18.10.2024
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Sie sehen einen Teil der Glaskuppel und einen Turm des Reichstagsgebäudes in Berlin.

Dokument-Nr. 34230

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Bundesverfassungsgericht Urteil30.07.2024

Bundes­wahl­gesetz 2023 überwiegend verfas­sungsgemäßAllein die 5 %-Sperrklausel ist derzeit verfas­sungs­widrig

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass das Zweit­stimmen­deckungs­verfahren in § 1 Abs. 3, § 6 Abs. 1, Abs. 4 Sätze 1, 2 Bundes­wahl­gesetz (BWahlG) mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar ist. Die 5 %-Sperrklausel in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG verstößt aber derzeit gegen Art. 21 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Bis zu einer Neuregelung gilt sie mit der Maßgabe fort, dass bei der Sitzverteilung Parteien mit weniger als 5 % der Zweitstimmen nur dann nicht berücksichtigt werden, wenn ihre Bewerber in weniger als drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen auf sich vereinigt haben.

Am 17. März 2023 beschloss der Bundestag mit der Mehrheit der Regie­rungs­frak­tionen Änderungen des BWahlG. Danach sieht das BWahlG für die Bundestagswahl Folgendes vor: Jeder Wähler hat zwei Stimmen: die Erststimme für die Wahl eines Wahlkreis­kan­didaten und die Zweitstimme für die Wahl der Landesliste einer Partei. Zunächst werden die 630 Bundestagssitze (§ 1 Abs. 1 Satz 1 BWahlG) auf die Parteien und ihre Landeslisten verteilt: Jede Partei erhält die ihr nach dem bundesweiten Zweit­stim­men­er­gebnis zustehende Sitzzahl (§ 4 Abs. 2 BWahlG). Diese Sitze werden dann auf die Landeslisten der jeweiligen Partei anhand ihrer jeweiligen Anteile an dem bundesweiten Zweit­stim­men­er­gebnis verteilt (§ 4 Abs. 3 BWahlG). Sodann wird die Beset­zungs­rei­henfolge für diese Sitzkontingente bestimmt: Die erfolgreichen Wahlkreis­be­werber – also diejenigen mit den meisten Erststimmen ihres Wahlkreises – rücken in der Rangfolge ihrer Stimmanteile an die Spitze der Landesliste ihrer Partei und werden bei der Vergabe der Sitze zuerst berücksichtigt. Übersteigt die Zahl der einer Landesliste nach dem Zweit­stim­men­er­gebnis zustehenden Sitze die Zahl ihrer erfolgreichen Wahlkreis­be­werber, werden die übrigen Sitze an Listenbewerber vergeben. Übersteigt die Zahl der erfolgreichen Wahlkreis­be­werber einer Landesliste die Zahl ihrer nach Zweitstimmen gedeckten Sitze, so erhalten die Wahlkreis­be­werber mit den geringsten Erststim­me­n­an­teilen keinen Sitz zugeteilt (Zweit­stim­men­de­ckungs­ver­fahren, § 6 Abs. 1, Abs. 4 Sätze 1, 2 BWahlG). Nach § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG werden Parteien, die bundesweit weniger als 5 % der Zweitstimmen erhalten haben, nicht bei der Verteilung der Sitze berücksichtigt (5 %-Sperrklausel). Ihre Kandidaten ziehen daher nicht in den Bundestag ein. Gegen das Zweit­stim­men­de­ckungs­ver­fahren und die 5 %-Sperrklausel als nunmehr alleinige Zugangshürde zum Sitzver­tei­lungs­ver­fahren haben die Bayerische Staatsregierung und 195 Mitglieder CDU/CSU-Bundes­tags­fraktion Normenkontrolle beantragt. Die CSU hat als Partei Organklage gegen den Bundestag wegen des Erlasses des Gesetzes zur Änderung des BWahlG erhoben und greift ebenfalls diese Regelungen an; die CDU ist dieser Organklage beigetreten. Zwei weitere Organklagen der Partei DIE LINKE und der damaligen Bundes­tags­fraktion DIE LINKE gegen den Bundestag sowie eine Verfas­sungs­be­schwerde von 212 ihrer „Wähler/Sympathisanten“ wenden sich inhaltlich gegen die nicht mehr mit einer „Grund­man­dats­klausel“ versehene Sperrklausel. Gegen die Sperrklausel als solche haben auch 4.242 Personen Verfas­sungs­be­schwerde eingelegt.

