­be­schwerde zur Entscheidung angenommen, die Beschlüsse der Strafgerichte aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Dagegen ist nicht zu beanstanden, dass die Gerichte die ohne richterliche Anordnung erfolgte Durchsuchung für rechtens hielten und den Antrag der Beschwer­de­führerin auf Vernichtung der Blutproben zurückgewiesen haben.

Gerichte müssen Rechtmäßigkeit der Blutentnahme umfassend und eigenständig prüfen

Die Entscheidungen zur Rechtmäßigkeit der Blutentnahme verletzen die Beschwer­de­führerin in ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutz. Der Betroffene hat Anspruch darauf, dass die Gerichte die Rechtmäßigkeit der Blutentnahme umfassend und eigenständig prüfen und dabei insbesondere klären, ob die Ermitt­lungs­be­hörden auf die Einschaltung des Richters verzichten durften.

Blutentnahmen bei „Gefahr im Verzug“ müssen im Einzelfall begründet und dokumentiert werden

Der Gesetzgeber hat die Anordnung der Blutentnahme grundsätzlich dem Richter anvertraut. Damit soll eine effektive Kontrolle der Ermitt­lungs­maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz gewährleistet werden. Wegen dieser Zielrichtung des Richter­vor­behalts müssen die Ermitt­lungs­be­hörden in der Regel zunächst versuchen, die Anordnung eines Richters zu erlangen. Nur bei Gefährdung des Unter­su­chungs­erfolgs durch die mit der Einholung einer richterlichen Entscheidung verbundene Verzögerung dürfen die Staats­an­walt­schaft und - nachrangig - die Ermitt­lungs­be­hörden die Blutentnahme selbst anordnen. Eine solche „Gefahr im Verzug“ müssen die Ermitt­lungs­be­hörden dann mit auf den Einzelfall bezogenen Tatsachen begründen und in den Ermitt­lungsakten dokumentieren, es sei denn, der drohende Verlust des Beweismittels ist offensichtlich.

Polizeibeamten unterlassen jeglichen Versuch richterlichen Beschluss einzuholen

Diese Grundsätze haben die Gerichte nicht beachtet. Die Auffassung des Landgerichts, dass richterliche Eilent­schei­dungen generell nur nach Vorlage schriftlicher Unterlagen getroffen werden könnten und dass diese wegen des zur Prüfung des Sachverhalts sowie zur Erstellung des Beschlusses notwendigen Zeitraums zwangsläufig mit der Gefährdung des Unter­su­chungs­zwecks einhergingen, würde dazu führen, dass Entscheidungen des Ermitt­lungs­richters zur Blutentnahme bei Verdacht auf Trunkenheit im Verkehr in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht mehr erholt werden würden. Der Richter­vor­behalt bei der Blutentnahme wäre damit im Regelfall bedeutungslos. Die Gerichte haben auch nicht konkret geprüft, ob der Zeitraum zwischen Atemalkoholtest und Anordnung der Blutentnahme dafür ausgereicht hätte, dass ein Richter auch ohne schriftliche Antrags­un­terlagen den einfach gelagerten Sachverhalt eigenständig bewertet und seine Entscheidung anschließend übermittelt, zumal diese im Ausnahmefall auch mündlich getroffen werden kann. Ob selbst bei Kontaktaufnahme mit dem Ermitt­lungs­richter eine zeitnahe Entscheidung (zum Beispiel wegen anderer, vom Richter vorrangig zu bearbeitender Anträge) unmöglich gewesen wäre und deshalb „Gefahr im Verzug“ vorlag, lässt sich nicht beurteilen, weil die Polizeibeamten erst gar nicht versucht hatten, einen richterlichen Beschluss einzuholen.

Verletzung des Richter­vor­behalts bei Anordnung der Blutentnahme führt nicht zwingend zur Unwirksamkeit des Beweismittels

Soweit die Beschwer­de­führerin die Rechts­wid­rigkeit der Durchsuchung und die Aufbewahrung der Blutproben gerügt hat, bleibt die Verfas­sungs­be­schwerde ohne Erfolg. Die Einschaltung eines Richters vor der Durchsuchung hätte den Ermitt­lungs­erfolg offenkundig gefährdet: Ohne sofortige Durchsuchung drohte ersichtlich ein „Nachtrunk“ (mit dem sich die Beschwer­de­führerin im anschließenden Strafverfahren dann auch verteidigt hatte). Auch ihren Antrag auf Vernichtung der Blutproben haben die Gerichte zu Recht zurückgewiesen: Die Verletzung des Richter­vor­behalts bei Anordnung der Blutentnahme führt nicht zwingend dazu, dass die Blutprobe als Beweismittel nicht verwertet werden darf. Ob ein solches Verwer­tungs­verbot vorliegt, ist von den Gerichten im Strafverfahren zu prüfen.

Quelle: ra-online, Bundesverfassungsgericht

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