18.10.2024
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Dokument-Nr. 6056

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Beschluss18.03.2003Bundesverfassungsgericht2 BvB 1/01 u.a.
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • BVerfGE 107, 339Sammlung: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE), Band: 107, Seite: 339
  • NJW 2003, 1577Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2003, Seite: 1577
  • NVwZ 2003, 1248Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ), Jahrgang: 2003, Seite: 1248
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Bundesverfassungsgericht Beschluss18.03.2003

Bundes­ver­fas­sungs­gericht stellt NPD-Verbots­ver­fahren ein3 Richter sehen ein "nicht behebbares Verfah­rens­hin­dernis"

Die NPD wird nicht verboten. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht stellte das Partei­ve­r­bots­ver­fahren, dass die Bundesregierung, der Bundestag und der Bundesrat beantragt hatten ein. Drei der sieben Bundes­ver­fas­sungs­richter lehnten wegen des V-Mann-Skandals eine Fortsetzung des Verfahrens ab. Diese Einstellung ist allerdings keine Entscheidung darüber, ob nicht zukünftig wieder ein neues Verfahren durchgeführt werden könnte

Die 1964 gegründete NPD, die Antragsgegnerin (Ag), erzielte bei einzelnen Landtagswahlen zwischen 1966 und 1968 Wahlergebnisse zwischen 5,8 v.H. und 9,8 v.H.. 1969 erreichte sie mit einem Zweit­stim­me­n­anteil von 4,3 v.H. ihr bestes Bundes­tags­wahl­er­gebnis. Seither errang sie bei keiner Landtags- oder Bundestagswahl mehr ein Mandat. Bei den Bundes­tags­wahlen 1998 und 2002 erzielte die Ag jeweils ,3 v.H. und ,4 v.H. der abgegebenen gültigen Zweitstimmen und bei den letzten Europawahlen 1999 ,4 v.H. der abgegebenen gültigen Stimmen. 1996 verfügte sie nach eigenen Angaben noch über 3240 Mitglieder. Nach der Wahl von Udo Voigt zum Partei­vor­sit­zenden im März 1996 stieg die Zahl ihrer Mitglieder bis 2001 auf 6500.

Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat beantragen Verbot der NPD

Am 30. Januar und 30. März 2001 beantragten Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat (Antragsteller; ASt) beim Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Ag und die Auflösung ihrer Partei­or­ga­ni­sation. Sie halten die Ag für verfassungswidrig. Die Ag gehe nach ihren Zielen und nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf aus, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen. Sie sei in ihrem Gesamtbild natio­nal­so­zi­a­listisch, antisemitisch, rassistisch sowie antide­mo­kratisch geprägt. Die Ag hält die Anträge für unzulässig und unbegründet.

Laut Beschluss vom 1. Oktober 2001 hat der Senat entschieden, die mündliche Verhandlung durchzuführen. Im Januar 2002 hat der Senat Kenntnis davon erhalten, dass ein Funktionär der Ag, dessen Äußerungen mehrfach zur Stützung der Verbotsanträge herangezogen worden sind, V-Mann eines Landesamts für Verfas­sungs­schutz ist. In der Folgezeit haben die ASt erklärt, dass die Ag durch V-Leute des Verfas­sungs­schutzes beobachtet werde. Auch auf der Ebene der Vorstände der Ag gebe es V-Leute.

Nachdem der Senat die sich aus der nachrich­ten­dienst­lichen Beobachtung der Ag ergebenden Fragen am 8. Oktober 2002 mit den Verfah­rens­be­tei­ligten erörtert hatte, hat die Ag sinngemäß die Einstellung des Verfahrens beantragt. Die ASt hätten durch die V-Leute die Möglichkeit, von ihrer internen Planung der Prozessführung Kenntnis zu erlangen. Das Verbots­ver­fahren sei deshalb rechtsstaatlich nicht mehr durchführbar. Die ASt haben erklärt, dass eine unzulässige Ausforschung der Prozess­strategie der Ag nicht stattgefunden habe. Ein Prozess­hin­dernis liege nicht vor.

