21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss04.05.2020

Berliner Richter­be­soldung zwischen 2009 und 2015 verfas­sungs­widrig zu niedrig bemessen

Die Besoldungs­vorschriften des Landes Berlin sind mit dem von Art. 33 Abs. 5 GG gewährleisteten Alimentations­prinzip unvereinbar, soweit sie die Besoldung der Richter und Staatsanwälte der Besol­dungs­gruppen R 1 und R 2 in den Jahren 2009 bis 2015 sowie der Besol­dungs­gruppe R 3 im Jahr 2015 betreffen. Dies hat das Bundes­verfassungs­gericht entschieden. Eine Gesamtschau, der für die Bestimmung der Besoldungshöhe maßgeblichen Parameter ergibt, dass die gewährte Besoldung evident unzureichend war. Sie genügte nicht, um Richtern und Staatsanwälten einen nach der mit ihrem Amt verbundenen Verantwortung angemessenen Lebensunterhalt zu ermöglichen. Der Gesetzgeber des Landes Berlin hat verfas­sungs­konforme Regelungen mit Wirkung spätestens vom 1. Juli 2021 an zu treffen.

Die Kläger der Ausgangs­ver­fahren sind ein Vorsitzender Richter am Landgericht (Besol­dungs­gruppe R 2), ein Richter am Landgericht (Besol­dungs­gruppe R 1) und die Witwe eines Vorsitzenden Richters am Kammergericht (Besol­dungs­gruppe R 3), der im Jahr 2015 in dieses Amt befördert worden war und wenig später verstarb. Die erstmals im Jahr 2009 gegen die Besoldungshöhe erhobenen Widersprüche der Kläger blieben ebenso wie ihre nachfolgenden Klagen vor dem Verwal­tungs­gericht bis in die Berufungs­instanz erfolglos. Das Bundes­ver­wal­tungs­gericht hat das Revisi­ons­ver­fahren ausgesetzt, um dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Frage vorzulegen, ob die Besoldung in den genannten Besol­dungs­gruppen mit Art. 33 Abs. 5 GG vereinbar sei.

BVerfG: Prüfung Amtsan­ge­mes­senheit in drei Schritten

Das zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufs­be­am­tentums zählende Alimentationsprinzip verpflichtet den Dienstherrn, Richtern und Beamten sowie ihren Familien lebenslang einen Lebensunterhalt zu gewähren, der ihrem Dienstrang und der mit ihrem Amt verbundenen Verantwortung angemessen ist und der Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards entspricht. Damit wird der Bezug der Besoldung sowohl zu der Einkommens- und Ausga­ben­si­tuation der Gesamt­be­völ­kerung als auch zur Lage der Staatsfinanzen hergestellt. Diese Gewährleistung einer rechtlich und wirtschaftlich gesicherten Position bildet die Voraussetzung und innere Rechtfertigung für die lebenslange Treuepflicht sowie das Streikverbot. Der Besol­dungs­ge­setzgeber verfügt über einen weiten Entschei­dungs­spielraum. Dem entspricht eine zurückhaltende verfas­sungs­ge­richtliche Kontrolle. Ob die Bezüge evident unzureichend sind, muss anhand einer Gesamtschau verschiedener Kriterien geprüft werden. Dies erfolgt in mehreren Schritten:

Erste Prüfungsstufe: Ermittlung eines Orien­tie­rungs­rahmens mit Hilfe von fünf Vergleich­s­pa­ra­metern

Auf der ersten Prüfungsstufe wird mit Hilfe von fünf Parametern ein Orien­tie­rungs­rahmen für eine grundsätzlich verfas­sungs­gemäße Ausgestaltung der Alimen­ta­ti­o­nss­truktur und des Alimen­ta­ti­o­ns­niveaus ermittelt (Vergleich der Besol­dungs­ent­wicklung mit der Entwicklung der Tarifentlohnung im öffentlichen Dienst, des Nomina­l­lohnindex sowie des Verbrau­cher­prei­sindex, systeminterner Besol­dungs­ver­gleich und Quervergleich mit der Besoldung des Bundes und anderer Länder). Beim systeminternen Besol­dungs­ver­gleich ist neben der Veränderung der Abstände zu anderen Besol­dungs­gruppen in den Blick zu nehmen, ob in der untersten Besol­dungs­gruppe der gebotene Mindestabstand zum Grund­si­che­rungs­niveau eingehalten ist. Ein Verstoß hiergegen betrifft insofern das gesamte Besol­dungs­gefüge, als sich der vom Gesetzgeber selbst gesetzte Ausgangspunkt für die Besol­dungs­staf­felung als fehlerhaft erweist.

Zweite Prüfungsstufe: Gesamtabwägung der Ergebnisse der ersten Stufe mit weiteren alimentations-relevanten Kriterien

Auf der zweiten Prüfungsstufe sind die Ergebnisse der ersten Stufe mit den weiteren alimentations-relevanten Kriterien im Rahmen einer Gesamtabwägung zusam­men­zu­führen. Werden mindestens drei Parameter der ersten Prüfungsstufe erfüllt, besteht die Vermutung einer verfas­sungs­widrigen Unter­a­li­men­tation. Werden umgekehrt bei allen Parametern die Schwellenwerte unterschritten, wird eine angemessene Alimentation vermutet. Sind ein oder zwei Parameter erfüllt, müssen die Ergebnisse der ersten Stufe, insbesondere das Maß der Über- beziehungsweise Unterschreitung der Parameter, zusammen mit den auf der zweiten Stufe ausgewerteten Kriterien im Rahmen der Gesamtabwägung eingehend gewürdigt werden.

