18.10.2024
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Dokument-Nr. 31487

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Bundesverfassungsgericht Beschluss09.02.2022

Straftatbestand „Verbotene Kraft­fahr­zeu­grennen des § 315 d Abs. 1 Nr. 3 StGB)“ mit dem Grundgesetz vereinbar„Alleinrennen“ im Straßenverkehr bleiben strafbar

Das Bundes­verfassungs­gericht hat § 315 d Abs. 1 Nr. 3 des Straf­ge­setz­buches (StGB), der sogenannte Einzelrennen unter Strafe stellt, für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. Der Gesetzgeber habe den Tatbestand des § 315 d Abs. 1 Nr. 3 StGB hinreichend konkretisiert und so dem aus dem Gewalten­teilungs­grundsatz folgenden Bestimmt­heitsgebot Genüge getan. Insbesondere das subjektive Tatbe­stands­merkmal „um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen“

Dem Angeschuldigten des Ausgangs­ver­fahrens wird unter anderem eine Straftat nach § 315 d Abs. 1 Nr. 3 StGB zur Last gelegt. Angeklagt war im Wesentlichen eine drei bis vier Minuten andauernde Polizeifluchtfahrt des Angeschuldigten, bei der er – teils innerhalb geschlossener Ortschaften – Geschwin­dig­keiten zwischen 80 und 100 km/h erreicht, dabei nacheinander insgesamt vier Licht­zei­che­n­anlagen überfahren haben und mit einem Verkehrsteiler kollidiert sein soll. Während der Verfol­gungsfahrt sei es dem Angeschuldigten durchgehend darauf angekommen, unter Berück­sich­tigung der Verkehrslage und der Motorisierung seines Fahrzeugs möglichst schnell zu fahren, um auf diese Weise die ihn verfolgenden Polizeibeamten abzuschütteln. Das Amtsgericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob die Vorschrift des § 315 d Abs. 1 Nr. 3 StGB verfas­sungsgemäß ist. Nach seiner Auffassung verstößt die Norm gegen den in Art. 103 Abs. 2 GG verankerten Bestimmt­heits­grundsatz.

BVerfG: § 315 d Abs.1 Nr. 3 StGB hinreichend bestimmt

Laut BVerfG ist § 315 d Abs.1 Nr. 3 StGB ist mit dem Grundgesetz vereinbar. I. Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Für den Gesetzgeber enthält Art. 103 Abs. 2 GG in seiner Funktion als Bestimmt­heitsgebot die Verpflichtung, wesentliche Fragen der Strafwürdigkeit oder Straffreiheit im demokratisch-parla­men­ta­rischen Willens­bil­dungs­prozess zu klären und die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwen­dungs­bereich der Straf­tat­be­stände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen. Das Bestimmt­heitsgebot verlangt daher, den Wortlaut von Strafnormen so zu fassen, dass die Normadressaten im Regelfall bereits anhand des Wortlauts der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist oder nicht. Für die Strafgerichte konkretisiert der Satz „nulla poena sine lege“ den Grundsatz der Gewaltenteilung aus Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG. Sie dürfen nicht korrigierend in die Entscheidung des Gesetzgebers über die Strafbarkeit eingreifen. Sie sind allerdings gehalten, weit gefassten Tatbeständen innerhalb der Wortlautgrenze durch eine präzisierende Auslegung Konturen zu geben. Dabei sind die Strafgerichte verpflichtet, die einzelnen Tatbe­stands­merkmale nicht so zu definieren, dass die vom Gesetzgeber dadurch bewirkte Eingrenzung der Strafbarkeit im Ergebnis wieder aufgehoben wird. Einzelne Tatbe­stands­merkmale dürfen innerhalb ihres möglichen Wortsinns nicht so weit ausgelegt werden, dass sie vollständig in anderen Tatbe­stands­merkmalen aufgehen, also zwangsläufig mit diesen mitverwirklicht werden (Verbot der Verschleifung von Tatbe­stands­merkmalen).

Tatbe­stands­merkmale „grob verkehrswidrig“ und „rücksichtslos“ hinreichend präzisiert

