18.10.2024
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Dokument-Nr. 29968

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Bundesverfassungsgericht Beschluss10.02.2021

Strafrechtliche Vermögens­abschöpfung bei bereits vor Inkrafttreten des Reformgesetzes verjährten Erwerbstaten mit dem Grundgesetz vereinbarZwar "Echte" Rückwirkung aber ausnahmsweise wegen überragender Belange des Gemeinwohls zulässig

Das Bundes­verfassungs­gericht hat mit Beschluss entschieden, dass Art. 316h Satz 1 EGStGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform der straf­recht­lichen Vermögens­abschöpfung vom 13. April 2017 mit dem Grundgesetz vereinbar ist, auch soweit er die Neuregelungen in Fällen für anwendbar erklärt, in denen bereits vor dem Inkrafttreten des Reformgesetzes Verfolgung­sverjährung eingetreten war.

Nach der Rechtslage vor Inkrafttreten des Reformgesetzes war die Abschöpfung von Taterträgen (als „Verfall“ bezeichnet) bei Verfol­gungs­ver­jährung der zugrun­de­lie­genden Straftat - mit Ausnahme des erweiterten Verfalls gemäß § 73 StGB a. F. - ausgeschlossen. Mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform der straf­recht­lichen Vermögensabschöpfung wurde in § 76 a Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 78 Abs. 1 Satz 2 StGB ausdrücklich die Zulässigkeit der selbständigen Einziehung von Taterträgen auch für den Fall festgeschrieben, dass hinsichtlich der zugrun­de­lie­genden Tat Verfol­gungs­ver­jährung eingetreten ist.

Selbständige Einziehung von der Verjährung der Erwerbstat entkoppelt

Die selbständige Einziehung von Taterträgen ist nunmehr von der Verjährung der Erwerbstat entkoppelt und gemäß § 76 b Abs. 1 Satz 1 StGB einer eigenständigen Verjährung unterworfen. Art. 316h Satz 1 EGStGB sieht vor, dass die selbständige Einziehung von Taterträgen auch dann angeordnet werden kann, wenn nach dem Inkrafttreten der Neuregelung zum 1. Juli 2017 über Taten entschieden wird, die vor diesem Zeitpunkt begangen wurden, und erfasst auch Fälle, bei denen die Erwerbstat bereits vor dem 1. Juli 2017 verjährt war.

BGH sieht Verstoß gegen das allgemeine rechts­s­taatliche Rückwir­kungs­verbot

Im Oktober 2017 hatte das Landgericht zwei Angeklagte von Vorwürfen des Verstoßes gegen das Schwa­rz­a­r­beits­be­kämp­fungs­gesetz wegen absoluter Verjährung freigesprochen. Gegen die beiden von den Angeklagten geleiteten neben­be­tei­ligten Unternehmen hatte es die Einziehung des Wertes von Taterträgen nach Art. 316h Satz 1 EGStGB in Verbindung mit § 73 Abs. 1, § 73 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 73 c Satz 1, § 76 a Abs. 2 Satz 1 StGB in Höhe von rund 10 Millionen und rund 72.000 Euro angeordnet. Das Landgericht führte zur Begründung aus, dass die Straf­ver­fol­gungs­ver­jährung der Anordnung der selbständigen Einziehung nach der geänderten Rechtslage nicht entgegenstehe. Der Bundes­ge­richtshof hat das Revisi­ons­ver­fahren, soweit es die Einziehung des Wertes von Taterträgen betrifft, ausgesetzt, weil nach alter Rechtslage die Abschöpfung von Taterträgen aufgrund der eingetretenen Verfol­gungs­ver­jährung der zugrun­de­lie­genden Taten nicht mehr möglich gewesen wäre. Nach seiner Überzeugung verstößt Art. 316h Satz 1 EGStGB insoweit gegen das allgemeine rechts­s­taatliche Rückwirkungsverbot.

