21.11.2024
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Dokument-Nr. 12533

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Urteil09.11.2011Bundesverfassungsgericht2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10 und 2 BvC 8/10
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • BVerfGE 129, 300Sammlung: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE), Band: 129, Seite: 300
  • DÖV 2012, 75Zeitschrift: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV), Jahrgang: 2012, Seite: 75
  • JA 2012, 316 (Christian Hillgruber)Zeitschrift: Juristische Arbeitsblätter (JA), Jahrgang: 2012, Seite: 316, Entscheidungsbesprechung von Christian Hillgruber
  • JZ 2012, 90Zeitschrift: JuristenZeitung (JZ), Jahrgang: 2012, Seite: 90
  • NVwZ 2012, 33Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ), Jahrgang: 2012, Seite: 33
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Bundesverfassungsgericht Urteil09.11.2011

BVerfG: Fünf-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht verfas­sungs­widrigVerfassungs­widrigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel führt nicht zu Anordnung von Neuwahlen

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass die bei der Europawahl 2009 (7. Wahlperiode) geltende Fünf-Prozent-Sperrklausel unter den gegenwärtigen Verhältnissen gegen die Grundsätze der Wahl­rechts­gleichheit und der Chancen­gleichheit der politischen Parteien verstößt, und daher die der Sperrklausel zugrunde liegende Vorschrift des § 2 Abs. 7 Europa­wahl­gesetz (EuWG) für nichtig erklärt. Demgegenüber hat der Senat die von einem Beschwer­de­führer gerügte Verhältniswahl auf der Grundlage „starrer“ Listen nicht beanstandet. Die Verfassungs­widrigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel führt jedoch nicht dazu, die Wahl zum Europäischen Parlament des Jahres 2009 für ungültig zu erklären und eine Neuwahl anzuordnen.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht begründete sein Urteil im Wesentlichen damit, dass das Europa­wahl­gesetz als deutsches Bundesrecht an den im Grundgesetz verankerten Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien zu messen ist. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl gebietet bei der Verhältniswahl, die auch für die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments gilt, dass - über die Zählwert­gleichheit hinaus - jeder Wähler mit seiner Stimme den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben muss. Der Grundsatz der Chancen­gleichheit der Parteien verlangt, dass jeder Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden.

Fünf-Prozent-Sperrklausel beeinträchtigt Anspruch der politischen Parteien auf Chancen­gleichheit

Die Fünf-Prozent-Sperrklausel bewirkt eine Ungleich­ge­wichtung der Wählerstimmen hinsichtlich ihres Erfolgswerts, weil diejenigen Wählerstimmen, die für Parteien abgegeben worden sind, die an der Sperrklausel gescheitert sind, ohne Erfolg bleiben. Zugleich wird durch die Fünf-Prozent-Sperrklausel der Anspruch der politischen Parteien auf Chancen­gleichheit beeinträchtigt.

Gesetzgeber muss Regelung des Wahlrechts bei Beein­träch­ti­gungen der Wahlgleichheit und Chancen­gleichheit ggf. überprüfen und ändern

Diffe­ren­zierende Regelungen bei der Wahlrechts­gleichheit und Chancen­gleichheit der Parteien bedürfen stets eines besonderen, sachlich legitimierten, „zwingenden“ Grundes. Sie müssen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. Der Gesetzgeber hat eine die Wahlgleichheit und die Chancen­gleichheit berührende Regelung des Wahlrechts zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, wenn die verfas­sungs­rechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch neue Entwicklungen in Frage gestellt wird.

Ausgestaltung des Europa­wahl­rechts unterliegt strikter verfas­sungs­ge­richt­licher Kontrolle

