18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss09.06.2020

Polizeiliches Betreten von Abgeord­ne­tenbüros stellt Verstoß gegen das Grundgesetz darHandeln der Polizei beim Deutschen Bundestag stellt Eingriff in verfassungs­rechtlichen geschützten Abgeord­ne­ten­status dar

Mit Beschluss hat das Bundes­verfassungs­gericht entschieden, dass der Präsident des Deutschen Bundestages einen Abgeordneten in seinem Recht aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes dadurch verletzt hat, dass die Polizei beim Deutschen Bundestag seine Abgeord­ne­tenräume betreten hat. Zur Begründung der Entscheidung hat der Senat ausgeführt, dass das Handeln der Polizei beim Deutschen Bundestag einen Eingriff in den verfas­sungs­rechtlich geschützten Abgeord­ne­ten­status darstellt. Dieser Eingriff ist nicht gerechtfertigt, weil das Vorgehen jedenfalls nicht verhältnismäßig im engeren Sinne war. Im konkreten Fall waren die Anhaltspunkte für eine Gefahrenlage nur schwach ausgeprägt. Zudem war nicht ersichtlich, dass die Plakatierungen überhaupt von Passanten wahrgenommen worden oder zum Anlass von Angriffen auf das Parla­ments­gebäude oder die Mitarbeiter genommen worden wären.

Im hier zugrunde liegenden Fall hatten die Beamten anlässlich eines Staatsbesuchs des türkischen Staats­prä­si­denten dort angebrachte Plakatierungen mit Zeichen der kurdischen Volks­ver­tei­di­gungs­ein­heiten YPG entfernt.

Beamte betraten unerlaubt Abgeord­ne­tenräume und entfernten Plakate der YPG

Der Antragsteller als Mitglied der Fraktion DIE LINKE dem Deutschen Bundestag an. Im September 2018 hielt sich der türkische Staatspräsident in Berlin auf. Anlässlich dieses Staatsbesuchs wurden Straßen­sper­rungen im Regie­rungs­viertel vorgenommen, wobei sich innerhalb des gesperrten Gebiets auch das Gebäude mit den Abgeord­ne­ten­räumen des Antragstellers befand. Im Bereich der Fenster dieser Räume, die zum abgesperrten Straßenbereich gerichtet sind, hingen auf Papier gedruckte Abbildungen von Zeichen der kurdischen Volks­ver­tei­di­gungs­ein­heiten YPG in Syrien, jeweils im Format DIN A4. Beamte der Polizei beim Deutschen Bundestag stellten diese Plakatierungen anlässlich eines Kontrollgangs fest, als die Straßen­sper­rungen im Bereich des Gebäudes bereits wieder aufgehoben waren. Der Antragsteller hielt sich zu diesem Zeitpunkt nicht in seinen Abgeord­ne­ten­räumen auf. Versuche, ihn telefonisch oder auf anderem Wege zu erreichen, unternahm die Polizei beim Deutschen Bundestag nicht. Die Beamten betraten die Abgeord­ne­tenräume und nahmen die Plakatierungen ab. Der Antragsteller begehrt die Feststellung, dass er durch das Betreten und das Durchsuchen seiner Abgeord­ne­tenräume in seinen verfas­sungs­mäßigen Rechten als Abgeordneter verletzt worden sei.

Maßnahme der Beamten stellt Eingriff in den Abgeord­ne­ten­status dar

Den Abgeordneten des Deutschen Bundestages steht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG das Recht zu, die ihnen zugewiesenen Räumlichkeiten ohne Beein­träch­ti­gungen durch Dritte nutzen zu können. Die effektive Wahrnehmung des Mandats setzt in materieller Hinsicht voraus, dass die Abgeordneten eine gewisse Infrastruktur nutzen können, ohne eine unberechtigte Wahrnehmung ihrer Arbeit durch Dritte befürchten zu müssen. Andernfalls bestünde von vornherein die latente Gefahr, dass Arbeitsentwürfe und Kommu­ni­ka­ti­o­ns­ma­terial im Zuge entsprechender Maßnahmen wahrgenommen werden und nach außen dringen. Die Freiheit des Mandats erfordert es jedoch, dass der Abgeordnete über Art, Zeitpunkt und Umfang der Veröf­fent­lichung seiner Arbeitsinhalte selbst entscheidet. Ein Eingriff in den durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG geschützten Abgeord­ne­ten­status ist zulässig, wenn und soweit andere Rechtsgüter von Verfassungsrang ihn rechtfertigen. Die Repräsentations- und die Funkti­o­ns­fä­higkeit des Parlaments sind als solche Rechtsgüter von Verfassungsrang anerkannt. Die streit­ge­gen­ständliche Maßnahme genügt den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an einen Eingriff in das freie Mandat des Antragstellers nicht.