Organklagen und Verfas­sungs­be­schwerden nur teilweise zulässig

Die Normen­kon­troll­ver­fahren sind zulässig. Die Organklagen und Verfas­sungs­be­schwerden sind nur teilweise zulässig. Unzulässig ist insbesondere der Organ­kla­ge­antrag der damaligen Fraktion DIE LINKE. Dabei kann offenbleiben, welche Folgen die Auflösung der Fraktion zum 6. Dezember 2023 für die zuvor eingereichte Organklage hat. Denn es fehlt an der Antragsbefugnis. Eine Fraktion hat weder ein Recht, auch nach der nächsten Wahl im Bundestag vertreten zu sein, noch kann sie sich als Fraktion auf das in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG wurzelnde Abgeord­ne­tenrecht auf Beratung und Beschluss­fassung im Bundestag berufen. Die Regelungen des Verfahrens der Zweit­stim­men­deckung sind mit Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 und Art. 21 Abs. 1 GG vereinbar. Die 5 %-Sperrklausel ist mit diesen Maßstäben unvereinbar. In formeller Hinsicht sind die angegriffenen Normen verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere weist das Gesetz­ge­bungs­ver­fahren keine Umstände auf, die dafür sprechen, dass der Deutsche Bundestag seinen Gestal­tungs­spielraum bei der Bestimmung der Verfah­rens­a­bläufe im Parlament überschritten haben könnte. Zwar ist die Wahlrechts­reform nicht im Konsens beschlossen worden, sondern lediglich mit der Mehrheit der Regie­rungs­frak­tionen. Diese Möglichkeit ist dem Gesetzgeber durch Art. 38 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG jedoch ausdrücklich eröffnet. Auch der Umstand, dass die im Gesetzentwurf vorgesehene „angepasste Grund­man­dats­klausel“ (erst) im Zuge der abschließenden Ausschuss­be­ra­tungen gestrichen wurde, stellt keine Missachtung der Abgeord­ne­ten­rechte oder des Öffent­lich­keits­grund­satzes dar. Die parla­men­ta­rische Beratung dient gerade der Möglichkeit, einen Gesetzentwurf zu verändern. Im vorliegend zu beurteilenden Gesetz­ge­bungs­ver­fahren standen den Abgeordneten ohnehin genügend Informationen über die Bedeutung der „angepassten Grund­man­dats­klausel“ bzw. Wahlkreis­klausel und ihres Fehlens zur Verfügung.

Die Normen­kon­trol­lanträge haben teilweise Erfolg. Für das Wahlrecht weist Art. 38 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber die Aufgabe der näheren Ausgestaltung zu. Ihre Grenzen findet die gesetz­ge­be­rische Gestal­tungs­be­fugnis in den Wahlgrundsätzen nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Danach werden die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl gebietet dabei, dass alle Wahlbe­rech­tigten das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können. Zudem muss der Wahlgesetzgeber die Chancen­gleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG) wahren. Danach müssen jeder Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Das Recht der Parteien auf Chancen­gleichheit hängt eng mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen. Die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancen­gleichheit der Parteien unterliegen keinem absoluten Diffe­ren­zie­rungs­verbot. Dem Gesetzgeber verbleibt bei der Ordnung des Wahlrechts ein eng bemessener Spielraum für Diffe­ren­zie­rungen. Nach diesen Maßstäben ist das Zweit­stim­men­de­ckungs­ver­fahren mit dem Grundgesetz vereinbar. Der Gesetzgeber kann Neuerungen einführen, die dem bisherigen Wahlrecht fremd waren und Wählerinnen und Wählern ebenso wie Bewerbern und Parteien ein Umdenken abverlangen. Sein Entschluss, das Wahlrecht zu reformieren, ist nicht an besondere Voraussetzungen gebunden. Das Zweit­stim­men­de­ckungs­ver­fahren stellt keine Abkehr von den Grundzügen des bisherigen Wahlrechts dar. Der Gesetzgeber hat sich im Rahmen seines weiten Gestal­tungs­spielraums für die Beibehaltung der Wahlkreiswahl sowie der Verhältniswahl nach Landeslisten entschieden.

