18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Urteil13.02.2008

5 %-Klausel bei Kommunalwahlen verstößt gegen Wahlrechts­gleichheit und Chancen­gleichheitBundes­ver­fas­sungs­gericht kippt Sperrklausel in Schleswig-Holstein

Schleswig-Holstein muss die 5 %-Klausel bei Kommunalwahlen abschaffen. Dies hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden. Die Klausel verstößt gegen das Grundgesetz. Verletzt ist der Grundsatz der Chancen­gleichheit und der Wahlrechts­gleichheit. Hinreichende Gründe für eine Eingriff in diese Grundsätze seien nicht ersichtlich.

Der Antrag der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Landesverband Schleswig-Holstein, der sich gegen die Beibehaltung der Fünf-Prozent-Sperrklausel im schleswig-holsteinischen Kommu­nal­wahl­gesetz richtet, war erfolgreich. Die Partei DIE LINKE, Landesverband Schleswig-Holstein war dem Antrag beigetreten. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht stellte nun fest, dass der Landtag Schleswig-Holstein in das Recht der Antragstellerin auf Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit dadurch eingegriffen hat, dass er einen Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bezüglich der Fünf-Prozent-Klausel abgelehnt hat. Dieser Eingriff ist nicht gerechtfertigt. Hinreichende Gründe, die die Beibehaltung der Fünf-Prozent-Sperrklausel zur Sicherung der Funkti­o­ns­fä­higkeit der Kommu­na­l­ver­tre­tungen in Schleswig-Holstein nach den rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen erforderlich machen, sind nicht ersichtlich.

A. Sachverhalt

Das schleswig-holsteinische Kommu­nal­wahl­gesetz sieht seit 1959 eine 5 %-Sperrklausel vor. Danach werden bei der Verteilung der Sitze nur diejenigen Parteien oder Wählergruppen berücksichtigt, die mindestens fünf Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Stimmen erzielt haben.

Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN legte im Mai 2006 dem schleswig-holsteinischen Landtag einen Gesetzesentwurf vor, der unter anderem die Abschaffung der 5 %-Sperrklausel vorsah. Zur Begründung wurde angeführt, dass in mehreren (landes-)verfas­sungs­ge­richt­lichen Entscheidungen festgestellt worden sei, dass die 5 %-Sperrklausel eine Einschränkung der Chancen­gleichheit der Parteien sowie der Wahlgleichheit bedeute. Eine derartige Einschränkung sei nur bei Vorliegen schwerwiegender Gründe, etwa zur Sicherstellung der Handlungs­fä­higkeit der demokratisch legitimierten kommunalen Vertre­tungs­kör­per­schaften gerechtfertigt. Eine 5 %-Sperrklausel bestehe nur noch in drei von dreizehn Flächenländern und den Stadtstaaten; Rheinland-Pfalz habe über sein Kommu­nal­wahlrecht eine faktische Sperrklausel von etwa drei Prozent. Die Abschaffung der Sperrklausel habe in den meisten Flächenländern zu keinen schwerwiegenden Folgen für die Handlungs­fä­higkeit der Kommunen geführt. Durch die Einführung der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte in Schleswig-Holstein sei die Handlungs­fä­higkeit der Kommunen auch dann sichergestellt, wenn es keine klaren Mehrheiten in den Gemeinde- oder Stadt­ver­tre­tungen und Kreistagen gebe.

Der Gesetzesentwurf wurde zur weiteren Beratung und Anhörung in den Innen- und Rechtsausschuss des Landtags überwiesen. Dieser gab diversen Institutionen die Möglichkeit zur Stellungnahme zu dem Gesetzesentwurf. Im Dezember 2006 wurde der Gesetzesentwurf mit der Mehrheit der Stimmen von CDU und SPD gegen die Stimmen von FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW (Südschles­wigscher Wählerverband) abgelehnt.

