21.11.2024
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Dokument-Nr. 30326

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Bundesverfassungsgericht Beschluss27.04.2021

Erfolgreiches Organstreit­verfahren zu Unterrichtungs­pflichten der Bundesregierung beim dritten Hilfspaket für GriechenlandRegierung muss Bundestag über wichtige Verhand­lungs­linien informieren

Das Bundes­verfassungs­gericht hat auf einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag entschieden, dass die Bundesregierung den Deutschen Bundestag in seinem Unter­rich­tungsrecht aus Artikel 23 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt hat, indem sie es unterlassen hat, ihn vor der Sitzung der Euro-Gruppe am 11. und 12. Juli 2015 und vor dem Euro-Gipfel am 12. und 13. Juli 2015 umfassend und zum frühest­mög­lichen Zeitpunkt über ihre Verhand­lungslinie zum Verbleib oder vorübergehenden Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone zu unterrichten.

Zur Bewältigung der Staatsschulden-Krise verhandelten die Finanzminister der Eurozone (im Folgenden: Euro-Gruppe) sowie weitere Teilnehmer auf einer Tagung vom 11. bis zum 12. Juli 2015 über ein drittes Hilfsprogramm für Griechenland und bereiteten den hierzu stattfindenden Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Eurozone (im Folgenden: Euro-Gipfel) am 12. und 13. Juli 2015 vor. Bei einer Unterrichtung des Haushalts­aus­schusses des Deutschen Bundestages am 30. Juni 2015 führte der Bundes­fi­nanz­mi­nister aus, dass Griechenland nicht ohne (Reform)Programm im Euro bleiben könne, sondern im äußersten Fall vom Zahlungssystem der Europäischen Zentralbank abgeschnitten werden müsse und sich in diesem Fall die Notwendigkeit einer vorübergehenden Parallelwährung ergeben könnte. Die Bundesregierung tauschte sich zwischen dem 9. und dem 11. Juli 2015 in intensiven Beratungen mit den Regierungen der anderen Mitgliedstaaten der Eurozone aus, wobei vorrangiges Ziel eine Verhand­lungs­lösung und ein Verbleib Griechenlands in der Eurozone blieben. Dabei stellte der Bundes­fi­nanz­mi­nister jedoch auch die Frage in den Raum, welche Optionen im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen bestünden.

Bundes­fi­nanz­mi­nis­terium erstellte vor Euro-Treffen ein Dokument mit Auszeit-Option

In Vorbereitung auf die Verhandlungen der Euro-Gruppe und des Euro-Gipfels erstellte das Bundes­mi­nis­terium der Finanzen am 10. Juli 2015 ein in englischer Sprache abgefasstes Dokument. Darin wurden die von Griechenland am Tag zuvor übermittelten Reform­vor­schläge als unzureichend zurückgewiesen und als Option für den Fall einer fehlenden Umset­zungs­per­spektive für Reformen zügige Verhandlungen über eine Auszeit Griechenlands aus der Eurozone angeboten. Ausweislich der Schilderung des damaligen Vorsitzenden der Euro-Gruppe wurde das Dokument vom 10. Juli 2015 am selben Abend per E-Mail vom Bundes­mi­nis­terium der Finanzen an ihn, weitere Spitzen­po­litiker und eine kleine Gruppe von Spitzenbeamten der Eurozone verschickt. Während der Tagung der Euro-Gruppe stellte der Bundes­fi­nanz­mi­nister die Frage, wie bei einem Scheitern der Verhandlungen mit der griechischen Regierung vorzugehen sei, erneut in den Raum. Dabei lag ihm das Dokument vom 10. Juli 2015 vor. In das von der Euro-Gruppe erstellte Abschluss­do­kument wurden am 12. Juli 2015 an dessen Ende in Klammern zwei Sätze zu einer möglichen Auszeit Griechenlands aus der Eurozone und zu einer Übertragung griechischer Vermögenswerte aufgenommen, die große Ähnlichkeit mit Sätzen aus dem Dokument des Bundes­mi­nis­teriums der Finanzen aufwiesen. Das Abschluss­do­kument der Euro-Gruppe wurde einschließlich der Klammern dem anschließenden Euro-Gipfel übermittelt und dort in die Beratungen miteinbezogen.

