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- BVerfGE 107, 339Sammlung: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE), Band: 107, Seite: 339
- NJW 2003, 1577Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2003, Seite: 1577
- NVwZ 2003, 1248Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ), Jahrgang: 2003, Seite: 1248
Bundesverfassungsgericht Beschluss18.03.2003
Bundesverfassungsgericht stellt NPD-Verbotsverfahren ein3 Richter sehen ein "nicht behebbares Verfahrenshindernis"
Die NPD wird nicht verboten. Das Bundesverfassungsgericht stellte das Parteiverbotsverfahren, dass die Bundesregierung, der Bundestag und der Bundesrat beantragt hatten ein. Drei der sieben Bundesverfassungsrichter lehnten wegen des V-Mann-Skandals eine Fortsetzung des Verfahrens ab. Diese Einstellung ist allerdings keine Entscheidung darüber, ob nicht zukünftig wieder ein neues Verfahren durchgeführt werden könnte
Die 1964 gegründete NPD, die Antragsgegnerin (Ag), erzielte bei einzelnen Landtagswahlen zwischen 1966 und 1968 Wahlergebnisse zwischen 5,8 v.H. und 9,8 v.H.. 1969 erreichte sie mit einem Zweitstimmenanteil von 4,3 v.H. ihr bestes Bundestagswahlergebnis. Seither errang sie bei keiner Landtags- oder Bundestagswahl mehr ein Mandat. Bei den Bundestagswahlen 1998 und 2002 erzielte die Ag jeweils ,3 v.H. und ,4 v.H. der abgegebenen gültigen Zweitstimmen und bei den letzten Europawahlen 1999 ,4 v.H. der abgegebenen gültigen Stimmen. 1996 verfügte sie nach eigenen Angaben noch über 3240 Mitglieder. Nach der Wahl von Udo Voigt zum Parteivorsitzenden im März 1996 stieg die Zahl ihrer Mitglieder bis 2001 auf 6500.
Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat beantragen Verbot der NPD
Am 30. Januar und 30. März 2001 beantragten Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat (Antragsteller; ASt) beim Bundesverfassungsgericht die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Ag und die Auflösung ihrer Parteiorganisation. Sie halten die Ag für verfassungswidrig. Die Ag gehe nach ihren Zielen und nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf aus, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen. Sie sei in ihrem Gesamtbild nationalsozialistisch, antisemitisch, rassistisch sowie antidemokratisch geprägt. Die Ag hält die Anträge für unzulässig und unbegründet.
Laut Beschluss vom 1. Oktober 2001 hat der Senat entschieden, die mündliche Verhandlung durchzuführen. Im Januar 2002 hat der Senat Kenntnis davon erhalten, dass ein Funktionär der Ag, dessen Äußerungen mehrfach zur Stützung der Verbotsanträge herangezogen worden sind, V-Mann eines Landesamts für Verfassungsschutz ist. In der Folgezeit haben die ASt erklärt, dass die Ag durch V-Leute des Verfassungsschutzes beobachtet werde. Auch auf der Ebene der Vorstände der Ag gebe es V-Leute.
Nachdem der Senat die sich aus der nachrichtendienstlichen Beobachtung der Ag ergebenden Fragen am 8. Oktober 2002 mit den Verfahrensbeteiligten erörtert hatte, hat die Ag sinngemäß die Einstellung des Verfahrens beantragt. Die ASt hätten durch die V-Leute die Möglichkeit, von ihrer internen Planung der Prozessführung Kenntnis zu erlangen. Das Verbotsverfahren sei deshalb rechtsstaatlich nicht mehr durchführbar. Die ASt haben erklärt, dass eine unzulässige Ausforschung der Prozessstrategie der Ag nicht stattgefunden habe. Ein Prozesshindernis liege nicht vor.
Gründe der Entscheidung
1. In den Gründen der Entscheidung des Senats heißt es:
Das Verfahren kann nicht fortgeführt werden, weil der Einstellungsantrag der Ag nicht die für eine Ablehnung erforderliche qualifizierte Zweidrittelmehrheit gefunden hat. Vier Richter sind der Auffassung, dass ein Verfahrenshindernis nicht besteht. Drei Richter sind der Auffassung, dass ein nicht behebbares Verfahrenshindernis vorliegt.
