23.11.2024
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Dokument-Nr. 31792

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Bundesverfassungsgericht Beschluss04.05.2022

Unzulässige Vorlage eines Amtsgerichts zum Säumniszuschlag auf Prämi­en­rück­stände in der privaten Pflicht­kran­ken­ver­si­cherungBVerfG weist Vorlage als unzureichend begründet ab

Das Bundes­verfassungs­gericht hat eine Vorlage des Amtsgerichts Wiesbaden zu § 193 Abs. 6 Satz 2 Versicherungs­vertrags­gesetz (VVG) für unzulässig erklärt, da sie den Begründungs­anforderungen des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG nicht genügt. Die Vorlage betrifft die Frage, ob diese Vorschrift insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als der Versi­che­rungs­nehmer für jeden angefangenen Monat eines Prämi­en­rück­standes einen Säumniszuschlag in Höhe von 1 Prozent des Prämi­en­rück­standes zu entrichten hat.

Nach § 193 Abs. 3 Satz 1 VVG ist jede Person mit Wohnsitz im Inland grundsätzlich verpflichtet, für sich selbst und für die von ihr gesetzlich vertretenen Personen eine private Krank­heits­kos­ten­ver­si­cherung zu gesetzlich näher geregelten Bedingungen abzuschließen und aufrecht­zu­er­halten. Gerät der Versi­che­rungs­nehmer einer solchen Pflicht­kran­ken­ver­si­cherung mit der Prämienzahlung in Rückstand, so hat er nach § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG für jeden angefangenen Monat eines Prämi­en­rück­standes anstelle von Verzugszinsen einen Säumniszuschlag in Höhe von 1 Prozent des Prämi­en­rück­standes zu entrichten. In der der Vorlage des Amtsgerichts zugrun­de­lie­genden zivil­recht­lichen Streitigkeit verklagte ein Versi­che­rungs­un­ter­nehmen einen Versi­che­rungs­nehmer auf Zahlung rückständiger Prämienbeiträge nebst Säumnis­zu­schlägen nach § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG. Das Amtsgericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Diese Frage sei entschei­dungs­er­heblich, denn falls die Vorschrift verfas­sungs­konform sei, müssten der Klägerin die Säumnis­zu­schläge wie beantragt zugesprochen werden. Andernfalls habe das Gericht der Klägerin keine Säumnis­zu­schläge in der geforderten Höhe zuzusprechen, sondern nur denjenigen Prozentsatz, der nicht auf die Zinsen entfalle. § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG verstoße unter Berück­sich­tigung der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts zu § 233 a der Abgabenordnung (AO) gegen den allgemeinen Gleich­heits­grundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Nach § 233 a AO sind Steuer­nach­for­de­rungen und Steue­r­er­stat­tungen unter den dort genannten Bedingungen zu verzinsen. Die Zinsen betragen für jeden Monat einhalb Prozent (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO). Der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat § 233 a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt, soweit der Zinsberechnung für Verzin­sungs­zeiträume ab dem 1. Januar 2014 ein Zinssatz von einhalb Prozent für jeden Monat zugrunde gelegt wird (Beschluss des Ersten Senats vom 8. Juli 2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17). Es besteht nach Auffassung des vorlegenden Gerichts eine Ungleich­be­handlung zwischen zinszah­lungs­pflichtigen Steuer­nach­zahlern und säumnis­zu­schlags­zah­lungs­pflichtigen Versi­che­rungs­nehmern seit dem Jahr 2014. Diese Ungleich­be­handlung sei nicht gerechtfertigt.

BVerfG: Vorlage wegen nicht ausreichender Begründung unzulässig

Die Vorlage ist unzulässig, weil sie den aus § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG folgenden Begrün­dungs­an­for­de­rungen nicht genügt. Das Amtsgericht hat nicht nachvollziehbar dargetan, dass die Frage der Verfas­sungs­mä­ßigkeit der Vorschrift des § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG im derzeitigen Verfah­rens­stadium entschei­dungs­er­heblich ist. Die Vorlage lässt nicht erkennen, ob oder dass der Sachverhalt vollständig aufgeklärt und die erforderlichen Beweise erhoben worden sind, die Sache mithin entschei­dungsreif ist. Das Amtsgericht legt insbesondere nicht dar, ob der Beklagte die für das Bestehen eines Anspruches erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen zugestanden hat oder das Gericht aufgrund durchgeführter Beweisaufnahme zur Überzeugung gelangt ist, dass die vorbezeichneten Tatsachen feststehen. Es ist nicht Aufgabe des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts, sich den Sachverhalt erst durch Auswertung der Akten des Ausgangs­ver­fahrens zu erarbeiten. Vielmehr ist es in die Lage zu versetzen, nur anhand des Vorla­ge­be­schlusses entscheiden zu können, ob die Verfas­sungs­kon­formität einer gesetzlichen Regelung aus Sicht des vorlegenden Gerichtes entschei­dungs­er­heblich ist. Das Amtsgericht subsumiert zudem nicht unter die zur Überprüfung gestellte Regelung des § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG. Insbesondere wird nicht erkennbar, welche Tatbe­stands­merkmale vom Amtsgericht als erforderlich und erfüllt angesehen werden. Dies gilt maßgeblich für das Erfordernis des Verzugs und des Vertre­ten­müssens, über das in der Literatur Streit besteht, zu dem das Amtsgericht aber nicht Stellung bezieht. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht kann daher auch aus diesem Grund nicht beurteilen, ob die Entschei­dungs­er­heb­lichkeit aus der insoweit maßgeblichen Sicht des Amtsgerichts nachvollziehbar bejaht wurde.

