18.10.2024
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Dokument-Nr. 7529

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Bundesverfassungsgericht Urteil03.03.2009

Verwendung von Wahlcomputern bei der Bundestagswahl 2005 verfas­sungs­widrigWahl wird nicht wiederholt

Der Einsatz von Wahlcomputern bei der Bundestagswahl 2005 war verfas­sungs­widrig. Dies hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden. Die Richter sahen einen Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl. Dies führt jedoch nicht zur Auflösung des Bundestages, weil der Bestandsschutz der gewählten Volksvertretung die festgestellten Wahlfehler mangels irgendwelcher Hinweise darauf, dass Wahlgeräte fehlerhaft funktioniert hätten oder manipuliert worden sein könnten, überwiegt.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat über zwei Wahlprü­fungs­be­schwerden geurteilt, die sich gegen den Einsatz von rechner­ge­steuerten Wahlgeräten (sog. Wahlcomputer) bei der Bundestagswahl 2005 zum 16. Deutschen Bundestag richteten.

Bürger muss wesentlichen Schritte der Wahlhandlung überprüfen können

Der Zweite Senat hat entschieden, dass der Einsatz elektronischer Wahlgeräte voraussetzt, dass die wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und der Ergeb­ni­ser­mittlung vom Bürger zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnis überprüft werden können. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl (Art. 38 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG), der gebietet, dass alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen, soweit nicht andere verfas­sungs­rechtliche Belange eine Ausnahme rechtfertigen. Danach ist es verfas­sungs­rechtlich zwar nicht zu beanstanden, dass § 35 Bundes­wahl­gesetz (BWG) den Einsatz von Wahlgeräten zulässt. Die Bundes­wahl­ge­rä­te­ver­ordnung ist jedoch verfas­sungs­widrig, weil sie nicht sicherstellt, dass nur solche Wahlgeräte zugelassen und verwendet werden, die den verfas­sungs­recht­lichen Voraussetzungen des Grundsatzes der Öffentlichkeit genügen. Die bei der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag eingesetzten rechner­ge­steuerten Wahlgeräte entsprachen nach der Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts nicht den Anforderungen, die die Verfassung an die Verwendung elektronischer Wahlgeräte stellt.

Bundestag wird nicht aufgelöst

Dies führt jedoch nicht zur Auflösung des Bundestages, weil der Bestandsschutz der gewählten Volksvertretung die festgestellten Wahlfehler mangels irgendwelcher Hinweise darauf, dass Wahlgeräte fehlerhaft funktioniert hätten oder manipuliert worden sein könnten, überwiegt. Soweit die Verfah­rens­ge­staltung des Wahlprü­fungs­aus­schusses des Deutschen Bundestages beanstandet wurde, war die Wahlprü­fungs­be­schwerde erfolglos.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

I. Die beanstandeten Fehler des Wahlprü­fungs­ver­fahrens vor dem Deutschen Bundestag waren erfolglos. Auch wenn das Verfahren zwischen Einlegung des Wahleinspruchs und der Entscheidung des Deutschen Bundestages über ein Jahr gedauert hat, handelt es sich noch nicht um einen schwerwiegenden Verfah­rens­fehler. Allein die Dauer des Verfahrens entzieht der Entscheidung nicht die Grundlage. Es stellt ebenfalls keinen schwerwiegenden Fehler dar, der der Entscheidung des Deutschen Bundestages die Grundlage entzieht, dass der Wahlprü­fungs­aus­schuss von einer mündlichen Verhandlung des Wahleinspruchs des Beschwer­de­führers abgesehen und auch im Übrigen nicht in öffentlicher Sitzung beraten hat.

Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl

II. Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl, der sich aus den verfas­sungs­recht­lichen Grund­ent­schei­dungen für Demokratie, Republik und Rechtsstaat ergibt, gebietet, dass alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlich überprüfbar sind, soweit nicht andere verfas­sungs­rechtliche Belange eine Ausnahme rechtfertigen. Dabei kommt der Kontrolle der Wahlhandlung und der Ermittlung des Wahlergebnisses eine besondere Bedeutung zu.