Gründe der Entscheidung

1. In den Gründen der Entscheidung des Senats heißt es:

Das Verfahren kann nicht fortgeführt werden, weil der Einstel­lungs­antrag der Ag nicht die für eine Ablehnung erforderliche qualifizierte Zweidrit­tel­mehrheit gefunden hat. Vier Richter sind der Auffassung, dass ein Verfah­rens­hin­dernis nicht besteht. Drei Richter sind der Auffassung, dass ein nicht behebbares Verfah­rens­hin­dernis vorliegt.

Nach § 15 Abs. 4 BVerfGG bedarf in einem Parteiverbotsverfahren eine dem Antragsgegner nachteilige Entscheidung in jedem Fall einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Senats. Mindestens sechs des aus acht Richtern bestehenden Senats müssen eine nachteilige Entscheidung gegenüber dem Antragsgegner tragen. Nachteilig ist grundsätzlich jede Entscheidung, die die Rechtsposition des Antragsgegners verschlechtern oder sonst negativ beeinflussen kann.

Die Ablehnung des Antrags auf Einstellung des Verfahrens ist eine für die Ag nachteilige Entscheidung. Bereits der Wortlaut der Vorschrift des § 15 Abs. 4 BVerfGG macht deutlich, dass eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist, um einen Antrag auf Einstellung des Verfahrens wegen eines Verfah­rens­hin­der­nisses abzulehnen; er schreibt bei einer nachteiligen Entscheidung "in jedem Fall" eine Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Senats vor. Zudem trägt das Erfordernis der qualifizierten Mehrheit der hervorgehobenen verfas­sungs­recht­lichen Stellung der politischen Parteien und ihrer erhöhten Schutz- und Bestands­ga­rantie Rechnung. Da Parteien durch die Feststellung der Verfas­sungs­wid­rigkeit und die Auflösung ihrer Organisation von der freien Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes ausgeschlossen werden, bedürfen gerichtliche Entscheidungen zum Nachteil einer Partei in einem Verbots­ver­fahren einer besonderen Legitimation. Dieser Regelungszweck erfasst jedenfalls auch Entscheidungen über das Vorliegen eines nicht behebbaren Verfah­rens­hin­der­nisses. Würde das Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Einstellung des Verfahrens ablehnen, weil ein Verfah­rens­hin­dernis nicht vorliegt, müsste das Parteis­ver­bots­ver­fahren fortgesetzt und eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden. Darin läge eine eigenständige Belastung für die betroffene Partei. Eine Minderheit von drei Richtern ist der Auffassung, infolge mangelnder Staatsfreiheit der Ag auf der Führungsebene sowie mangelnder Staatsfreiheit des zur Antrags­be­gründung ausgebreiteten Bildes der Partei bestehe ein nicht behebbares Hindernis für die Fortführung des Verfahrens. In Anbetracht des Erfordernisses der qualifizierten Mehrheit steht danach fest, dass die Partei­ve­r­bots­anträge nicht zum Erfolg geführt werden können. Eine Fortführung des Verfahrens wäre deshalb rechtsstaatlich nicht vertretbar und der Ag nicht zuzumuten.

Der Einstel­lungs­be­schluss ist eine Prozess- und keine Sachent­scheidung. Den Rechtsansichten der Minderheit und der Mehrheit der Richter kommt deshalb keine Bindungswirkung zu.

Nicht behebbares Verfah­rens­hin­dernis nach Ansicht dreier Richter

2. Die Richter Hassemer und Broß sowie die Richterin Osterloh sind der Auffassung, dass ein nicht behebbares Verfah­rens­hin­dernis vorliegt.