„Erst-Recht-Schluss“ erforderliche Vergleich­barkeit beider Normen nicht hinreichend substantiiert dargelegt

Die Ausführungen zur Verfas­sungs­wid­rigkeit der zur Prüfung gestellten Norm genügen den Vorgaben des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ebenfalls nicht. Das Amtsgericht stellt nicht hinreichend dar, weshalb es von der Verfas­sungs­wid­rigkeit der vorgelegten Norm überzeugt ist. Soweit es von einer Ungleich­be­handlung „zwischen zinszah­lungs­pflichtigen Steuer­nach­zahlern und säumnis­zu­schlags­zah­lungs­pflichtigen Versi­che­rungs­nehmern“ ausgeht, arbeitet es einen mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG gleich­heits­rechtlich relevanten Bezugspunkt nicht heraus. Das Amtsgericht geht davon aus, dass die auf Steuer­pflichtige einerseits und Versi­che­rungs­nehmer andererseits jeweils Anwendung findenden Normen des § 233 a Abs. 1 AO und des § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG derart miteinander vergleichbar sind, dass sich aus der Verfas­sungs­wid­rigkeit der Regelung des § 233 a Abs. 1 AO „erst recht“ eine Verfas­sungs­wid­rigkeit des § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG ergibt. Dafür fehlt es an einer tragfähigen Begründung. Das Amtsgericht hätte darlegen müssen, inwieweit Versi­che­rungs­nehmer im Hinblick auf diese Konstellation mit Steuer­pflichtigen vergleichbar sind. Es fehlt vor diesem Hintergrund bereits an einer hinreichenden einfach-rechtlichen Ausein­an­der­setzung sowohl mit der vorgelegten Regelung des § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG als auch mit der ihr gegen­über­ge­stellten Vorschrift des § 233 a Abs. 1 AO. Damit wird die für einen „Erst-Recht-Schluss“ erforderliche Vergleich­barkeit beider Normen und somit der ihnen unterfallenden Personengruppen nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Die nach § 233 a AO geregelte Vollverzinsung soll stark typisierend objektive Zins- und Liqui­di­täts­vorteile erfassen, die dadurch entstehen, dass zwischen Entstehung des Steueranspruchs und seiner Fälligkeit nach Festsetzung ein Zeitraum von mehreren Jahren liegen kann. Nachzah­lungs­zinsen sind dementsprechend – anders als etwa ein Verspä­tungs­zu­schlag – weder Sanktion noch Druckmittel, sondern ein Ausgleich für die Kapitalnutzung. Der in § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG geregelte Säumniszuschlag tritt demgegenüber seinem Sinn und Zweck nach an die Stelle der Möglichkeit des Versicherers, für den Prämi­en­rückstand Verzugszinsen nach den allgemeinen Bestimmungen zu verlangen (§ 286 Abs. 1, § 288 BGB). Er nimmt daher zunächst die Rolle eines Berei­che­rungs­aus­gleichs, aber auch eines Druckmittels ein, dem eine „verhal­tens­steuernde Wirkung“ zukommt. Der vergleichsweise hohe Säumniszuschlag erfüllt zudem eine pönale Funktion. Die Abschöpfung von Liqui­di­täts­vor­teilen ist nicht Haupt-, sondern allenfalls Nebenzweck der Regelung. Anders als im Steuerrecht ist der Säumniszuschlag die Folge einer dem Versi­che­rungs­nehmer zurechenbaren Pflicht­ver­letzung, der Nichtzahlung der Prämien trotz Fälligkeit und Einredefreiheit. Das Amtsgericht wäre daher gehalten gewesen, sich mit Sinn und Zweck des Säumnis­zu­schlags ausein­an­der­zu­setzen. Dabei hätte es insbesondere die Frage in den Blick nehmen müssen, ob ein Vertretenmüssen tatbestandliche Voraussetzung eines Anspruchs auf Zuerkennung von Säumnis­zu­schlägen ist. Allein hierdurch würde sich der Säumniszuschlag ganz wesentlich von der Verzinsung nach § 233 a AO unterscheiden.

Fehlendes Kündigungsrecht als Grund für hohe Verzinsung von AG nicht berücksichtigt

Schließlich setzt sich das Amtsgericht nicht mit dem Grund für eine vergleichsweise hohe Verzinsung im Kontext versi­che­rungs­recht­licher Besonderheiten auseinander. Der in § 193 Abs. 6 VVG geregelte Mechanismus tritt aufgrund der Bedeutung des Kranken­ver­si­che­rungs­schutzes für den Versi­che­rungs­nehmer an die Stelle des sonst bei Zahlungsverzug bestehenden Kündi­gungs­rechts des Versicherers. Dem Versicherer fehlt trotz andauernder Verletzung der Haupt­leis­tungs­pflichten durch den Versi­che­rungs­nehmer die Möglichkeit, sich durch die Ausübung eines Gestal­tungs­rechts vom Vertrag zu lösen. Er muss stattdessen den Versi­che­rungs­vertrag im Notlagentarif fortsetzen und weitere Leistungen erbringen, weshalb es für ihn und letztlich die gesamte Versi­cher­ten­ge­mein­schaft von gesteigertem Interesse ist, den Versi­che­rungs­nehmer zu der Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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