Für Diffe­ren­zie­rungen verbleibt dem Gesetzgeber nur ein eng bemessener Spielraum. Die Ausgestaltung des Europa­wahl­rechts unterliegt einer strikten verfas­sungs­ge­richt­lichen Kontrolle, weil die Gefahr besteht, dass der deutsche Wahlgesetzgeber mit einer Mehrheit von Abgeordneten die Wahl eigener Parteien auf europäischer Ebene durch eine Sperrklausel und den hierdurch bewirkten Ausschluss kleinerer Parteien absichern könnte. Die allgemeine und abstrakte Behauptung, durch den Wegfall der Fünf-Prozent-Sperrklausel werde der Einzug kleinerer Parteien und Wähler­ge­mein­schaften in die Vertre­tungs­organe erleichtert und dadurch die Willensbildung in diesen Organen erschwert, kann den Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechts­gleichheit und der Chancen­gleichheit nicht rechtfertigen. Zur Rechtfertigung der Fünf-Prozent-Sperrklausel bedarf es vielmehr der mit einiger Wahrschein­lichkeit zu erwartenden Beein­träch­tigung der Funkti­o­ns­fä­higkeit der Vertre­tungs­organe.

Nach diesen Maßstäben durfte die Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht beibehalten werden. Die bei der Europawahl 2009 gegebenen und fortbestehenden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse bieten keine hinreichenden Gründe, die den mit der Sperrklausel verbundenen schwerwiegenden Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechts­gleichheit und der Chancen­gleichheit der politischen Parteien rechtfertigen.

Beein­träch­ti­gungen des Europäischen Parlaments in seiner Funkti­o­ns­fä­higkeit durch Wegfall der Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht ausreichend begründet

Die Einschätzung des Gesetzgebers, dass das Europäische Parlament mit dem Wegfall der Fünf-Prozent-Sperrklausel in seiner Funkti­o­ns­fä­higkeit beeinträchtigt werde, kann sich nicht auf ausreichende tatsächliche Grundlagen stützen und trägt den spezifischen Arbeits­be­din­gungen des Europäischen Parlaments sowie seiner Aufga­ben­stellung nicht angemessen Rechnung. Zwar ist zu erwarten, dass ohne Sperrklausel in Deutschland - sowie unter Berück­sich­tigung einer möglichen Beseitigung von Zugangs­be­schrän­kungen in anderen Mitgliedstaaten - die Zahl der nur mit einem oder zwei Abgeordneten im Europäischen Parlament vertretenen Parteien zunimmt und es sich dabei auch nicht um eine zu vernach­läs­sigende Größenordnung handelt. Ohne Sperrklausel in Deutschland wären statt aktuell 162 dann 169 Parteien im Europäischen Parlament vertreten. Es ist jedoch nicht erkennbar, dass dadurch die Funkti­o­ns­fä­higkeit des Europäischen Parlaments mit der erforderlichen Wahrschein­lichkeit beeinträchtigt würde. Zentrale Arbeits­ein­heiten des Europäischen Parlaments sind die Fraktionen, die über eine erhebliche Integra­ti­o­nskraft verfügen und es über die Jahre hinweg vermocht haben, namentlich die im Zuge der Erweiterungen der Europäischen Union hinzutretenden Parteien trotz der großen Bandbreite der verschiedenen politischen Strömungen zu integrieren. Nach diesen Erfahrungen ist jedenfalls grundsätzlich davon auszugehen, dass auch weitere Kleinparteien, die beim Fortfall der Sperrklauseln im Europäischen Parlament vertreten wären, sich den bestehenden Fraktionen anschließen können.

Zu erwartende Beein­träch­tigung der Funkti­o­ns­fä­higkeit des Europäischen Parlaments nicht hinreichend belegt

Gleiches gilt für die Fähigkeit der Fraktionen, durch Absprachen in angemessener Zeit zu Mehrheits­ent­schei­dungen zu kommen. Die „etablierten“ Fraktionen im Europäischen Parlament haben sich in der parla­men­ta­rischen Praxis koope­ra­ti­o­ns­bereit gezeigt und sind in der Lage, die erforderlichen Abstim­mungs­mehr­heiten zu organisieren. Es ist nicht ersichtlich, dass bei Wegfall der Fünf-Prozent-Sperrklausel mit Abgeordneten kleiner Parteien in einer Größenordnung zu rechnen wäre, die es den vorhandenen politischen Gruppierungen im Europäischen Parlament unmöglich machen würde, in einem geordneten parla­men­ta­rischen Prozess zu Entscheidungen zu kommen. Schließlich zeigt die Entwicklung des Europäischen Parlaments, dass entsprechende Anpassungen der parla­men­ta­rischen Arbeit an veränderte Gegebenheiten wie etwa eine Zunahme der Zahl fraktionsloser Abgeordneter zu erwarten sind. Zwar ist von den in der mündlichen Verhandlung gehörten Sachkundigen und Abgeordneten des Europäischen Parlaments übereinstimmend die Erwartung geäußert worden, dass mit dem Einzug weiterer Kleinparteien in das Europäische Parlament die Mehrheits­ge­winnung erschwert werde. Damit allein ist jedoch noch keine hinreichend wahrscheinlich zu erwartende Beein­träch­tigung der Funkti­o­ns­fä­higkeit des Europäischen Parlaments dargelegt.

