18.10.2024
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Dokument-Nr. 8232

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Beschluss01.07.2009Bundesverfassungsgericht2 BvE 5/06
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • BVerfGE 104, 161Sammlung: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE), Band: 104, Seite: 161
  • JuS 2010, 840 (Michael Sachs)Zeitschrift: Juristische Schulung (JuS), Jahrgang: 2010, Seite: 840, Entscheidungsbesprechung von Michael Sachs
  • NVwZ 2009, 1092Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ), Jahrgang: 2009, Seite: 1092
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ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss01.07.2009

Beantwortung "Kleiner Anfragen" durch die Bundesregierung nicht verfas­sungsgemäßBerich­t­er­stattung gegenüber parla­men­ta­rischen Kontrollgremien entbindet Bundesregierung nicht von Berichtspflicht gegenüber Bundestag

Die Bundesregierung darf bestimmte Auskünfte, so genannte "Kleine Anfragen" nicht mit dem Hinweis auf eine angebliche Geheim­haltungs­pflicht verweigern. Die Begründung ist verfassungs­rechtlich nicht tragfähig und verletzt die Rechte des Deutschen Bundestages. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht.

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 6. Juni 2006, die sich u.a. auch mit der Klage von Abgeordneten des schwedischen Parlaments, die durch den schwedischen Geheimdienst bespitzelt worden waren, beschäftigte, war konkreter Anlass für ein Auskunfts­be­gehren von vier Abgeordneten des Deutschen Bundestages und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Diese fünf Antragsteller richteten am 13. Juni 2006 und am 1. August 2006 sog. Kleine Anfragen an die Bundesregierung, um zu erfahren, ob und ggf. welche Informationen der Bundesnachrichtendienst und die Nachrich­ten­dienste der Länder über die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sammeln. Die Bundesregierung lehnte die Antworten teilweise mit dem Hinweis darauf ab, dass sie sich zu der Arbeitsweise, der Strategie und dem Erkenntnisstand der Nachrich­ten­dienste des Bundes, die geheim­hal­tungs­be­dürftig seien, grundsätzlich nur in den dafür vorgesehenen besonderen Gremien des Deutschen Bundestages äußere. Weiterhin verwies sie darauf, dass sie dem Parla­men­ta­rischen Kontrollgremium am 5. April 2006 darüber berichtet habe, und dass sie zu den rechtlichen Voraussetzungen und Grenzen der nachrich­ten­dienst­lichen Beobachtung von Abgeordneten auch gegenüber dem Ältestenrat des Deutschen Bundestages Stellung genommen habe bzw. sich dazu nur in den dafür vorgesehenen besonderen Gremien des Deutschen Bundestages äußern werde. Auf einzelne Fragen gab die Bundesregierung keine Auskunft mit der Begründung, dass die Tätigkeit der Nachrich­ten­dienste gefährdet würde. Hinsichtlich der Fragen zu Sachverhalten vor der 9. Wahlperiode des Deutschen Bundestages wies die Bundesregierung auf die gesetzlichen Löschungs­pflichten hin, aufgrund derer die entsprechenden Datensätze nicht mehr vorliegen. Gegebenenfalls vorhandene Informationen zu den die Zeiträume der Anfrage betreffenden Altakten könnten nicht innerhalb des im Rahmen einer "Kleinen Anfrage" gemäß § 104 der Geschäfts­ordnung des Deutschen Bundestages zur Verfügung stehenden Zeitraums erschlossen werden.

Antrag auf Erteilung der gewünschten Auskünfte durch die Bundesregierung

Im Organ­streit­ver­fahren beantragten die vier Abgeordneten des Deutschen Bundestages und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen als Antragsteller die Feststellung, dass die Bundesregierung mit ihren Antworten auf diese "Kleinen Anfragen" ihre und die Rechte des Deutschen Bundestages verletzt habe. Ferner begehren sie die Verpflichtung der Bundesregierung zur Erteilung der erbetenen Auskünfte, hilfsweise, die Auskünfte so weit und in einer Form zu erteilen, die den objektiven Geheim­hal­tungs­in­teressen der Bundesrepublik Deutschland Rechnung tragen.