Den damit zwingend verbundenen Ausgleich zwischen den Ergebnissen der Wahlkreiswahl und der Verhältniswahl hat er hingegen — ebenfalls im Rahmen seines weiten Gestal­tungs­spielraums — neu gestaltet. Nach altem Recht wurden Bundes­tags­mandate sowohl nach dem Ergebnis der Wahlkreiswahl als auch nach dem Ergebnis der Listenwahl zugeteilt: Zunächst erhielten erfolgreiche Wahlkreis­be­werber ein Mandat (Direktmandat). Der Ausgleich erfolgte anschließend, indem beim Sitzzu­tei­lungs­ver­fahren an die Parteien die Wahlkreis­mandate auf die Sitze der Landeslisten angerechnet wurden. Nach dem Zweit­stim­men­de­ckungs­ver­fahren werden vor dem Ausgleich keine Mandate vergeben. Zunächst erfolgt die Verteilung der 630 Sitze auf die Parteien und ihre Landeslisten. Sodann wird die Beset­zungs­rei­henfolge für jedes dieser Sitzkontingente bestimmt. Hier rücken erfolgreiche Wahlkreis­be­werber in der Rangfolge ihrer Stimmanteile an die Spitze der Landesliste. Erst im letzten Schritt erhalten alle Bewerberinnen und Bewerber in dieser Reihenfolge ihre Mandate.

Zweit­stim­men­deckung mit Grundgesetz vereinbar

Die Kritik, dass sich der Gesetzgeber nicht entweder für ein reines Mehrheits- oder für ein reines Verhält­nis­wahlrecht entschieden habe, übersieht, dass er nach ständiger Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts die Verhältniswahl mit Elementen der Personenwahl verbinden darf. Aus der Beibehaltung einer Kombination von Verhältniswahl und Wahlkreiswahl folgt jedoch nicht, dass auch das bisherige Ausgleichs­ver­fahren beibehalten werden müsste und nicht neu konzipiert werden könnte. Der Gesetzgeber darf sich für eine andere Kombination entscheiden. Soweit geltend gemacht wird, das Zweit­stim­men­de­ckungs­ver­fahren verstoße gegen ein Gebot der Regio­na­li­sierung oder der Wahlkreis­re­prä­sen­tation, finden solche Gebote im Grundgesetz und im bisherigen Wahlrecht keine Stütze. Die weiter geübte Kritik, die Neuregelung enthalte Widersprüche und dem Zweit­stim­men­de­ckungs­ver­fahren fehle es an Folge­rich­tigkeit, läuft schon deshalb ins Leere, weil sie auf dem gedanklichen Festhalten an Grundsätzen beruht, die den bisherigen Regelungen des Ausgleichs entnommen werden.

Wenn aus einigen Wahlkreisen nicht der Wahlkreis­be­werber mit den meisten Stimmen in den Bundestag einzieht, sondern der Wahlkreis durch andere (Listen-)Abgeordnete im Bundestag vertreten wird, kann darin ein Widerspruch nur erkannt werden, wenn für die Wählerinnen und Wähler in einem Wahlkreis die Wahlkreiswahl als die allein maßgebliche Wahl für die Zuteilung eines Mandats angesehen würde. Nach dem Zweit­stim­men­de­ckungs­ver­fahren ist jedoch die Wahlkreiswahl gerade nicht allein entscheidend für den Erhalt eines Mandats. Es sorgt vielmehr dafür, dass jeder Abgeordnete des Bundestages durch die Zweitstimmen für seine Partei legitimiert ist.