Dritte Prüfstufe: Prüfung ob Verfas­sungs­wid­rigkeit gerechtfertigt sein kann

Ergibt die Gesamtschau, dass die zur Prüfung gestellte Besoldung grundsätzlich als verfas­sungs­widrige Unter­a­li­men­tation einzustufen ist, bedarf es auf der dritten Stufe der Prüfung, ob dies ausnahmsweise gerechtfertigt sein kann.

Berliner Richter­be­soldung evident unzureichend

An diesen Maßstäben gemessen sind die Vorgaben des Art. 33 Abs. 5 GG nicht erfüllt. Eine Gesamtschau, der für die Bestimmung der Besoldungshöhe maßgeblichen Parameter ergibt, dass die im Land Berlin in den verfah­rens­ge­gen­ständ­lichen Jahren und Besol­dungs­gruppen gewährte Besoldung evident unzureichend war. Sie genügte nicht, um Richtern und Staatsanwälten nach der mit ihrem Amt verbundenen Verantwortung und nach der Bedeutung dieser Ämter für die Allgemeinheit einen der Entwicklung der allgemeinen wirtschaft­lichen und finanziellen Verhältnisse und des allgemeinen Lebensstandards angemessenen Lebensunterhalt zu ermöglichen. Bei der Fest-legung der Grund­ge­haltssätze wurde die Sicherung der Attraktivität des Amtes eines Richters oder Staatsanwalts für entsprechend qualifizierte Kräfte, das Ansehen dieses Amtes in den Augen der Gesellschaft, die von Richtern und Staatsanwälten geforderte Ausbildung, ihre Verantwortung und ihre Beanspruchung nicht hinreichend berücksichtigt.

Hier nur drei von fünf Parameter erfüllt: Vermutung einer verfas­sungs­widrigen Unter­a­li­men­tation

Für alle verfah­rens­ge­gen­ständ­lichen Jahre lässt sich feststellen, dass die Besol­dungs­ent­wicklung in den jeweils vorangegangenen 15 Jahren um mindestens 5 % hinter der Entwicklung der Tariflöhne im öffentlichen Dienst und der Verbrau­cher­preise zurückgeblieben war. In den Jahren 2010 bis 2014 lag die Differenz zur Tarif­lohn­stei­gerung bei über 10 %. Auch wurde das Minde­st­ab­s­tandsgebot in den unteren Besol­dungs­gruppen durchgehend deutlich verletzt. Hinsichtlich der Entwicklung des Nomina­l­lohnindex und im Quervergleich mit der Besoldung in Bund und Ländern wurden die maßgeblichen Schwellenwerte nicht überschritten. Weil damit drei von fünf Parametern der ersten Stufe erfüllt sind, besteht die Vermutung einer verfas­sungs­widrigen Unter­a­li­men­tation.

Alimentation erfüllt quali­täts­si­chernde Funktion nicht

Diese wird erhärtet, wenn man im Rahmen der Gesamtabwägung die weiteren alimen­ta­ti­o­ns­re­le­vanten Kriterien einbezieht. Mit dem Amt eines Richters oder Staatsanwaltes sind vielfältige und anspruchsvolle Aufgaben verbunden, weshalb hohe Anforderungen an den akademischen Werdegang und die Qualifikation ihrer Inhaber gestellt werden. Gleichwohl hat das Land Berlin nicht nur die formalen Einstel­lungs­an­for­de­rungen abgesenkt, sondern auch in erheblichem Umfang Bewerber eingestellt, die nicht in beiden Examina ein Prädikat (vollbe­frie­digend und besser) erreicht hatten. Dies zeigt, dass die Alimentation ihre quali­täts­si­chernde Funktion, durchgehend überdurch­schnittliche Kräfte zum Eintritt in den höheren Justizdienst in Berlin zu bewegen, nicht mehr erfüllt hat. Gegen­über­stel­lungen mit Vergleichs­gruppen außerhalb des öffentlichen Dienstes führen im Rahmen der Gesamtabwägung zu keiner anderen Bewertung. Schließlich sind verschiedene Einschnitte im Bereich des Beihilfe- und Versor­gungs­rechts zu berücksichtigen, die das zum laufenden Lebensunterhalt verfügbare Einkommen zusätzlich gemindert haben.

Unterschreitung des gebotenen Besol­dungs­niveaus nicht gerechtfertigt

Kollidierendes Verfas­sungsrecht, zu der auch die Verpflichtung zur Haushalts­kon­so­li­dierung (Art. 109 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Art. 143d Abs. 1 GG) zählt, vermag diese Unterschreitung des durch Art. 33 Abs. 5 GG gebotenen Besol­dungs­niveaus nicht zu rechtfertigen. Insbesondere hat das Land Berlin nicht dargetan, dass die teilweise drastische Abkopplung der Besoldung der Richter und Staatsanwälte von der allgemeinen wirtschaft­lichen Entwicklung in Berlin Teil eines schlüssigen und umfassenden Konzepts der Haushalts­kon­so­li­dierung gewesen wäre, bei dem die Einsparungen wie verfas­sungs­rechtlich geboten gleich­heits­gerecht erwirtschaftet werden sollten.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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