Die Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Landesverband Schleswig-Holstein, macht im Wege der Organklage geltend, dass der Schleswig-Holsteinische Landtag durch die Ablehnung des Geset­ze­s­entwurfs das Recht der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Gleichheit der Wahl und auf Chancen­gleichheit im politischen Wettbewerb verletzt habe, indem er die Sperrklausel nicht aufgehoben oder abgemildert, sondern ohne hinreichende Begründung beibehalten habe. Mit der 5 %-Sperrklausel sei eine Ungleich­be­handlung derjenigen Wählerstimmen verbunden, die für eine Partei abgegeben werden, die die 5 %-Sperrklausel nicht überwinden könne. Diese Stimmen blieben bei der Sitzverteilung nach dem Verhält­nis­aus­gleich unberück­sichtigt, so dass im Ergebnis die Wähler dieser Parteien nicht den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis hätten wie die Wähler größerer Parteien. Der Landtag sei verpflichtet gewesen, die Erfahrungen, die in anderen Ländern mit ähnlicher Kommu­na­l­ver­fassung, aber ohne Sperrklausel gemacht worden seien, zu erheben und auszuwerten. Der Gesetzgeber müsse eine nachvoll­ziehbare Prognose über die Möglichkeit der Störung der Funkti­o­ns­fä­higkeit der Kommu­na­l­ver­tre­tungen unter Bewertung aller in Betracht kommender Umstände treffen. Er dürfe sich nicht damit begnügen, die für Bundes- und Landtagswahlen entwickelten Grundsätze ohne weiteres auf die Kommunalwahlen zu übertragen.

Im Oktober erklärte die Partei DIE LINKE, Landesverband Schleswig-Holstein, gemäß § 65 Abs. 1 BVerfGG den Beitritt zu dem Verfahren auf der Seite der Antragstellerin. Die Beigetretene sei als Rechts­nach­folger der "Linkspartei", ehemals PDS am 2. September 2007 gegründet worden und sei von der Verfas­sungs­wid­rigkeit der Sperrklausel ebenso betroffen wie die Antragstellerin. Sie mache sich deren Vortrag zu Eigen.

B. Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts

I. Mit 7 : 1 Stimmen bejahte der Zweite Senat die Zulässigkeit des Organ­streit­ver­fahrens. Die Ablehnung des Gesetzesantrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Abschaffung der Fünf-Prozent-Sperrklausel bildet hier einen zulässigen Angriffs­ge­genstand im Organ­streit­ver­fahren. Der Antragsgegner hat sich mit der Beibehaltung der Fünf-Prozent-Sperrklausel im Schleswig-Holsteinischen Kommu­nal­wahlrecht inhaltlich befasst und einen ausdrücklich auf die Abschaffung der Sperrklausel gerichteten Gesetzentwurf im parla­men­ta­rischen Verfahren abgelehnt. Damit steht im vorliegenden Fall die Ablehnung des Gesetzentwurfes dem als Maßnahme zu wertenden Erlass eines Gesetzes gleich. In beiden Fällen befasst sich der Gesetzgeber im parla­men­ta­rischen Verfahren inhaltlich mit der Frage der Sperrklausel im Kommu­nal­wahlrecht und trifft eine Entscheidung, die in die Statusrechte der Antragstellerin eingreift.

Ungleich­ge­wichtung der Wählerstimmen durch 5 %-Klausel

II. Die Fünf-Prozent-Sperrklausel im schleswig-holsteinischen Kommu­nal­wahl­gesetz bewirkt eine Ungleich­ge­wichtung der Wählerstimmen. Sie werden hinsichtlich ihres Erfolgswerts ungleich behandelt, je nachdem, ob die Stimme für eine Partei abgegeben wurde, die mehr als fünf Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, oder für eine Partei, die an der Fünf-Prozent-Sperrklausel gescheitert ist. Letztere Wählerstimmen bleiben ohne Erfolg. Zugleich wird durch die Fünf-Prozent-Sperrklausel das Recht der Antragstellerin auf Chancen­gleichheit beeinträchtigt. Dieser Eingriff in das Recht der Antragstellerin auf Wahlrechts­gleichheit und Chancen­gleichheit ist nicht gerechtfertigt.