Das Zweit­stim­men­de­ckungs­ver­fahren verletzt die Wahlgleichheit gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG nicht. Zwar werden Wahlstimmen für einen unabhängigen Bewerber im Fall seines Erfolges anders behandelt als Wahlstimmen für Wahlkreis­be­werber einer Partei. Insbesondere erhält der unabhängige Bewerber ein Bundes­tags­mandat gemäß § 6 Abs. 2 BWahlG unabhängig vom Sitzver­ga­be­ver­fahren nach dem Zweit­stim­men­er­gebnis. Diese Ungleich­be­handlung ist jedoch gerechtfertigt. Das Zweistim­men­wahlrecht des BWahlG sieht einen Ausgleich zwischen dem Erst- und dem Zweit­stim­men­er­gebnis vor. Ist ein solcher Ausgleich ausgeschlossen, weil zwischen Wahlkreis­be­werber und Landesliste kein Ausgleichs­zu­sam­menhang hergestellt werden kann, ist eine besondere Berück­sich­tigung dieser Konstellation zwingend. Die Möglichkeit, unabhängige Wahlkreis­be­werber vorzuschlagen, sichert das Wahlvor­schlagsrecht aller Wahlbe­rech­tigten unabhängig von politischen Parteien als Kernstück des Bürgerrechts auf aktive Teilnahme an der Wahl. Darüber hinaus führt das Zweit­stim­men­de­ckungs­ver­fahren nicht zur Ungleich­be­handlung von Wahlstimmen. Alle Wahlstimmen haben den gleichen Zählwert. Soweit Wählerinnen und Wähler mit ihrer Erststimme einen Wahlkreis­be­werber einer Partei wählen, wird diese Stimme bei der Auszählung als eine Stimme für diesen Wahlkreis­be­werber ausgewiesen.

Auch die Erfolgschancen der Erststimmen sind gleich. Jede Erststimme führt dann zu einem Mandat für den Wahlkreis­be­werber, wenn zum einen der Bewerber die meisten Erststimmen im Wahlkreis und zum anderen die Landesliste seiner Partei so viele Zweitstimmen erhält, dass ihr Sitzkontingent für alle ihre erfolgreichen Wahlkreis­be­werber mit dem gleichen oder besseren Erststim­me­n­anteil ausreicht. Beide Bedingungen sind ausschließlich vom Wahlergebnis abhängig. Auch die Stimmen für einen erfolgreichen Wahlkreis­be­werber, der ein Mandat im Zweit­stim­men­de­ckungs­ver­fahren erhält, und die Stimmen für einen erfolgreichen Bewerber in einem anderen Wahlkreis, der kein Mandat erhält, werden nicht ungleich behandelt. Die Nichtzuteilung des Mandats an den erfolgreichen Bewerber ohne Zweit­stim­men­deckung ist das Ergebnis des vom Gesetzgeber gewählten Zutei­lungs­me­cha­nismus, der von zwei Voraussetzungen abhängig ist (Erlangung der meisten Erststimmen im Wahlkreis und Zweit­stim­men­deckung durch die Landesliste). Der Erfolgswert der Wahlstimmen bestimmt sich entsprechend nach diesen beiden Voraussetzungen. Das Gebot der Unmittelbarkeit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG wird durch das Zweit­stim­men­de­ckungs­ver­fahren ebenfalls nicht verletzt. Dieses ändert nichts daran, dass die Erststimme jeder Wählerin und jedes Wählers einem bestimmten Wahlkreis­be­werber zugerechnet werden kann. Bei der Stimmabgabe ungewiss ist allein der Stimmerfolg. Er richtet sich ausschließlich nach dem – einheitlichen – Wahlvorgang und dem daran anschließenden gesetzlich vorgesehenen Sitzzu­tei­lungs­ver­fahren. Die Entscheidung, in welcher Reihenfolge erfolgreiche Wahlkreis­be­werber ein Mandat oder bei fehlender Zweit­stim­men­deckung kein Mandat erhalten, ist damit allein durch das Wahlergebnis und das Wahlgesetz festgelegt.

Das Zweit­stim­men­de­ckungs­ver­fahren verstößt nicht gegen die Chancen­gleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG). Die Einschätzung, es belaste die Opposi­ti­o­ns­parteien in besonderer Weise, teilt der Senat nicht. Das Zweit­stim­men­de­ckungs­ver­fahren dient der Zusammensetzung des Bundestages nach Parteienproporz ebenso wie das bislang geltende System der Ausgleichs­mandate. Anders als der Begriff der „Kappung“ suggeriert, wird Parteien durch das Zweit­stim­men­de­ckungs­ver­fahren kein ihnen bereits zugeteiltes Sitzkontingent gekürzt. Die damit erreichte Einhaltung der gesetzlichen Größe des Bundestages führt lediglich dazu, dass im kommenden Deutschen Bundestag von jeder Partei – bei unterstellt gleich­blei­benden Wahlergebnissen – weniger Abgeordnete vertreten sein werden, als dies nach dem bisherigen Wahlrecht der Fall gewesen wäre.