streit­ge­gen­ständliche Maßnahme genügt nicht allgemeinen Anforderungen an die Verhält­nis­mä­ßigkeit

Dabei kann offenbleiben, ob Art. 40 Abs. 2 Satz 1 GG selbst eine taugliche Ermäch­ti­gungs­grundlage für ein polizeiliches Handeln des Antragsgegners darstellt oder ob es insoweit eines formellen Gesetzes bedurft hätte. Jedenfalls genügt die streit­ge­gen­ständliche Maßnahme nicht den Anforderungen von Art. 40 Abs. 2 Satz 1 GG. Selbst dann, wenn Art. 40 Abs. 2 Satz 1 GG als eine taugliche Ermäch­ti­gungs­grundlage angesehen würde, müsste das polizeiliche Handeln den Anforderungen der Dienstanweisung für den Polizei­voll­zugs­dienst der Polizei beim Deutschen Bundestag genügen, die eine ermes­sens­lenkende Verwal­tungs­vor­schrift ist. Das ist hier nicht der Fall. Die Zulässigkeit des Betretens von Abgeord­ne­ten­räumen bestimmt sich nach § 23 DA-PVD, der der Polizei beim Deutschen Bundestag das Betreten eines Raums zur Abwehr einer Gefahr gestattet. Zwar mögen die tatbe­stand­lichen Voraussetzungen der Vorschrift erfüllt sein. Jedenfalls genügt die streit­ge­gen­ständliche Maßnahme aber nicht den allgemeinen Anforderungen an die Verhält­nis­mä­ßigkeit, die auch für ein polizeiliches Handeln des Bundes­tags­prä­si­denten gegenüber einem Abgeordneten gelten.

Anhaltspunkte für Gefahrenlage waren nur schwach ausgeprägt

Hier fehlt es an der Verhält­nis­mä­ßigkeit der Maßnahme im engeren Sinne. Der Eingriff wiegt schwer. Auf Seiten des Antragstellers sind dessen Statusrechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG betroffen, die ein hochrangiges Rechtsgut darstellen. Das freie Mandat sichert gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG die freie Willensbildung der Abgeordneten und damit eine von staatlicher Beeinflussung freie Kommu­ni­ka­ti­o­ns­be­ziehung zwischen den Abgeordneten und den Wählerinnen und Wählern. Es dient auch dazu, die Funkti­o­ns­fä­higkeit des Deutschen Bundestages insgesamt zu gewährleisten. Die Absicht, die Funkti­o­ns­fä­higkeit des Deutschen Bundestages durch die Abwehr äußerer Gefahren zu sichern, wiegt nicht schwerer als die Sicherung der Funkti­o­ns­fä­higkeit durch die Gewährleistung der Integrität der Abgeordnetenbüros. Darüber hinaus waren die Anhaltspunkte für eine Gefahrenlage nur schwach ausgeprägt. Zum Zeitpunkt der Durchführung der Maßnahme war nicht ersichtlich, dass Passanten die Plakatierungen bereits wahrgenommen hatten. Die Polizei beim Deutschen Bundestag hatte keinen ersichtlichen Anhaltspunkt anzunehmen, dass jemand bereits im Begriff war, Handlungen zum Nachteil des Parla­ments­ge­bäudes oder der Parla­ments­mi­t­a­r­beiter vorzunehmen. Unabhängig davon war das Provo­ka­ti­o­ns­po­tential gering, denn die Plakatierungen waren nur eingeschränkt wahrnehmbar. Sie waren in einem Format gehalten, das sich bezogen auf die Außenfassade eines Bürokomplexes als äußerst kleinformatig darstellt. Außerdem bestand eine gewisse räumliche Distanz zu den Passanten.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ku)

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