Im Partei­ve­r­bots­ver­fahren wurde das Gebot strikter Staatsfreiheit der Ag rechts­s­taats­widrig verfehlt. Dieser Mangel ist nicht behebbar. Derzeit sind auch keine Gründe erkennbar, die die Fortsetzung des Partei­ve­r­bots­ver­fahrens dennoch ausnahmsweise rechtfertigen könnten. Im Einzelnen führen die drei Richter aus:

a) Bei der Durchführung gerichtlicher Verfahren gelten rechts­s­taatliche Minde­st­an­for­de­rungen: Kein staatliches Verfahren darf einseitig nur nach Maßgabe des jeweils rechtlich bestimmten Verfah­rens­zwecks ohne Rücksicht auf mögliche gegenläufige Verfas­sungs­gebote und auf mögliche übermäßige rechts­s­taatliche Kosten einseitiger Zielverfolgung durchgeführt werden. Die Durchsetzung jedes staatlichen Verfah­ren­s­in­teresses muss im Konflikt mit gegenläufigen verfas­sungs­recht­lichen Rechten, Grundsätzen und Geboten als vorzugswürdig nach Maßgabe der Grundsätze der Verhält­nis­mä­ßigkeit gerechtfertigt sein. Dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht kommt dabei im Partei­ve­r­bots­ver­fahren eine Garan­ten­stellung für die Wahrung der rechts­s­taat­lichen Anforderungen zu. Die Annahme eines Verfah­rens­hin­der­nisses mit der Folge sofortiger Verfah­ren­s­ein­stellung kommt nur als ultima ratio möglicher Rechtsfolgen von Verfas­sungs­ver­stößen und unter folgenden Voraussetzungen in Betracht: Es muss ein Verfas­sungs­verstoß von erheblichem Gewicht vorliegen. Dieser bewirkt einen nicht behebbaren rechts­s­taat­lichen Schaden für die Durchführung des Verfahrens, so dass dessen Fortsetzung auch bei einer Abwägung mit den staatlichen Interessen an wirksamem Schutz gegen die von einer möglicherweise verfas­sungs­widrig tätigen Partei ausgehenden Gefahren rechtsstaatlich nicht hinnehmbar ist.

Beobachtung der NPD durch V-Leute

Die Beobachtung einer politischen Partei durch V-Leute staatlicher Behörden, die als Mitglieder des Bundesvorstands oder eines Landesvorstands fungieren, unmittelbar vor und während der Durchführung eines Partei­ve­r­bots­ver­fahrens ist in der Regel unvereinbar mit den Anforderungen an ein rechts­s­taat­liches Verfahren. Staatliche Präsenz auf der Führungsebene einer Partei macht Einflussnahmen auf deren Willensbildung und Tätigkeit unvermeidbar. In einem Partei­ve­r­bots­ver­fahren schwächen Mitglieder der Führungsebene, die mit einander entge­gen­ge­setzten Loyali­täts­ansprüchen des staatlichen Auftraggebers und der observierten Partei konfrontiert sind, die Stellung der Partei als Antragsgegner vor dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht im Kern. Für diese Wirkung reicht die bloße Präsenz "doppel­funk­ti­onaler", sowohl mit dem Staat als auch mit der Partei rechtlich und faktisch verknüpfter "Verbindungs-" Personen aus. Auf die tatsächliche Information der ASt über die Prozess­strategie der Partei im Verbots­ver­fahren kommt es nicht an.

Vor diesem Hintergrund braucht das verfas­sungs­ge­richtliche Partei­ve­r­bots­ver­fahren ein Höchstmaß an Rechts­si­cherheit, Transparenz, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit des Verfahrens. Dies gilt auch für das zu beurteilende Tatsa­chen­ma­terial. Damit das Bundes­ver­fas­sungs­gericht seiner Aufgabe, ein rechts­s­taat­liches Verfahren zu gewährleisten, nachkommen kann, müssen die zur Antragstellung berechtigten Verfas­sungs­organe die ihnen zugewiesene Verfah­rens­ver­ant­wortung erkennen und wahrnehmen. Sie müssen durch sorgfältige Vorbereitung die notwendigen Voraussetzungen für die Durchführung eines Verbots­ver­fahrens schaffen und ausschließen, dass Personen mit ihren Äußerungen als Teil des Bildes einer verfas­sungs­widrigen Partei präsentiert werden, die nachrich­ten­dienstliche Kontakte mit staatlichen Behörden unterhalten oder unterhalten haben, ohne dies kenntlich zu machen und so die daraus folgenden Zurech­nungs­probleme offenzulegen.