Fünf-Prozent-Klausel ohne Ausnahmen verfas­sungs­widrig

Die Sperrklausel des § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG ist in ihrer geltenden Form mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Durch sie werden Parteien, die nach ihrem Zweit­stim­men­er­gebnis rechnerisch Bundestagssitze erhalten könnten, bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt, wenn sie im Bundesgebiet weniger als 5 % der gültigen Zweitstimmen erreicht haben. Dies ist eine Ungleich­be­handlung gegenüber Wahlstimmen für Parteien mit einem höheren Zweit­stim­men­er­gebnis. Für Sperrklauseln im Verhält­nis­wahlrecht kann die Sicherung der Arbeits- und Funkti­o­ns­fä­higkeit des Parlaments einen legitimen Recht­fer­ti­gungsgrund darstellen. Maßgeblich für die Beurteilung einer Sperrklausel bei der Wahl zum Deutschen Bundestag sind die ihm in der Verfas­sungs­ordnung des Grundgesetzes zugewiesenen zentralen Funktionen. Die Sperrklausel ist geeignet, die Funkti­o­ns­fä­higkeit des Bundestages zu sichern. Mit einer Sperrklausel verhindert das Wahlrecht eine Zersplitterung des Parlaments in viele kleine Gruppen und sichert damit die Funktions- und Arbeits­be­din­gungen des Bundestages. Sie schafft die Voraussetzungen dafür, dass Zusam­men­schlüsse von Abgeordneten mit gleich­ge­richteten politischen Zielen im Bundestag (Fraktionen) grundsätzlich eine bestimmte Mindestgröße haben. Die Höhe der Sperrklausel von 5 % der bundesweiten gültigen Zweitstimmen ist für diesen Zweck sachgerecht. Die in ständiger Rechtsprechung bestätigte Beurteilung hat auch angesichts der zwischen­zeitlich eingetretenen rechtlichen und tatsächlichen Änderungen Bestand.

Unter den gegenwärtigen tatsächlichen und rechtlichen Rahmen­be­din­gungen ist die Ausgestaltung der Sperrklausel in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG jedoch nicht in vollem Umfang erforderlich. Zur Sicherstellung der Arbeits- und Funkti­o­ns­fä­higkeit des Bundestages ist es nicht notwendig, eine Partei bei der Sitzverteilung unberück­sichtigt zu lassen, deren Abgeordnete eine gemeinsame Fraktion mit den Abgeordneten einer anderen Partei bilden würden, wenn beide Parteien gemeinsam das Fünf-Prozent-Quorum erreichen würden. Tatsächlich besteht die Möglichkeit, dass die CSU bei der nächsten Bundestagswahl mangels Überschreitens der bundesweiten 5 %-Sperrklausel bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt wird. Im Fall ihrer Berück­sich­tigung würden ihre Abgeordneten jedoch hinreichend sicher eine gemeinsame Fraktion mit den Abgeordneten der CDU bilden. Grundlage hierfür ist eine auf Dauer angelegte Kooperation der beiden Parteien. Die Kooperation der CSU mit der CDU zeichnet sich letztlich durch drei Elemente aus: erstens die Absicht, aufgrund gleich­ge­richteter politischer Ziele eine Fraktion zu bilden, zweitens den Umstand, dass schon bisher eben eine solche gemeinsame Fraktion im Bundestag bestand, und drittens den Verzicht auf Wettbewerb untereinander, indem Landeslisten nur in unter­schied­lichen Ländern eingereicht werden.