Der Einsatz von Wahlgeräten, die die Stimmen der Wähler elektronisch erfassen und das Wahlergebnis elektronisch ermitteln, genügt nur dann den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen, wenn die wesentlichen Schritte von Wahlhandlung und Ergeb­ni­ser­mittlung zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnis überprüft werden können. Während bei der herkömmlichen Wahl mit Stimmzetteln Manipulationen oder Wahlfälschungen unter den Rahmen­be­din­gungen der geltenden Vorschriften jedenfalls nur mit erheblichem Einsatz und einem präventiv wirkenden sehr hohen Entde­ckungs­risiko möglich sind, sind Program­mier­fehler in der Software oder zielgerichtete Wahlfälschungen durch Manipulation der Software bei elektronischen Wahlgeräten nur schwer erkennbar. Die große Breitenwirkung möglicher Fehler an den Wahlgeräten oder gezielter Wahlfälschungen gebietet besondere Vorkehrungen zur Wahrung des Grundsatzes der Öffentlichkeit der Wahl.

Der Wähler selbst muss ohne nähere compu­ter­tech­nische Kenntnisse nachvollziehen können, ob seine abgegebene Stimme als Grundlage für die Auszählung oder jedenfalls als Grundlage einer späteren Nachzählung unverfälscht erfasst wird. Wird das Wahlergebnis durch rechner­ge­steuerte Verarbeitung der in einem elektronischen Speicher abgelegten Stimmen ermittelt, genügt es nicht, wenn anhand eines zusam­men­fas­senden Papierausdrucks oder einer elektronischen Anzeige lediglich das Ergebnis des im Wahlgerät durchgeführten Rechenprozesses zur Kenntnis genommen werden kann.

Elektronische Wahlgeräte können unter Berück­sich­tigung der verfas­sungs­recht­lichen Voraussetzungen eingesetzt werden

Der Gesetzgeber ist nicht gehindert, bei den Wahlen elektronische Wahlgeräte einzusetzen, wenn die verfas­sungs­rechtlich gebotene Möglichkeit einer zuverlässigen Richtig­keits­kon­trolle gesichert ist. Eine ergänzende Kontrolle durch den Wähler, die Wahlorgane oder die Allgemeinheit ist beispielsweise bei elektronischen Wahlgeräten möglich, in denen die Stimmen neben der elektronischen Speicherung anderweitig erfasst werden. Ob es noch andere technische Möglichkeiten gibt, die ein auf Nachvoll­zieh­barkeit gegründetes Vertrauen des Wahlvolks in die Korrektheit des Verfahrens bei der Ermittlung des Wahlergebnisses ermöglichen und damit dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl genügen, bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung.

Einschränkungen der bürger­schaft­lichen Kontrol­lier­barkeit des Wahlvorgangs können nicht dadurch ausgeglichen werden, dass Mustergeräte im Rahmen des Verfahrens der Bauartzulassung oder die bei der Wahl konkret eingesetzten Wahlgeräte vor ihrem Einsatz von einer amtlichen Institution auf ihre Übereinstimmung mit bestimmten Sicher­heits­an­for­de­rungen und auf ihre technische Unversehrtheit hin überprüft werden. Auch eine umfangreiche Gesamtheit sonstiger technischer und organi­sa­to­rischer Siche­rungs­maß­nahmen ist allein nicht geeignet, fehlende Kontrol­lier­barkeit der wesentlichen Schritte des Wahlverfahrens durch die Bürger zu kompensieren. Denn die Kontrol­lier­barkeit der wesentlichen Schritte der Wahl fördert begründetes Vertrauen in die Ordnungs­mä­ßigkeit der Wahl erst dadurch, dass die Bürger selbst den Wahlvorgang zuverlässig nachvollziehen können.

Beim Einsatz rechner­ge­steuerter Wahlgeräte sind keine gegenläufigen Verfas­sungs­prin­zipien erkennbar, die eine weitreichende Einschränkung der Öffentlichkeit der Wahl und damit der Kontrol­lier­barkeit von Wahlhandlung und Ergeb­ni­ser­mittlung rechtfertigen könnten. Der Ausschluss unbewusst falscher Stimm­zet­tel­kenn­zeich­nungen, unbeab­sich­tigter Zählfehler und unzutreffender Deutungen des Wählerwillens bei der Stimme­n­aus­zählung rechtfertigt für sich genommen nicht den Verzicht auf jegliche Art der Nachvoll­zieh­barkeit des Wahlakts. Auch der Grundsatz der Geheimheit der Wahl und das Interesse an einer raschen Klärung der Zusammensetzung des Deutschen Bundestages bilden keine gegenläufigen Verfas­sungs­belange, die als Grundlage einer weit reichenden Einschränkung der Kontrol­lier­barkeit von Wahlhandlung und Ergeb­ni­ser­mittlung herangezogen werden könnten. Von Verfassungs wegen ist nicht gefordert, dass das Wahlergebnis kurz nach Schließung der Wahllokale vorliegen muss. Zudem haben die vergangenen Bundes­tags­wahlen gezeigt, dass auch ohne den Einsatz von Wahlgeräten das vorläufige amtliche Endergebnis der Wahl regelmäßig innerhalb weniger Stunden ermittelt werden kann.