Ob ein Verstoß gegen diese Erfordernisse der Verfah­rens­ge­staltung zu einem nicht behebbaren rechts­s­taat­lichen Schaden führt, lässt sich nicht generell abstrakt beantworten. Es kommt auf die konkrete Verfah­rens­si­tuation und die Gefah­ren­si­tuation, auf die eine mögliche Einstellung des Verfahrens trifft, an. Bei einem nicht behebbaren rechts­s­taat­lichen Mangel wird das Verfahren nur ín ganz außer­ge­wöhn­lichen Gefah­ren­si­tua­tionen fortgesetzt werden können. Bei der Gesamtabwägung ist von Bedeutung, dass die Einstellung des Verbots­ver­fahrens keine abschließende Entscheidung über die Zulässigkeit zukünftiger Verbotsanträge ist. Erneute Anträge bleiben vielmehr ohne Weiteres möglich, sie müssen insbesondere nicht "auf neue Tatsachen gestützt" sein.

b) Diesen verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen werden die Art und Intensität der Beobachtung der Ag durch die Verfas­sungs­schutz­be­hörden nicht gerecht. Von Staatsfreiheit der Führungsebenen der Ag nach Einleitung des Verbots­ver­fahrens kann keine Rede sein. Nach Überzeugung aller Mitglieder des Senats bestanden unmittelbar vor und auch noch nach Eingang des Verbotsantrags der Bundesregierung nachrich­ten­dienstliche Kontakte mit Mitgliedern der Ag im Bundesvorstand und in Landes­vor­ständen. Nach Angaben der ASt gibt es auf der Ebene der Vorstände V-Leute, deren prozentualer Anteil an drei überprüften Stichtagen jeweils unter fünfzehn Prozent gelegen habe. In den Landes­vor­ständen seien im Schnitt jeweils ein bis zwei V-Leute. Auf der Ebene des Bundesvorstands führte jedenfalls der Bund seine nachrich­ten­dienst­lichen Kontakte nach Antragstellung fort. Der Kontakt mit einem V-Mann und Mitglied des Bundesvorstands wurde erst lange nach Eingang aller drei Verbotsanträge beendet. Außerdem soll die NPD in dem Zeitraum von 1996 bis 2002 ständig Beobach­tungs­objekt der Verfas­sungs­schut­zämter in Bayern, Berlin und Hessen gewesen sein. Schließlich wurde ein Mitglied des Bundesvorstands der Ag selbst nach Stellen der Verbotsanträge mit dem Ziel der Anwerbung angesprochen, um die Ag auf Vorstandsebene zu beobachten.

Die Antrags­be­grün­dungen sind auch zweifelsfrei in nicht unerheblicher Weise auf Äußerungen von Mitgliedern der Ag gestützt, die als V-Leute für staatliche Behörden tätig sind oder tätig waren, ohne dass dies offen zu einem Gegenstand der Erörterung im Verfahren gemacht worden ist oder noch gemacht werden könnte.

Eine besondere Ausnah­me­si­tuation, aufgrund deren die massive staatliche Präsenz auf den Vorstandsebenen der ASt auch nach Eingang der Verbotseingänge hätte gerechtfertigt werden können, wird von den ASt nicht geltend gemacht und ist auch nicht erkennbar. Es gibt auch keine Rechtfertigung dafür, dass die Antrags­be­grün­dungen nicht unerheblich auf Äußerungen führender Partei­mit­glieder gestützt sind, die zeitgleich oder zu früheren Zeitpunkten als V-Leute auch im Dienst staatlicher Stellen tätig waren. Anhaltspunkte für eine gefah­ren­be­dingte Eilbe­dürf­tigkeit, die einer sorgfältigen Vorbereitung der Anträge im Wege gestanden hätten, fehlen.

Vier Richter sehen kein Verfah­rens­hin­dernis

3. Die Richter Sommer, Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff sind der Auffassung, dass kein Verfah­rens­hin­dernis besteht. Sie halten die Fortführung des Verbots­ver­fahrens für geboten.