Keine Rechtfertigung für 5 %-Klausel

1. Die Fünf-Prozent-Sperrklausel kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass sie dem Zweck diene, verfas­sungs­feindliche oder (rechts-)extremistische Parteien von der Beteiligung an kommunalen Vertre­tungs­organen fernzuhalten. Die Fünf-Prozent-Sperrklausel wirkt nicht nur gegen (unerwünschte) extremistische Parteien, sondern trifft alle Parteien gleichermaßen, ebenso wie kommunale Wähler­ver­ei­ni­gungen und Einzelbewerber. Für die Bekämpfung verfas­sungs­widriger Parteien steht das Partei­ve­r­bots­ver­fahren zur Verfügung.

2. Auch in der Sicherung der Gesamt­wohlo­ri­en­tierung politischer Kräfte kann gegenwärtig kein zwingender Grund für die Beibehaltung der Fünf-Prozent-Sperrklausel gesehen werden. Aus der Garantie der kommunalen Selbst­ver­waltung folgt, dass die Auslese der Kandidaten für die kommunalen Vertre­tungs­kör­per­schaften jedenfalls auch nach partikularen Zielen möglich sein muss und daher nicht ausschließlich den ihrem Wesen und ihrer Struktur nach in erster Linie am Staatsganzen orientierten politischen Parteien vorbehalten werden darf. Es muss daher auch ortsgebundenen, lediglich kommunale Interessen verfolgenden Wählergruppen das Wahlvor­schlagsrecht und ihren Kandidaten eine chancengleiche Teilnahme an den Kommunalwahlen gewährleistet sein.

3. Aus der Erfor­der­lichkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel für Bundestags- oder Landtagswahlen kann nicht ohne weiteres auf die Erfor­der­lichkeit der Sperrklausel auch für Kommunalwahlen geschlossen werden. Bei gesetzgebenden Körperschaften sind klare Mehrheiten zur Sicherung einer politisch aktionsfähigen Regierung unentbehrlich. Anders als staatliche Parlamente üben Gemein­de­ver­tre­tungen und Kreistage dagegen keine Gesetz­ge­bung­s­tä­tigkeit aus. Vielmehr sind ihnen in erster Linie verwaltende Tätigkeiten anvertraut.

4. Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, das Ziel der Sicherstellung der Funkti­o­ns­fä­higkeit der Volksvertretung mit dem Gebot der Wahlgleichheit und der Chancen­gleichheit politischer Parteien zum Ausgleich zu bringen. Bei seiner Progno­se­ent­scheidung darf sich der Gesetzgeber aber nicht auf die Feststellung der rein theoretischen Möglichkeit einer Beein­träch­tigung der Funkti­o­ns­fä­higkeit beschränken; erforderlich ist vielmehr eine mit einiger Wahrschein­lichkeit zu erwartende Beein­träch­tigung.

Hinreichende Gründe, die die Beibehaltung der Fünf-Prozent-Sperrklausel zur Sicherung der Funkti­o­ns­fä­higkeit der Kommu­na­l­ver­tre­tungen in Schleswig-Holstein nach den rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen erforderlich machen, sind nicht ersichtlich. Bei der Progno­se­ent­scheidung des Gesetzgebers kommt der Ausgestaltung des Kommu­na­l­ver­fas­sungs­rechts in Schleswig-Holstein entscheidendes Gewicht zu.

a) Mit der Einführung der Direktwahl der Bürgermeister in hauptamtlich verwalteten Gemeinden sowie der Landräte ist das zentrale Element weggefallen, das bislang die Rechtfertigung der Fünf-Prozent-Sperrklausel im schleswig-holsteinischen Kommu­nal­wahlrecht gestützt hat. Nach der Änderung der Kommu­na­l­ver­fassung in Schleswig-Holstein im Jahr 1995 sind für die Wahl der hauptamtlichen Bürgermeister und der Landräte stabile Mehrheits­ver­hältnisse, die durch das Auftreten von Split­ter­parteien in Kommu­na­l­ver­tre­tungen und Kreistagen gefährdet werden könnten, nicht mehr notwendig. Die Direktwahl des Bürgermeisters bzw. des Landrats garantiert zudem weitgehend eine funktionierende Gemein­de­ver­waltung unabhängig von den Mehrheits­ver­hält­nissen in der Gemein­de­ver­tretung. Denn der Bürgermeister trägt in eigener Zuständigkeit die alleinige umfassende Verantwortung für die Leitung der Gemein­de­ver­waltung.