BVerfG: Vermö­gens­ab­schöpfung stellt keine Strafe dar

Nach Auffassung des BVerfG ist der Art. 316h Satz 1 EGStGB mit dem Grundgesetz vereinbar, auch soweit er die Neuregelungen des Rechts der Vermö­gens­ab­schöpfung in Fällen für anwendbar erklärt, in denen hinsichtlich der rechtswidrigen Taten bereits vor dem Inkrafttreten des Reformgesetzes Verfol­gungs­ver­jährung eingetreten war. Die Einziehung von Taterträgen oder deren Wert ist keine Strafe im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG. Der Anwen­dungs­bereich von Art. 103 Abs. 2 GG ist auf staatliche Maßnahmen beschränkt, die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten darstellen und wegen dieses Verhaltens ein Übel verhängen, das dem Schuldausgleich dient. Andere staatliche Eingriffs­maß­nahmen werden von Art. 103 Abs. 2 GG nicht erfasst. Die Garantie des Art. 103 Abs. 2 GG soll verhindern, dass der Staat ein Verhalten erst nachträglich hoheitlich missbilligt, es mit einer Sanktion belegt und dem Betroffenen den Vorwurf rechtswidrigen und schuldhaften Verhaltens macht. Die Vermö­gens­ab­schöpfung, wie sie durch das Reformgesetz geregelt wurde, ist keine dem Schuldgrundsatz unterliegende Nebenstrafe, sondern eine Maßnahme (§ 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB) eigener Art mit kondik­ti­o­ns­ähn­lichem Charakter. Bereits der Verfall nach früherer Rechtslage hatte keinen Straf- oder strafähnlichen Charakter. Der damalige Gesetzgeber wollte die Abschöpfung deliktisch erzielter Vermö­gens­vorteile als gesonderte Rechtsfolge neben die Strafe setzen. Ziel des Verfalls war nicht die Zufügung eines Übels, sondern die Beseitigung eines Vorteils, dessen Verbleib den Täter zu weiteren Taten hätte verlocken können. Mit der jüngsten Reform wollte der Gesetzgeber den quasi-kondiktionellen Charakter der Vermö­gens­ab­schöpfung nicht in Frage stellen. Seine Neuregelungen haben die Vermö­gens­ab­schöpfung nicht derart verändert, dass nunmehr von einem Strafcharakter der vermö­gens­ab­schöp­fenden Maßnahmen auszugehen wäre. Die Qualifizierung der Vermö­gens­ab­schöpfung als Maßnahme eigener Art und nicht als Strafe steht im Einklang mit der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention. Unter Berück­sich­tigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist die Vermö­gens­ab­schöpfung nach dem Reformgesetz nicht als Strafe im Sinne des Art. 7 Abs. 1 EMRK anzusehen.

"Echte" Rückwirkung im Ausnahmefall zulässig

Art. 316h Satz 1 EGStGB ist mit den im Rechts­s­taats­prinzip und in den Grundrechten verankerten Prinzipien der Rechts­si­cherheit und des Vertrau­ens­schutzes vereinbar. Die selbständige Einziehung von Taterträgen aus verjährten Erwerbstaten stellt eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen („echte“ Rückwirkung) dar, soweit das neue Vermö­gens­ab­schöp­fungsrecht auf Sachverhalte anwendbar ist, in denen bei Inkrafttreten des Reformgesetzes bereits Verfol­gungs­ver­jährung eingetreten war. Grundsätzlich ist eine „echte“ Rückwirkung verfas­sungs­rechtlich unzulässig. Eine Ausnahme ist anerkann­termaßen aber dann gegeben, wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechts­si­cherheit vorgehen, eine rückwirkende Beseitigung erfordern. In diesen Fällen muss der Vertrauensschutz zurücktreten. Die hier zu beurteilende „echte“ Rückwirkung ist durch solche überragenden Belange des Gemeinwohls gerechtfertigt.