Nach § 15 Abs. 4 BVerfGG bedarf in einem Parteiverbotsverfahren eine dem Antragsgegner nachteilige Entscheidung in jedem Fall einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Senats. Mindestens sechs des aus acht Richtern bestehenden Senats müssen eine nachteilige Entscheidung gegenüber dem Antragsgegner tragen. Nachteilig ist grundsätzlich jede Entscheidung, die die Rechtsposition des Antragsgegners verschlechtern oder sonst negativ beeinflussen kann.
Die Ablehnung des Antrags auf Einstellung des Verfahrens ist eine für die Ag nachteilige Entscheidung. Bereits der Wortlaut der Vorschrift des § 15 Abs. 4 BVerfGG macht deutlich, dass eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist, um einen Antrag auf Einstellung des Verfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses abzulehnen; er schreibt bei einer nachteiligen Entscheidung "in jedem Fall" eine Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Senats vor. Zudem trägt das Erfordernis der qualifizierten Mehrheit der hervorgehobenen verfassungsrechtlichen Stellung der politischen Parteien und ihrer erhöhten Schutz- und Bestandsgarantie Rechnung. Da Parteien durch die Feststellung der Verfassungswidrigkeit und die Auflösung ihrer Organisation von der freien Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes ausgeschlossen werden, bedürfen gerichtliche Entscheidungen zum Nachteil einer Partei in einem Verbotsverfahren einer besonderen Legitimation. Dieser Regelungszweck erfasst jedenfalls auch Entscheidungen über das Vorliegen eines nicht behebbaren Verfahrenshindernisses. Würde das Bundesverfassungsgericht die Einstellung des Verfahrens ablehnen, weil ein Verfahrenshindernis nicht vorliegt, müsste das Parteisverbotsverfahren fortgesetzt und eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden. Darin läge eine eigenständige Belastung für die betroffene Partei. Eine Minderheit von drei Richtern ist der Auffassung, infolge mangelnder Staatsfreiheit der Ag auf der Führungsebene sowie mangelnder Staatsfreiheit des zur Antragsbegründung ausgebreiteten Bildes der Partei bestehe ein nicht behebbares Hindernis für die Fortführung des Verfahrens. In Anbetracht des Erfordernisses der qualifizierten Mehrheit steht danach fest, dass die Parteiverbotsanträge nicht zum Erfolg geführt werden können. Eine Fortführung des Verfahrens wäre deshalb rechtsstaatlich nicht vertretbar und der Ag nicht zuzumuten.
Der Einstellungsbeschluss ist eine Prozess- und keine Sachentscheidung. Den Rechtsansichten der Minderheit und der Mehrheit der Richter kommt deshalb keine Bindungswirkung zu.
Nicht behebbares Verfahrenshindernis nach Ansicht dreier Richter
2. Die Richter Hassemer und Broß sowie die Richterin Osterloh sind der Auffassung, dass ein nicht behebbares Verfahrenshindernis vorliegt.
Im Parteiverbotsverfahren wurde das Gebot strikter Staatsfreiheit der Ag rechtsstaatswidrig verfehlt. Dieser Mangel ist nicht behebbar. Derzeit sind auch keine Gründe erkennbar, die die Fortsetzung des Parteiverbotsverfahrens dennoch ausnahmsweise rechtfertigen könnten. Im Einzelnen führen die drei Richter aus:
a) Bei der Durchführung gerichtlicher Verfahren gelten rechtsstaatliche Mindestanforderungen: Kein staatliches Verfahren darf einseitig nur nach Maßgabe des jeweils rechtlich bestimmten Verfahrenszwecks ohne Rücksicht auf mögliche gegenläufige Verfassungsgebote und auf mögliche übermäßige rechtsstaatliche Kosten einseitiger Zielverfolgung durchgeführt werden. Die Durchsetzung jedes staatlichen Verfahrensinteresses muss im Konflikt mit gegenläufigen verfassungsrechtlichen Rechten, Grundsätzen und Geboten als vorzugswürdig nach Maßgabe der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt sein. Dem Bundesverfassungsgericht kommt dabei im Parteiverbotsverfahren eine Garantenstellung für die Wahrung der rechtsstaatlichen Anforderungen zu. Die Annahme eines Verfahrenshindernisses mit der Folge sofortiger Verfahrenseinstellung kommt nur als ultima ratio möglicher Rechtsfolgen von Verfassungsverstößen und unter folgenden Voraussetzungen in Betracht: Es muss ein Verfassungsverstoß von erheblichem Gewicht vorliegen. Dieser bewirkt einen nicht behebbaren rechtsstaatlichen Schaden für die Durchführung des Verfahrens, so dass dessen Fortsetzung auch bei einer Abwägung mit den staatlichen Interessen an wirksamem Schutz gegen die von einer möglicherweise verfassungswidrig tätigen Partei ausgehenden Gefahren rechtsstaatlich nicht hinnehmbar ist.