Bundes­wahl­ge­rä­te­ver­ordnung ist wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl verfas­sungs­widrig

III. Während die Verord­nungs­er­mäch­tigung des § 35 BWG keinen durchgreifenden verfas­sungs­recht­lichen Bedenken begegnet, ist die Bundes­wahl­ge­rä­te­ver­ordnung wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl verfas­sungs­widrig. Die Bundes­wahl­ge­rä­te­ver­ordnung enthält keine Regelungen, die sicherstellen, dass nur solche Wahlgeräte zugelassen und verwendet werden, die den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an eine wirksame Kontrolle der Wahlhandlung und eine zuverlässige Nachprüfbarkeit des Wahlergebnisses genügen. Die Bundes­wahl­ge­rä­te­ver­ordnung stellt nicht sicher, dass nur solche Wahlgeräte eingesetzt werden, die bei Abgabe der Stimme eine verlässliche Kontrolle ermöglichen, ob die Stimme unverfälscht erfasst wird. Die Verordnung stellt auch keine konkreten inhaltlichen und verfah­rens­mäßigen Anforderungen hinsichtlich einer verlässlichen nachträglichen Kontrolle der Ergeb­ni­ser­mittlung. Dieses Defizit kann nicht im Wege einer verfas­sungs­kon­formen Auslegung behoben werden.

Die eingesetzten Wahlgeräte ermöglichten keine wirksame Kontrolle der Wahlhandlung

IV. Auch die Verwendung der oben genannten elektronischen Wahlgeräte bei der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag verletzt die Öffentlichkeit der Wahl. Die Wahlgeräte ermöglichten keine wirksame Kontrolle der Wahlhandlung, da wegen der ausschließlich elektronischen Erfassung der Stimmen auf einem Stimm­spei­chermodul weder Wähler noch Wahlvorstände oder im Wahllokal anwesende Bürger die unverfälschte Erfassung der abgegebenen Stimmen überprüfen konnten. Auch die wesentlichen Schritte bei der Ergeb­ni­ser­mittlung konnten von der Öffentlichkeit nicht nachvollzogen werden. Es reichte nicht aus, dass anhand eines zusam­men­fas­senden Papierausdrucks oder einer elektronischen Anzeige das Ergebnis des im Wahlgerät durchgeführten Rechenprozesses zur Kenntnis genommen werden konnte.

Wahl wird nicht wiederholt

V. Die festgestellten Wahlfehler führen nicht zu einer Wiederholung der Wahl in den betroffenen Wahlkreisen.

Der Wahlfehler, der sich aus der Verwendung von rechner­ge­steuerten Wahlgeräten ergibt, deren Beschaffenheit mit den Anforderungen an eine wirksame Kontrol­lier­barkeit des Wahlvorgangs nicht vereinbar war, führt, seine Mandatsrelevanz unterstellt, nicht zur teilweisen Ungül­ti­g­er­klärung der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag. Das Interesse am Bestandsschutz der im Vertrauen auf die Verfas­sungs­mä­ßigkeit der Bundes­wahl­ge­rä­te­ver­ordnung zusam­men­ge­setzten Volksvertretung überwiegt den Wahlfehler, da dessen mögliche Auswirkungen auf die Zusammensetzung des 16. Deutschen Bundestages mangels irgendwelcher Hinweise darauf, dass Wahlgeräte fehlerhaft funktioniert hätten oder manipuliert worden sein könnten, allenfalls als marginal einzustufen sind und auch im Hinblick darauf, dass der festgestellte Verfas­sungs­verstoß bei noch ungeklärter Rechtslage erfolgte, den Fortbestand der gewählten Volksvertretung nicht unerträglich erscheinen lassen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 9/2009 des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2009

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