Straf­rechts­widrige Vermö­gens­mehrung soll keinen Bestand haben

Der Gesetzgeber verfolgt mit der Anordnung in Art. 316h Satz 1 EGStGB das legitime Ziel, auch für verjährte Taten vermö­gens­ordnend zugunsten des Geschädigten einer Straftat einzugreifen und dem Täter den Ertrag seiner Taten – auch im Falle fehlender Strafverfolgung – nicht dauerhaft zu belassen. Dieses Ziel ist überragend wichtig. Durch die Vermö­gens­ab­schöpfung soll sowohl dem Straftäter als auch der Rechts­ge­mein­schaft vor Augen geführt werden, dass eine straf­rechts­widrige Vermö­gens­mehrung von der Rechtsordnung nicht anerkannt wird und deshalb keinen Bestand haben kann. Die Entziehung solcher straf­rechts­widrig erlangter Werte soll die Gerechtigkeit und Unver­brüch­lichkeit der Rechtsordnung erweisen und so die Rechtstreue der Bevölkerung stärken.

Täter wird auch in vermö­gens­recht­licher Hinsicht der Schutz der staatlichen Rechtsordnung weitgehend vorenthalten

Demgegenüber steht die Vertrau­ens­schutz­po­sition der von der Einziehung von Taterträgen Betroffenen zurück. Die Bewertung eines bestimmten Verhaltens als Straftat ist die schärfste dem Gesetzgeber zur Verfügung stehende Form der Missbilligung menschlichen Verhaltens. Jede Strafnorm enthält somit ein mit staatlicher Autorität versehenes, sozial-ethisches Unwerturteil über die von ihr pönalisierte Handlungsweise. Daraus folgend wird dem Täter auch in vermö­gens­recht­licher Hinsicht der Schutz der staatlichen Rechtsordnung weitgehend vorenthalten. So ist gemäß § 134 BGB ein gegen ein gesetzliches Verbot verstoßendes Rechtsgeschäft grundsätzlich nichtig und kann über das Berei­che­rungsrecht (§§ 812 ff. BGB) rückabgewickelt werden. § 823 Abs. 2 BGB statuiert zudem bei Verstößen gegen indivi­du­al­schützende Strafgesetze einen umfassenden Schaden­s­er­satz­an­spruch des Geschädigten. Überdies lässt das Zivilrecht einen Eigentumserwerb zumindest im Bereich der Eigen­tums­delikte kaum zu, da insbesondere der gutgläubige Erwerb durch Dritte gemäß § 935 BGB grundsätzlich ausgeschlossen ist. Soweit durch Täuschung oder Drohung auf den Geschädigten eingewirkt wurde, bestehen zudem weitgehende Anfech­tungs­mög­lich­keiten (§ 123 BGB).

Keine Änderung der Bewertung durch Eintritt der Verjährung

Diese grundsätzliche gesetz­ge­be­rische Bewertung ändert sich durch den Eintritt der Verfol­gungs­ver­jährung hinsichtlich der Straftat nicht. Da der deliktische Erwerbsvorgang durch den Eintritt der Verfol­gungs­ver­jährung seitens der staatlich verfassten Gemeinschaft nicht nachträglich gebilligt wird, bleibt auch das auf diese Weise erworbene Vermögen weiterhin mit dem Makel deliktischer Herkunft behaftet. Die fortwährende Bemakelung von Vermögenswerten infolge straf­rechts­widrigen Erwerbs stellt eine Ausprägung des allgemeinen Prinzips dar, dass das Vertrauen in den Fortbestand unredlich erworbener Rechte grundsätzlich nicht schutzwürdig ist.

Schutz­wür­digkeit entfällt auch für Dritt­be­rei­cherte

Nicht schutzwürdig ist in derartigen Fällen nicht nur der bereicherte Straftäter selbst, sondern auch der Dritt­be­rei­cherte, soweit dieser nicht gutgläubig eigene Dispositionen im Vertrauen auf die Beständigkeit seines Vermö­gen­s­erwerbs getroffen hat. Das Vertrauen von Personen, die deliktisch erlangte Vermögenswerte in kollusivem Zusammenwirken mit dem Straftäter, als dessen Rechts­nach­folger, als von ihm Vertretene oder sonst ohne eigene schutzwürdige Vertrau­ens­be­tä­tigung erworben haben, ist nicht stärker zu schützen als das des Straftäters selbst. § 73 b Abs. 1 StGB stellt dabei sicher, dass von der Vermö­gens­ab­schöpfung keine in diesem Sinne schützenswerten Dritten erfasst werden.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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