Der Umstand, dass in ehrenamtlich verwalteten Gemeinden die Gemein­de­ver­tretung nach wie vor für die Wahl des Bürgermeisters zuständig ist, kann die Beibehaltung der Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht rechtfertigen. In sämtlichen ehrenamtlich verwalteten Gemeinden muss ein Wahlbewerber, um sicher einen Sitz in der Gemein­de­ver­tretung zu erlangen, ohnehin mindestens fünf Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen. Dies beruht darauf, dass alle ehrenamtlich verwalteten Gemeinden in Schleswig-Holstein weniger als 10.000 Einwohner haben, was dazu führt, dass maximal 19 Gemein­de­ver­treter zu wählen sind. Bei einem zu wählenden Gremium mit 19 Sitzen beträgt schon die faktische Sperrklausel fünf Prozent. Der Wegfall der gesetzlich normierten Fünf-Prozent-Sperrklausel würde sich in den ehrenamtlich verwalteten Gemeinden - und damit in nahezu 95 Prozent aller schleswig-holsteinischen Gemeinden - praktisch nicht auswirken.

b) Auch bei einer größeren Anzahl von Fraktionen oder Einzel­ver­tretern in der Gemein­de­ver­tretung oder im Kreistag drohen keine nachhaltigen Gefahren für die Funkti­o­ns­fä­higkeit der Kommu­na­l­ver­tretung. Für Sachent­schei­dungen reicht bereits eine relative Abstim­mungs­mehrheit aus. Bei Wahlen gilt grundsätzlich das Meist­stim­men­ver­fahren. Danach ist der Kandidat gewählt, auf den mindestens eine Stimme mehr entfällt als auf eine andere vorgeschlagene Person.

c) Darüber hinaus liegt eine gänzliche Funktions- und Entschei­dungs­un­fä­higkeit in Anbetracht der Regelungen der Gemeinde- und der Kreisordnung fern, die insbesondere die Entschei­dungs­fä­higkeit der Kommu­na­l­ver­tre­tungen auch dann sicherstellen, wenn das übliche Quorum der Beschluss­fä­higkeit nicht zu erreichen ist. In der Praxis betrifft dies vor allem die Fälle, in denen die Beschlus­s­un­fä­higkeit von mehreren Mitgliedern der Gemein­de­ver­tretung oder des Kreistags durch Verlassen einer Sitzung herbeigeführt wird.

d) Auch eine Gefährdung der Arbeit in den Ausschüssen ist nicht ernstlich zu befürchten. Die Gemeinde kann die Zahl der Mitglieder der ständigen Ausschüsse frei bestimmen. Dabei ist nicht von Belang, ob durch die Größe des Ausschusses gewährleistet ist, dass alle Fraktionen darin mitwirken können. Eine bestimmte Anzahl von Sitzen in der Gemein­de­ver­tretung berechtigt Fraktionen nicht, eine Erhöhung der Ausschusssitze zu verlangen, um dann dort berücksichtigt zu werden.

e) Schließlich können die in den anderen Ländern ohne Fünf-Prozent-Sperrklausel gemachten Erfahrungen bei der Progno­se­ent­scheidung nicht gänzlich außer Betracht gelassen werden. Seit der Reformierung der Kommu­na­l­ver­fas­sungen bestehen in nahezu allen Flächenländern wesentliche Überein­stim­mungen in den Kommu­na­l­ver­fas­sungen. Daher spielt für die Progno­se­ent­scheidung auch eine Rolle, dass schwerwiegende Störungen der Funkti­o­ns­fä­higkeit der Kommu­na­l­ver­tre­tungen aus anderen Ländern ohne Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht bekannt geworden sind.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 16/08 des BVerfG vom 13.02.2008

der Leitsatz

Nur die mit einiger Wahrschein­lichkeit zu erwartende Beein­träch­tigung der Funkti­o­ns­fä­higkeit der kommunalen Vertre­tungs­organe kann die Fünf-Prozent-Sperrklausel rechtfertigen.

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