Eine Pflicht auch des Straf­ge­setz­gebers, Tatbe­stands­merkmale so zu formulieren, dass keines in einem anderen aufgeht, enthält Art. 103 Abs. 2 GG hingegen nicht. Angesichts seines aus dem Demokra­tie­prinzip folgenden Einschätzungs- und Ermes­sens­spielraums kann es dem Gesetzgeber nicht verwehrt sein, ihm zur Klarstellung wichtige, wenn auch ineinander aufgehende und damit im Ergebnis „verschleifende“ Tatbe­stands­merkmale ausdrücklich in den Gesetzestext aufzunehmen. Um die Anforderungen des Bestimmt­heits­gebots zu erfüllen, genügt es, dass der Gesetzgeber die Strafnormen so fasst, dass sich für den Normadressaten nach allgemeinen Maßstäben Tragweite und Anwen­dungs­bereich der Straf­tat­be­stände erkennen und durch Auslegung ermitteln lassen. Nach diesen Maßstäben ist § 315 d Abs. 1 Nr. 3 StGB mit dem Bestimmt­heitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG zu vereinbaren. § 315 d Abs. 1 Nr. 3 StGB lässt die erfassten Rechtsgüter der Sicherheit des Straßenverkehrs, des Lebens, der körperlichen Integrität und des Eigentums ebenso deutlich werden wie die besonderen Gefahren, vor denen der Gesetzgeber sie schützen will. Die Tatbe­stands­merkmale „grob verkehrswidrig“ und „rücksichtslos“, welche im Straßen­ver­kehr­s­s­trafrecht bereits bestehende Begriffe aufnehmen, sind durch die Judikatur hinreichend präzisiert. Für das Tatbe­stands­merkmal des Fortbewegens mit nicht angepasster Geschwindigkeit kann dem Wortlaut des § 315 d Abs. 1 Nr. 3 StGB der Bezugspunkt zur Bestimmung der nicht angepassten Geschwindigkeit zwar nicht unmittelbar entnommen werden. Dieser ergibt sich aber aus dem Regelungsgehalt der Vorschrift und der Geset­zes­be­gründung. Hinsichtlich des Bezugspunkts der Tatbe­stands­merkmale der groben Verkehrs­wi­drigkeit und Rücksichts­lo­sigkeit bestehen hinreichende Anknüp­fungs­punkte für eine metho­den­ge­rechte Auslegung. Insbesondere kann der ausdrückliche Verweis in den Geset­zes­ma­te­rialien auf § 315 c Abs. 1 Nr. 2 StGB – der ebenfalls als Bezugspunkt einen in der Norm aufgeführten Verkehrsverstoß voraussetzt – zur Auslegung herangezogen werden. Auch der vom Gesetzgeber neu eingeführte Begriff der „höchstmöglichen Geschwindigkeit“ kann im Rahmen seines Wortsinns methodengerecht ausgelegt werden. Zur Bestimmung der Parameter, nach welchen sich die „höchstmögliche Geschwindigkeit“ bemisst, können die Geset­zes­ma­te­rialien herangezogen werden, welche ausdrücklich auf die Straßen-, Sicht- und Wetter­ver­hältnisse verweisen. Ferner lässt die Formulierung des Absichts­merkmals eine Auslegung zu, nach der es nicht darauf ankommt, ob sich der Täter allein mit der Absicht, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, fortbewegt oder noch weitergehende Beweggründe – wie beispielsweise die Flucht vor der Polizei oder den Wunsch nach öffentlicher Anerkennung durch späteres Einstellen eines Videos ins Internet – verfolgt.

Auslegung durch BGH nicht zu beanstanden

Soweit das Absichtsmerkmal mit Blick auf die Abgrenzung zu noch straffreiem, allerdings womöglich nicht umfassend normkonformem oder rücksichts­vollem Verhalten im Straßenverkehr verbleibende Randunschärfen enthält, ist es einer Präzisierung durch die Rechtsprechung innerhalb des Wortsinns zugänglich. Die vom Bundes­ge­richtshof vorgenommene Interpretation des § 315 d Abs. 1 Nr. 3 StGB ist eine mögliche und metho­den­ge­rechte Auslegung der Strafnorm. Wenn dieser davon ausgeht, dass sich die Zielsetzung des Täters nach seinen Vorstellungen auf eine unter Verkehrs­si­cher­heits­ge­sichts­punkten nicht ganz unerhebliche Wegstrecke beziehen müsse und sich nicht nur in der Bewältigung eines räumlich eng umgrenzten Verkehrs­vorgangs erschöpfen dürfe, hält er sich im Rahmen der Wortlautgrenze des § 315 d Abs. 1 Nr. 3 StGB und stellt methodengerecht auf die objektive Gefahrenlage ab. Er nimmt Verhal­tens­weisen im Straßenverkehr von der Strafbarkeit aus, die nach den Vorstellungen des Täters zwar auf das Erreichen einer höchstmöglichen Geschwindigkeit zielen, sich aber subjektiv nur auf eine unter Verkehrs­si­cher­heits­ge­sichts­punkten unerhebliche Wegstrecke beziehen und damit im Grad der abstrakten Gefahr nicht mit einem Kraftfahrzeugrennen vergleichbar sind. Diese Auslegung steht im Einklang mit geset­zes­sys­te­ma­tischen und teleologischen Erwägungen.

Keine unzulässige Verschleifung von Tatbe­stands­merkmalen

Diese Interpretation des Straf­tat­be­stands des § 315 d Abs. 1 Nr. 3 StGB hat eine Verschleifung von Tatbe­stands­merkmalen, die der Gesetzgeber eingrenzend verstanden hat, nicht zur Folge. Insbesondere berücksichtigt sie, dass das Absicht­s­er­for­dernis nicht in der Definition der übrigen Tatbe­stands­merkmale aufgehen darf. Dies ist für die beiden objektiven Tatbe­stands­merkmale der nicht angepassten Geschwindigkeit und der groben Verkehrs­wi­drigkeit bereits deshalb nicht der Fall, weil das Absicht­s­er­for­dernis überschießend über die für diese beiden objektiven Tatbe­stands­merkmale geforderte Vorsatzform des dolus eventualis hinausgeht. Das übersieht das vorlegende Gericht, welches sich letztlich auf eine eigene (verschleifende) Auslegung der Tatbe­stands­merkmale des § 315 d Abs. 1 Nr. 3 StGB beschränkt, die es sodann am Verbot einer solchen Verschleifung misst. Der Eingriff der Vorschrift des § 315 d Abs. 1 Nr. 3 StGB in die allgemeine Handlungs­freiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG ist verhältnismäßig. Denn die Belange des Gemein­schafts­schutzes überwiegen hier die Auswirkungen der Strafnorm des § 315 d Abs. 1 Nr. 3 StGB auf die allgemeine Handlungs­freiheit. Dahinter muss das Interesse, sich unter Verletzung der Straßen­ver­kehrs­ordnung sowie der Missachtung von Rücksicht­nah­me­pflichten gegenüber anderen Verkehrs­teil­nehmern mit höchstmöglicher Geschwindigkeit fortbewegen zu wollen, zurücktreten.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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