Des Weiteren sind die Aufgaben des Europäischen Parlaments durch die europäischen Verträge so ausgestaltet, dass es an zwingenden Gründen, in die Wahl- und Chancen­gleichheit einzugreifen, fehlt. Eine - bei der Wahl zum Deutschen Bundestag - vergleichbare Interessenlage besteht auf europäischer Ebene nach den europäischen Verträgen nicht. Das Europäische Parlament wählt keine Unionsregierung, die auf seine fortlaufende Unterstützung angewiesen wäre. Ebenso wenig ist die Gesetzgebung der Union von einer gleich­blei­benden Mehrheit im Europäischen Parlament abhängig, die von einer stabilen Koalition bestimmter Fraktionen gebildet würde und der eine Opposition gegenüberstünde. Zudem ist die unionale Gesetzgebung nach dem Primärrecht so konzipiert, dass sie nicht von bestimmten Mehrheits­ver­hält­nissen im Europäischen Parlament abhängig ist.

Wahl nach „starren“ Listen verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden

Die gegen die Wahl nach „starren“ Listen erhobene Rüge greift dagegen nicht durch. Nach dem Unionsrecht bleibt es den Mitgliedstaaten vorbehalten, sich entweder für eine Wahl mit gebundenen - durch den Wähler nicht veränderbaren - Listen oder für offene - die Möglichkeit der Veränderung der Reihenfolge der Wahlbewerber auf den Wahlvorschlägen gewährende - Listen zu entscheiden. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat bereits für nationale Wahlen wiederholt festgestellt, dass die Wahl nach „starren“ Listen verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden ist. Neue Argumente, die für die Europawahl Anlass zu einer anderen Beurteilung geben könnten, sind nicht vorgetragen worden.

Wahl zum Europäischen Parlament des Jahres 2009 in Deutschland muss aufgrund des Wahlfehlers nicht für ungültig erklärt werden

Die Verfassungswidrigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel hat die Nichti­g­er­klärung der sie regelnden Bestimmung des § 2 Abs. 7 EuWG zur Folge. Der Wahlfehler führt jedoch nicht dazu, die Wahl zum Europäischen Parlament des Jahres 2009 in Deutschland für ungültig zu erklären und eine erneute Wahl anzuordnen. Denn im Rahmen der gebotenen Abwägung ist dem Bestandsschutz der im Vertrauen auf die Verfas­sungs­mä­ßigkeit des Europa­wahl­ge­setzes zusam­men­ge­setzten Volksvertretung Vorrang gegenüber der Durchsetzung des festgestellten Wahlfehlers einzuräumen. Eine Neuwahl in Deutschland wirkte sich störend und mit nicht abschätzbaren Folgen auf die laufende Arbeit des Europäischen Parlaments aus, insbesondere auf die Zusammenarbeit der Abgeordneten in den Fraktionen und Ausschüssen. Demgegenüber ist der Wahlfehler nicht als „unerträglich“ anzusehen. Er betrifft nur einen geringen Anteil der Abgeordneten des deutschen Kontingents und stellt die Legitimation der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments in ihrer Gesamtheit nicht in Frage.