Verfah­rens­hin­dernisse, die einer Verhandlung mit dem Ziel einer Sachent­scheidung entgegenstehen, liegen nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen vor, in denen ein anerken­nens­wertes Interesse schon an der Durchführung des gerichtlichen Verfahrens im Einzelfall nicht mehr besteht und eine Fortsetzung des Verfahrens rechtsstaatlich nicht mehr hinnehmbar ist. Gerichte dürfen sich der Justizgewähr grundsätzlich nicht entziehen, soweit nicht geschriebenes Prozessrecht oder andere zwingende Gründe eine Sachent­scheidung unmöglich machen. Verweigert das Gericht wegen der Annahme eines gesetzlich nicht bestimmten Verfah­rens­hin­der­nisses im Ergebnis die Entscheidung über die Sache, so verschließt es den rechtsstaatlich gebotenen Weg zur Rechtsgewähr mit der Konsequenz, dass nicht in einer befriedenden Weise festgestellt werden kann, was Rechtens ist. Für die Annahme eines Verfah­rens­hin­der­nisses ist deshalb ein strenger Maßstab anzulegen. Das Gericht muss alle seine Möglichkeiten ausschöpfen, um tatsächliche und rechtliche Hindernisse für eine Entscheidung in der Sache auszuräumen. Im Partei­ve­r­bots­ver­fahren gegen die Ag sind bislang keine Umstände bekannt geworden, die die Fortführung des Verfahrens in seiner Gesamtheit tatsächlich unmöglich oder rechtlich unver­hält­nismäßig machen. Die nachrich­ten­dienstliche Beobachtung der Ag begründet weder im Hinblick auf den Grundsatz der Staatsfreiheit der Parteien noch wegen Fragen der Zurechnung der vorgelegten Erkennt­nis­mittel noch aufgrund der Pflicht zur Gewährung eines fairen Verfahrens ein Verfah­rens­hin­dernis. Dazu führen die vier Richter im Einzelnen aus:

Eine staatliche Fremdsteuerung der Ag des Ausmaßes, dass ihr politisches Erschei­nungsbild nicht mehr das Ergebnis eines offenen gesell­schaft­lichen Willens­bil­dungs­pro­zesses ist, ist nicht ansatzweise erkennbar. Bei einer inhaltlichen und program­m­a­tischen Fremdsteuerung folgte daraus kein Verfah­rens­hin­dernis. Vielmehr verlöre die Ag ihre Parteiqualität, so dass der Verbotsantrag in einer Entscheidung zur Sache als unzulässig zurückzuweisen wäre.

Was die Zurechenbarkeit von Erkennt­nis­mitteln angeht, hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht im Partei­ve­r­bots­ver­fahren alle prozessual vorgesehenen Mittel der Sachaufklärung zu nutzen. Die gerichtliche Aufklä­rungs­pflicht gestattet dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht nicht, allein aufgrund einer möglichen mittelbaren staatlichen Einflussnahme durch V-Leute auf die Äußerungen oder Verhal­tens­weisen im Rahmen der Parteitätigkeit das Verfahren ohne weitere Prüfung abzubrechen. Sachent­schei­dungs­er­hebliche Tatsachen sind in einer öffentlichen mündlichen Verhandlung unter Ausschöpfung der Mittel der Beweisaufnahme und unter umfassender Gewährung von rechtlichem Gehör aufzuklären.

Ein Verfah­rens­hin­dernis folgt auch nicht aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens. Um einen Verstoß gegen diesen Grundsatz anzunehmen, müsste bereits jetzt positiv feststehen, dass die Verhand­lungs­kon­zeption der Ag in einer Weise ausgeforscht worden ist, die eine sachangemessene Rechts­ver­tei­digung unmöglich macht. Der bloße Anschein oder die abstrakte Gefahr einer Ausforschung reichen hierfür nicht aus. Anhaltspunkte dafür, dass die Ag in Folge der nachrich­ten­dienst­lichen Beobachtung durch staatliche Stellen an einer sachgerechten Verteidigung im Verbots­ver­fahren gehindert wäre, bestehen nicht. Es ist weder vorgetragen noch erkennbar, dass die ASt Kenntnis von Umständen erlangt haben, die das geplante Prozess­ver­halten der Ag im Verbots­ver­fahren betreffen. Ebenso wenig ist ersichtlich, dass die Wirksamkeit der Vertei­di­gungs­mittel der Ag beeinträchtigt worden ist.