Bundesregierung verletzt Rechte der Antragssteller

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht stellte in seinem Beschluss vom 1. Juli 2009 fest, dass die Bundesregierung den Antragstellern die in den "Kleinen Anfragen" vom 13. Juni 2006 und vom 1. August 2006 erbetenen Auskünfte mit verfas­sungs­rechtlich nicht tragfähigen Begründungen verweigert und dadurch die Rechte der Antragsteller aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG sowie des Deutschen Bundestages aus Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt hat. Insbesondere der Verweis auf eine Berich­t­er­stattung gegenüber anderen parla­men­ta­rischen Kontrollgremien entbindet die Bundesregierung nicht von ihrer Berichtspflicht gegenüber dem Bundestag. Auch die pauschale Begründung der Ablehnung mit der Geheim­hal­tungs­be­dürf­tigkeit der verlangten Informationen entspricht nicht den verfas­sungs­gemäßen Anforderungen. Teilweise sind die Anträge unzulässig, weil sich die Antrags­be­gründung nicht mit den Antworten auf die genannten Fragen ausein­an­dersetzt, und soweit sie eine Verpflichtung der Bundesregierung auf Auskunft­s­er­teilung betreffen.

Gründe für die Entscheidung des Gerichts

In der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts ist geklärt und zwischen den Beteiligten nicht strittig, dass aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG ein Frage- und Infor­ma­ti­o­nsrecht des Deutschen Bundestages gegenüber der Bundesregierung folgt. An diesem haben die einzelnen Abgeordneten und die Fraktionen als Zusam­men­schlüsse von Abgeordneten nach Maßgabe der Ausgestaltung in der Geschäfts­ordnung des Deutschen Bundestages teil und es besteht grundsätzlich eine Antwortpflicht der Bundesregierung. Ebenso steht außer Frage, dass die Antwortpflicht der Bundesregierung Grenzen unterliegt. Die nähere Grenzziehung bedarf allerdings der Würdigung im Einzelfall. Insbesondere soweit Anfragen Umstände betreffen, die aus Gründen des Wohls des Bundes oder eines Landes (Staatswohl) geheim­hal­tungs­be­dürftig sind, stellt sich die Frage, ob und auf welche Weise dieses Anliegen mit dem jeweiligen parla­men­ta­rischen Infor­ma­ti­o­ns­an­spruch in Einklang gebracht werden kann.

Parla­men­ta­risches Kontrollgremium verdrängt nicht parla­men­ta­rische Infor­ma­ti­o­ns­rechte

Es kann dahingestellt bleiben, ob der Gesetzgeber von Verfassungs wegen das Infor­ma­ti­o­nsrecht des Deutschen Bundestages in der Weise regeln dürfte, dass die Bundesregierung Auskünfte über die nachrich­ten­dienstliche Tätigkeit des Bundes, die sie für geheim­hal­tungs­be­dürftig hält, nur einem bestimmten Gremium des Deutschen Bundestages zu erteilen hätte. Denn eine derartige Regelung besteht nicht: Das Parla­men­ta­rische Kontrollgremium ist ein zusätzliches Instrument parla­men­ta­rischer Kontrolle der Regierung, das parla­men­ta­rische Infor­ma­ti­o­ns­rechte nicht verdrängt (vgl. auch BTDrucks 8/1599, S. 6). Denn sonst hätte sich der Deutsche Bundestag mit der Einrichtung des Parla­men­ta­rischen Kontroll­gremiums wesentlicher Infor­ma­ti­o­ns­mög­lich­keiten begeben und die Kontrolle gegenüber der Bundesregierung in Bezug auf die nachrich­ten­dienstliche Tätigkeit des Bundes nicht etwa verbessert, sondern verschlechtert.

Soweit sich die Rechts­auf­fassung der Antragsgegnerin auf andere Gremien des Deutschen Bundestages beziehen soll, gilt nichts anderes. Insbesondere wird das parla­men­ta­rische Fragerecht nicht durch die Einsetzung eines Unter­su­chungs­aus­schusses oder die Befassung des Ältestenrates (§ 6 GO-BT) mit diesen Fragestellungen verdrängt.

Keine Verweigerung von Auskünften mit Begründung der Geheim­hal­tungs­be­dürf­tigkeit

Im Ergebnis liegt auch ein Verstoß darin, die Verweigerung von Auskünften nur mit Geheim­hal­tungs­be­dürf­tigkeit zu begründen. Die Bundesregierung muss – auch im Hinblick auf das Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme im Verhältnis zwischen Verfas­sungs­organen – den Bundestag in die Lage versetzen, seine Aufgabe der parla­men­ta­rischen Kontrolle des Regie­rungs­handelns effektiv wahrzunehmen. Abgesehen von Fällen evidenter Geheim­hal­tungs­be­dürf­tigkeit kann das Parlament nur anhand einer der jeweiligen Problemlage angemessenen ausführlichen Begründung beurteilen und entscheiden, ob es die Verweigerung der Antwort akzeptiert oder welche weiteren Schritte es unternimmt, sein Auskunfts­ver­langen ganz oder zumindest teilweise durchzusetzen.