Sondervotum der Richter Di Fabio und Mellinghoff

Die Richter Di Fabio und Mellinghoff tragen die Entscheidung in Ergebnis und Begründung nicht mit. Sie sind der Auffassung, dass die Senatsmehrheit durch eine zu formelhafte Anlegung der Prüfungs­maßstäbe den Eingriff in die Wahlrechts­gleichheit und die Chancen­gleichheit politischer Parteien nicht überzeugend gewichte. Der Senat ziehe den Gestal­tungs­spielraum des Wahlge­setz­gebers zu eng und nehme eine mögliche Funkti­o­ns­be­ein­träch­tigung des Europa­pa­r­laments trotz dessen gewachsener politischer Verantwortung in Kauf.

Die Fünf-Prozent-Sperrklausel sei keine bereits dem Grunde nach verbotene Differenzierung. Sie stelle vielmehr eine ergänzende Regelung zum Verhält­nis­wahlrecht dar. Das Verhält­nis­wahl­system mit der Annexbedingung einer Fünf-Prozent-Sperrklausel sei aus Sicht der Erfolgs­wert­gleichheit weitaus weniger einschneidend als ein - vom Grundgesetz ebenfalls erlaubtes - einstufiges Mehrheits­wahl­system, welches dazu führen könne, dass sogar mehr als 50 % der im Wahlkreis abgegebenen Stimmen ohne jede Mandatswirkung blieben. Die Wahlgrundsätze aus Art. 38 GG nötigten nicht zur Ausgestaltung eines reinen Wahlsystems, sondern ließen Modifikationen und Mischungen zu. Die verfas­sungs­ge­richtliche Prüfung dürfe kein einzelnes Element eines Wahlsystems herausgreifen und daran strenge Gleich­heits­an­for­de­rungen richten. Wahlrechts­fragen seien der politischen Gestaltung des Gesetzgebers unterworfen, dessen Regelungs­auftrag angesichts der Allgemeinheit der Wahlgrundsätze dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht Zurückhaltung auferlege.

Die Fünf-Prozent-Sperrklausel sei sachlich gerechtfertigt, um für das deutsche Kontingent eine zu weitgehende Zersplitterung der im Europaparlament vertretenen politischen Parteien zu verhindern. Dabei trage Deutschland zusammen mit den anderen Mitgliedstaaten insgesamt Verantwortung für die Funkti­o­ns­fä­higkeit des Europa­pa­r­laments. Gerade die Staaten mit größeren Mandats­kon­tin­genten leisteten in ihrem Gestal­tungs­rahmen durchaus Beiträge gegen eine weitere Zergliederung des Europa­pa­r­laments. Neben Sperrklauseln enthielten die Wahlsysteme in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch wahltechnische Ausgestaltungen, die ohnehin zu Differenzen in der Erfolgs­wert­gleichheit führten. Mit der isolierten Aufhebung der deutschen Fünf-Prozent-Sperrklausel durch den Senat werde daher im europäischen Umfeld ein Sonderweg beschritten. Der Diffe­ren­zie­rungsgrund der Funkti­o­ns­be­ein­träch­tigung des Parlaments werde durch den Senat letztlich auf eine Funkti­o­ns­un­fä­higkeit begrenzt, ohne dass die Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hierfür eine Grundlage biete. Ein sachlicher Grund für die Rechtfertigung der Fünf-Prozent-Sperrklausel bestehe bereits in der Verringerung möglicher Funkti­o­ns­be­ein­träch­ti­gungen des Europa­pa­r­laments und liege nicht erst dann vor, wenn dessen künftige Handlungs­un­fä­higkeit zu erwarten sei.

Der Umstand, dass es dem Europaparlament bisher - unter Bedingungen großer Heterogenität - gelungen sei, eine mehrheitsfähige Willensbildung herbeizuführen, könne kein Argument dafür sein, dass die Verhinderung einer zusätzlichen parla­men­ta­rischen Zergliederung die Sperrklausel nicht rechtfertigen könne. Jede weitere politische Fragmentierung erhöhe den zeitlichen und personellen Aufwand, Konsens herbeizuführen und verkleinere größere politische Richtungen mit Wieder­er­ken­nungswert für die Wähler. Dem Gesetzgeber müsse, gerade vor dem Hintergrund, dass sich das Europaparlament nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon in einer neuen Phase seiner Entwicklung befinde, ein Spielraum für die Beurteilung von Funkti­o­ns­risiken zugebilligt werden.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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