Selbst wenn es zu einer Ausforschung des Verhaltens der maßgeblich am Verfahren beteiligten Funktionäre und Vertreter der Ag gekommen wäre, verstieße die Fortführung des Partei­ve­r­bots­ver­fahrens erst dann gegen rechts­s­taatliche Grundsätze, wenn das Gewicht der Beein­träch­tigung den konkreten Präven­ti­o­nszweck des Partei­ve­r­bots­ver­fahrens überwöge. Denn mögliche Rechts­be­ein­träch­ti­gungen müssen, um ein Verfah­rens­hin­dernis begründen zu können, in Abwägung zu den Zielen und der Bedeutung des Verfahrens von solcher Art und solchem Gewicht sein, dass die Fortführung des gerichtlichen Verfahrens unver­hält­nismäßig wäre. Dies erfordert für das Partei­ve­r­bots­ver­fahren, nicht nur abstrakt die Bedeutung des Art. 21 Abs. 2 GG zu bestimmen, sondern auch die konkrete Gefahrenlage abzuschätzen, die von der politischen Partei für die geschützten Rechtsgüter dieser Vorschrift ausgehen. Die danach gebotene Abwägung setzt eine Sachaufklärung und Beweisaufnahme im Hinblick auf alle abwägungs­re­le­vanten Tatsachen voraus. Eine Prozess­be­en­digung ohne sie widerspricht der besonderen Justi­z­ge­währ­pflicht des Bundes­ver­fas­sungs­gericht im Partei­ve­r­bots­ver­fahren.

Der Präven­ti­o­ns­auftrag des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts erfordert die Aufklärung des konkreten Ausmaßes der Gefahr für die Rechtsgüter des Art. 21 Abs. 2 GG, wenn das Verfahren ohne Sachent­scheidung eingestellt werden soll. Klärungs­be­dürftig ist insoweit auch, ob in parteitypisch organisierter Weise Angriffe auf die Würde des Menschen erfolgen. Geht von einer politischen Partei eine konkret nachweisbare Gefahr für den Fortbestand des freiheitlichen Verfas­sungs­staates aus, so darf das BVerfG etwaige Verstöße gegen den allgemeinen Grundsatz des fairen Verfahrens bei der Abwägung nicht als überwiegend ansehen. Für die notwendige umfassende Aufklärung des Sachverhalts kann und muss das Bundes­ver­fas­sungs­gericht aufgrund des Unter­su­chungs­grund­satzes selbst sorgen. Das Gericht darf nicht von vornherein unter Hinweis auf entge­gen­stehende Geheim­schutz­belange oder die besondere Verfah­rens­ver­ant­wortung von Beteiligten auf die Ermittlung entschei­dungs­er­heb­licher Tatsachen verzichten.

Bei der Abwägung, ob Verfah­rens­mängel im Verbots­ver­fahren den Grundsatz des fairen Verfahrens verletzten, ist der Belang des präventiven Verfas­sungs­schutzes in angemessener Weise zu berücksichtigen. Die verfas­sungs­rechtliche Verpflichtung staatlicher Stellen, verfas­sungs­widrige Bestrebungen zu ermitteln und gegebenenfalls gegen diese vorzugehen, wird grundsätzlich nicht durch die Anhängigkeit eines Partei­ve­r­bots­ver­fahrens aufgehoben. Gerade der Schutz von Indivi­du­a­l­rechts­gütern wie Würde, Leben und Gesundheit, der staatlichen Stellen obliegt, kann es auch von Verfassungs wegen erfordern, unabhängig vom Verbots­ver­fahren die nachrich­ten­dienstliche Beobachtung in geeigneter Weise fortzusetzen. Rechts­s­taatliche Grundsätze gebieten nicht, für die Dauer des Verfahrens Gefahren für geschützte Rechtsgüter, zumal unbeteiligter Dritter, hinzunehmen.

Quelle: ra-online, Bundesverfassungsgericht.

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