Antragstellerin rügt verspätete Unterrichtung des Deutschen Bundestages

Die Antragsgegnerin leitete dem Deutschen Bundestag das Dokument vom 10. Juli 2015 am 12. Juli 2015 gegen 16.00 Uhr im Anschluss an die Sitzung der Euro-Gruppe zu. Über die Ergebnisse des anschließenden Euro-Gipfels wurde der Deutsche Bundestag durch die Bundesregierung am 14. und 16. Juli 2015 unterrichtet. Die Antragstellerin rügt die verspätete Unterrichtung des Deutschen Bundestages über die Verhand­lungslinie der Bundesregierung vor der Sitzung der Euro-Gruppe und vor dem Euro-Gipfel.

BVerfG: Bundesregierung hätte früher unterrichten müssen

Der Organantrag hatte Erfolg. Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat in Angelegenheiten der Europäischen Union gemäß Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG umfassend und zum frühest­mög­lichen Zeitpunkt zu unterrichten. Die „umfassende“ Unterrichtung des Deutschen Bundestages muss ihm in erster Linie eine frühzeitige und effektive Einflussnahme auf die Willensbildung der Bundesregierung eröffnen. Es ist eine umso intensivere Unterrichtung geboten, je komplexer ein Vorgang ist, je tiefer er in den Zustän­dig­keits­bereich der Legislative eingreift und je mehr er sich einer förmlichen Beschluss­fassung oder Vereinbarung annähert. Insbesondere Vereinbarungen und Mechanismen, die erheblich in die Zuständigkeiten des Bundestages und namentlich in seine haushalts­po­li­tische Gesamt­ver­ant­wortung eingreifen, lösen vollständige und detaillierte Unter­rich­tungs­pflichten aus. Die Pflicht zur umfassenden und frühest­mög­lichen Unterrichtung erstreckt sich dabei auch auf Initiativen und Positionen der Bundesregierung. Auch die eventuelle Geheim­hal­tungs­be­dürf­tigkeit einer Information steht ihrer Weiterleitung an den Deutschen Bundestag grundsätzlich nicht entgegen. In Fällen, in denen das Wohl des Staates durch das Bekanntwerden vertraulicher Informationen gefährdet werden kann, kann die Unterrichtung vertraulich erfolgen.

Kernbereich exekutiver Eigen­ver­ant­wortung verlassen

Grenzen der Unterrichtungspflicht ergeben sich aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Die Regierung besitzt einen Kernbereich exekutiver Eigen­ver­ant­wortung, der einen grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungs­bereich einschließt. Zu diesem Kernbereich gehört jedenfalls die Willensbildung der Regierung, sowohl hinsichtlich der Erörterungen im Kabinett als auch bei der Vorbereitung von Kabinetts- und Ressor­tent­schei­dungen. Dieser endet, wenn und soweit die Bundesregierung Zwischen­er­gebnisse erreicht oder Positi­o­nie­rungen ausgearbeitet hat und schon diese zur Grundlage ihres nach außen gerichteten Handelns macht. Die Willensbildung der Bundesregierung ist in derartigen Fällen jedenfalls abgeschlossen, wenn sie mit ihrer Initiative aus dem Bereich der regie­rungs­in­ternen Abstimmung hinaustreten und mit einer eigenen, auch nur vorläufigen Position in einen Abstim­mungs­prozess mit Dritten eintreten will. Im Hinblick auf die Unter­rich­tungs­pflicht bestehen strikte zeitliche Vorgaben. Der Deutsche Bundestag muss die Informationen der Bundesregierung spätestens zu einem Zeitpunkt erhalten, der ihn in die Lage versetzt, sich fundiert mit dem Vorgang zu befassen und eine Stellungnahme zu erarbeiten, bevor die Bundesregierung nach außen wirksame Erklärungen abgibt. Offizielle Dokumente, Berichte und Mitteilungen müssen daher ebenso wie alle inoffiziellen Informationen an den Deutschen Bundestag weitergeleitet werden, sobald sie in den Einflussbereich der Bundesregierung gelangen.