Erbetene Informationen sind nicht geheim­hal­tungs­be­dürftig

Zudem ist auch nicht ersichtlich, dass die von den Antragstellern erbetenen Informationen geheim­hal­tungs­be­dürftig sind, soweit die genannten Fragen Auskünfte über die Sammlung, Speicherung und Weitergabe von Daten über Abgeordnete des Deutschen Bundestages durch die Nachrich­ten­dienste des Bundes betreffen. Es drängt sich nicht auf, dass mit der Beantwortung dieser Fragen eine, wie die Antragsgegnerin ausgeführt hat, Offenlegung von Einzelheiten zu Arbeitsweisen, Strategien, Methoden und Erkenntnisstand der Nachrich­ten­dienste einherginge, die deren Arbeits­fä­higkeit und Aufga­be­n­er­füllung gefährdete (BTDrucks 16/2098 zu Frage 5).

Auskunfts­ver­wei­gerung nicht nachvollziehbar

Die pauschale Behauptung, durch die Beantwortung der Fragen würden Rückschlüsse auf die Tätigkeit der Nachrich­ten­dienste ermöglicht, die deren Arbeits­fä­higkeit und Aufga­be­n­er­füllung gefährdeten, enthält keinerlei konkrete Angaben, die die Auskunfts­ver­wei­gerung nachvollziehbar machen könnte. Die nachrich­ten­dienstliche Beobachtung von Abgeordneten birgt erhebliche Gefahren im Hinblick auf ihre Unabhängigkeit (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) und auf die Mitwirkung der betroffenen Parteien bei der politischen Willensbildung (Art. 21 GG) und damit für den Prozess demokratischer Willensbildung insgesamt. Das diesbezügliche Infor­ma­ti­o­ns­be­dürfnis des Parlaments hat hohes Gewicht. Soll sich demgegenüber der Geheimnisschutz als gegenläufiger Belang durchsetzen, bedarf es einer besonderen Begründung.

Verletzen verfas­sungs­mäßiger Rechte

Die Antragsgegnerin hat die Antragsteller in ihren verfas­sungs­mäßigen Rechten weiter dadurch verletzt, dass sie die Frage, ob ihr Fälle der Sammlung, Speicherung oder Weitergabe von Informationen über Abgeordnete bekannt seien, die andere Dienste, insbesondere Dienste der Länder, getätigt haben, dahin beantwortet hat, dass sie sich nicht zu Angelegenheiten äußere, die in den Zustän­dig­keits­bereich der Länder fallen. Die Bundesregierung war zu einer nicht lediglich pauschalen, sondern zu einer eingehenden Begründung aufgrund der Fragestellungen verpflichtet, weil diese erkennbar auch auf den Verant­wor­tungs­bereich der Bundesregierung bezogen waren. Gegenstand der Anfragen war zum einen die Tätigkeit der der Antragsgegnerin unmittelbar nachgeordneten Behörden und zum anderen der Kenntnisstand der Antragsgegnerin zu Aktivitäten anderer Geheimdienste.

Hinweis auf gesetzliche Löschungs­pflichten als Begründung nicht ausreichend

Auch der Hinweis auf gesetzliche Löschungs­pflichten reicht als Begründung für die Verweigerung der Auskunft nicht aus. Da sich der parla­men­ta­rische Infor­ma­ti­o­ns­an­spruch im Hinblick auf die mögliche politische Bedeutung auch länger zurückliegender Vorgänge auf Fragen erstreckt, die den Verant­wor­tungs­bereich früherer Bundes­re­gie­rungen betreffen, können die Bundesregierung zudem im Rahmen der zumutbaren Rekon­struk­ti­o­ns­pflichten treffen. Mit dem bloßen Hinweis auf gesetzliche Löschungs­pflichten hat die Antragsgegnerin danach nicht ausreichend dargelegt, die gewünschten Informationen nicht beschaffen zu können. Sie hat auch nicht vorgetragen, dass dies nur mit unzumutbarem Aufwand möglich sei.

Auch der Hinweis auf die Unmöglichkeit einer Antwort innerhalb der in der Geschäfts­ordnung des Deutschen Bundestages vorgesehenen Frist lässt außer Betracht, dass die in § 104 Abs. 2 Halbsatz 1 GO-BT enthaltene Frist von 14 Tagen im Benehmen mit den Fragestellern verlängert werden kann (§ 104 Abs. 2 Halbsatz 2 GO-BT).

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 87/09 des BVerfG vom 30.07.2009

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