CDU und CSU machen seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland im Wahlkampf deutlich, dass sie gleich­ge­richtete Ziele verfolgen und eine gemeinsame Fraktion bilden wollen. Insbesondere wirbt die CSU regelmäßig für den Spitzen­kan­didaten oder die Spitzen­kan­didatin der CDU. Seit 1976 stellen beide Parteien ausdrücklich ein gemeinsames Wahlprogramm für Bundes­tags­wahlen auf. Seit 1949 bilden ihre Abgeordneten auch eine gemeinsame Fraktion im Bundestag. Während die CSU nur in Bayern zur Wahl antritt, verzichtet die CDU dort auf eine Vertretung. Das Ziel der Sperrklausel wird in gleicher Weise erreicht, wenn die Zweit­stim­men­er­gebnisse von Parteien, die in dieser Form kooperieren, gemeinsam berücksichtigt werden. Darin liegende Ungleich­be­hand­lungen sind gerechtfertigt. Eine solche Kooperation verändert die Rahmen­be­din­gungen der parla­men­ta­rischen Arbeit, auf deren Sicherung die Sperrklausel abzielt, nicht. Ihr Ziel ist eine Frakti­o­ns­ge­mein­schaft. Damit geht sie über ein reines Wahlbündnis hinaus, das lediglich erreichen will, dass beide Parteien im Parlament vertreten sind. Auch bezieht sie sich im Unterschied zu einer Koali­ti­o­ns­aussage nicht lediglich auf eine Zusammenarbeit im Fall der Regie­rungs­übernahme, sondern gilt auch für den Fall der Opposition. Die Kooperation betrifft also unmittelbar die Tätigkeit im Bundestag selbst und umfasst sämtliche Parla­ments­funk­tionen. Durch die Bildung einer gemeinsamen Fraktion ordnen sich die Abgeordneten der beteiligten Parteien den parla­men­ta­rischen Organi­sa­ti­o­nss­trukturen unter, indem sie nicht einzeln, sondern nur gemeinsam die Rechte und Pflichten einer Fraktion wahrnehmen. Dies bezweckt, gemeinsam eine politische Strömung im Parlament zu repräsentieren.

Werden Parteien, die in dieser Form kooperieren, bei der Anwendung der Sperrklausel gemeinsam berücksichtigt, stellt dies eine Ungleich­be­handlung gegenüber anderen Parteien dar. Sie erhalten – anders als andere Parteien – auch dann Bundes­tags­mandate, wenn jede Partei für sich die Voraussetzung des § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG nicht erfüllt. Es kann offen bleiben, inwieweit die gemeinsame Berück­sich­tigung von Parteien bei der Überwindung der Sperrklausel gerechtfertigt ist, wenn lediglich einzelne der drei Voraussetzungen vorliegen. Jedenfalls gemeinsam rechtfertigen sie unter den gegenwärtigen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen die Bevorzugung einer Kooperation, wie sie CSU und CDU praktizieren. Der Gesetzgeber ist zwar verpflichtet, die Sperrklausel so auszugestalten, dass sie unter den derzeitigen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen nicht über das zur Sicherung der Funkti­o­ns­fä­higkeit des Bundestages Erforderliche hinausgeht. Er ist aber nicht auf die Einführung einer Möglichkeit der gemeinsamen Berück­sich­tigung zweier, in der dargestellten Form kooperierender Parteien beschränkt. Vielmehr kann er die Sperrklausel auch in anderer Weise modifizieren.

Die Verfas­sungs­be­schwerden sind – soweit sie zulässig sind – begründet. § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG verletzt das Recht der Beschwer­de­füh­renden aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Der Organ­kla­ge­antrag der CSU ist begründet. Der Beschluss des Bundestages am 17. März 2023, mit dem er das Gesetz zur Änderung des BWahlG angenommen hat, verletzt sie in ihrem Recht auf Chancen­gleichheit. Die Bedingungen, unter denen die Sperrklausel über das zur Sicherung der Funkti­o­ns­fä­higkeit des Parlaments Erforderliche hinausgeht, treffen auf sie zu. Der Organ­kla­ge­antrag der Partei DIE LINKE ist unbegründet. Sie wird durch den festgestellten Verfas­sungs­verstoß nicht in ihren eigenen Rechten verletzt. Ihre Abgeordneten bilden keine gemeinsame Fraktion mit denen einer anderen Partei. Es ist auch nicht erkennbar, dass sie eine solche beabsichtigt. Die Maßgabe zur Fortgeltung der Sperrklausel unter Rückgriff auf die Wahlkreis­klausel des Gesetzentwurfs ist den Parteien sowie den Wählerinnen und Wählern bekannt und stärkt überdies das Vertrauen darauf, dass die Wahlrechts­reform keine Partei benachteiligt.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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