Budgetrecht und haushalts­po­li­tische Gesamt­ver­ant­wortung des Deutschen Bundestages betroffen

Die Verhand­lungs­po­sition der Bundesregierung einschließlich ihrer Lösungs­vor­schläge unterfiel der Unter­rich­tungs­pflicht gemäß Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG, weswegen der Deutsche Bundestag einen Anspruch auf deren Mitteilung noch vor der anstehenden Sitzung der Euro-Gruppe und vor dem Euro-Gipfel hatte. Die Verhandlungen über die Gewährung weiterer Finanzhilfen im hohen zweistelligen Milli­a­r­den­bereich für Griechenland durch den Europäischen Stabi­li­täts­me­cha­nismus betreffen unmittelbar das Budgetrecht und die haushalts­po­li­tische Gesamt­ver­ant­wortung des Deutschen Bundestages als unverfügbarer Teil des grund­ge­setz­lichen Demokra­tie­prinzips. Gleiches gilt für die in die Diskussion eingebrachte Option eines vorübergehenden Austritts Griechenlands aus der Eurozone, da auch dieses Szenario mit ganz erheblichen Auswirkungen auf den Integra­ti­o­ns­prozess der Europäischen Union sowie auf den Bundeshaushalt verbunden wäre. In Anbetracht dieser herausragenden Bedeutung und der Komplexität der Angelegenheit war eine besonders intensive Beteiligung des Deutschen Bundestages geboten.

Bundesregierung muss sich Verhand­lungs­po­sition zurechnen lassen

Die Initiative und Positionierung der Antragsgegnerin im Vorfeld der Sitzung der Euro-Gruppe und des Euro-Gipfels umfasste auch den Inhalt des Schriftstücks vom 10. Juli 2015. Die Antragsgegnerin kann sich nicht darauf berufen, es habe sich insofern lediglich um interne Überlegungen des Bundes­mi­nis­teriums der Finanzen gehandelt. Der Bundes­fi­nanz­mi­nister hat in der Sitzung des Haushalts­aus­schusses am 16. Juli 2015 betont, dass seine inhaltliche Position bei der Tagung der Euro-Gruppe innerhalb der Bundesregierung abgestimmt gewesen sei. Bereits am 9. Juli 2015 fand zudem ein Gespräch zwischen der Bundeskanzlerin, dem Vizekanzler sowie dem Bundes­fi­nanz­mi­nister statt, in dem jedenfalls am Rande auch ein freiwilliges, temporäres Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone thematisiert wurde. Dabei ist der Bundesregierung die Verhand­lungs­po­sition eines ihrer Mitglieder zurechenbar, wenn dieses die Bundesrepublik Deutschland in einem Verhand­lungs­prozess auf europäischer Ebene vertritt und erkennbar als deren Repräsentant auftritt.

Verhand­lungs­po­sition war für Abstim­mungs­pro­zesses auf europäischer Ebene bestimmt

Unerheblich ist auch, in welcher Form und auf welche Art und Weise die Bundesregierung einen Vorschlag in europäische Willens­bil­dungs­prozesse einbringt. Der Inhalt des Schreibens vom 10. Juli 2015 gab die zu diesem Zeitpunkt bestehende Verhand­lungs­po­sition der Bundesregierung beziehungsweise die aus Sicht der Bundesregierung bestehenden Handlungs­op­tionen im Außenverhältnis zu Dritten wieder, wurde nach außen hin kommuniziert und den anderen Verhand­lungs­teil­nehmern inhaltlich zur Kenntnis gebracht. Seine Bestimmung für einen Abstim­mungs­prozess mit Dritten zeigt sich nicht zuletzt darin, dass das Dokument in englischer Sprache angefertigt wurde und einzelne Sätze daraus in leicht abgewandelter Form Eingang in das offizielle Abschluss­do­kument der Euro-Gruppe fanden. Darüber hinaus wurde das Dokument nach der unbestrittenen Darstellung des damaligen Vorsitzenden der Euro-Gruppe am Abend des 10. Juli 2015 vom Bundes­mi­nis­terium der Finanzen an ihn, weitere Spitzen­po­litiker und eine kleine Gruppe von Spitzenbeamten der Eurozone verschickt. Darin liegt der Beginn eines Abstim­mungs­pro­zesses auf europäischer Ebene, über dessen inhaltliche Ausrichtung der Deutsche Bundestag vorab hätte informiert werden müssen.

Unter­rich­tungs­pflicht trotz "Vorläufigkeit" der Position

Dem steht auch nicht entgegen, dass die Verhand­lungs­po­sition der Bundesregierung nach deren Vortrag vor Beginn der Sitzung der Euro-Gruppe nicht endgültig festgelegt und damit „volatil“ war. Führt die Bundesregierung im Rahmen einer überaus bedeutsamen Angelegenheit neue Optionen und Lösungs­vor­schläge in die Diskussion mit ihren europäischen Partnern ein, so unterliegt auch dieser nach außen gerichtete Willen­s­ent­schluss der Unter­rich­tungs­pflicht nach Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG. Spätestens am 10. Juli 2015 um 14.00 Uhr stand fest, dass die Bundesregierung in der Euro-Gruppe den Inhalt des Dokuments vom 10. Juli 2015 gegenüber den europäischen Verhand­lungs­partnern vortragen würde. Dazu gehörte auch, das temporäre Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone als eine Handlungsoption in die Debatte einzuführen. Gegenstand der gebotenen Unterrichtung war daher die Absicht der Bundesregierung, auf europäischer Ebene eine Diskussion zu den im Dokument vom 10. Juli 2015 enthaltenen Optionen anzustoßen. Die sonstigen dem Deutschen Bundestag unterbreiteten Informationen genügten nicht zur Erfüllung der Unter­rich­tungs­pflicht.

Spätere Infor­ma­ti­o­ns­über­mittlung kann Verstoß gegen die Unter­rich­tungs­pflicht nicht mehr heilen

Die Informationen über die Verhand­lungs­po­sition der Bundesregierung waren dem Deutschen Bundestag zum frühest­mög­lichen Zeitpunkt und damit deutlich vor dem 12. Juli 2015 um 16.00 Uhr zuzuleiten. Eine Mittei­lungs­pflicht besteht, sobald feststeht, dass ein Vorschlag oder eine Initiative der Bundesregierung zum Gegenstand von Verhandlungen auf europäischer Ebene gemacht und damit nach außen kommuniziert werden soll. Sobald der für die Bundesregierung handelnde Bundes­fi­nanz­mi­nister entschieden hatte, welche Vorschläge er in die Verhandlungen der Euro-Gruppe einbringen würde, bestand die Mittei­lungs­pflicht gegenüber dem Bundestag. Dies war hier spätestens nach Abfassung des Dokuments vom 10. Juli 2015 um 14.00 Uhr der Fall. Eine Unterrichtung durfte auch nicht unter Verweis auf die für eine Stellungnahme des Deutschen Bundestages zu kurze Zeitspanne verwehrt werden. Ob und wie der Bundestag in Eilfällen auf eine ihm kurzfristig übermittelte Information reagiert und ob er hierzu Stellung nimmt, bleibt seinem Einschätzungs- und Organi­sa­ti­o­nss­pielraum überlassen. Die spätere Infor­ma­ti­o­ns­über­mittlung nach Abschluss der Sitzung der Euro-Gruppe und nach Beginn des Euro-Gipfels kann den Verstoß gegen die Unter­rich­tungs­pflicht nicht mehr heilen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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