Beobachtung der NPD durch V-Leute
Die Beobachtung einer politischen Partei durch V-Leute staatlicher Behörden, die als Mitglieder des Bundesvorstands oder eines Landesvorstands fungieren, unmittelbar vor und während der Durchführung eines Parteiverbotsverfahrens ist in der Regel unvereinbar mit den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren. Staatliche Präsenz auf der Führungsebene einer Partei macht Einflussnahmen auf deren Willensbildung und Tätigkeit unvermeidbar. In einem Parteiverbotsverfahren schwächen Mitglieder der Führungsebene, die mit einander entgegengesetzten Loyalitätsansprüchen des staatlichen Auftraggebers und der observierten Partei konfrontiert sind, die Stellung der Partei als Antragsgegner vor dem Bundesverfassungsgericht im Kern. Für diese Wirkung reicht die bloße Präsenz "doppelfunktionaler", sowohl mit dem Staat als auch mit der Partei rechtlich und faktisch verknüpfter "Verbindungs-" Personen aus. Auf die tatsächliche Information der ASt über die Prozessstrategie der Partei im Verbotsverfahren kommt es nicht an.
Vor diesem Hintergrund braucht das verfassungsgerichtliche Parteiverbotsverfahren ein Höchstmaß an Rechtssicherheit, Transparenz, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit des Verfahrens. Dies gilt auch für das zu beurteilende Tatsachenmaterial. Damit das Bundesverfassungsgericht seiner Aufgabe, ein rechtsstaatliches Verfahren zu gewährleisten, nachkommen kann, müssen die zur Antragstellung berechtigten Verfassungsorgane die ihnen zugewiesene Verfahrensverantwortung erkennen und wahrnehmen. Sie müssen durch sorgfältige Vorbereitung die notwendigen Voraussetzungen für die Durchführung eines Verbotsverfahrens schaffen und ausschließen, dass Personen mit ihren Äußerungen als Teil des Bildes einer verfassungswidrigen Partei präsentiert werden, die nachrichtendienstliche Kontakte mit staatlichen Behörden unterhalten oder unterhalten haben, ohne dies kenntlich zu machen und so die daraus folgenden Zurechnungsprobleme offenzulegen.
Ob ein Verstoß gegen diese Erfordernisse der Verfahrensgestaltung zu einem nicht behebbaren rechtsstaatlichen Schaden führt, lässt sich nicht generell abstrakt beantworten. Es kommt auf die konkrete Verfahrenssituation und die Gefahrensituation, auf die eine mögliche Einstellung des Verfahrens trifft, an. Bei einem nicht behebbaren rechtsstaatlichen Mangel wird das Verfahren nur ín ganz außergewöhnlichen Gefahrensituationen fortgesetzt werden können. Bei der Gesamtabwägung ist von Bedeutung, dass die Einstellung des Verbotsverfahrens keine abschließende Entscheidung über die Zulässigkeit zukünftiger Verbotsanträge ist. Erneute Anträge bleiben vielmehr ohne Weiteres möglich, sie müssen insbesondere nicht "auf neue Tatsachen gestützt" sein.
b) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die Art und Intensität der Beobachtung der Ag durch die Verfassungsschutzbehörden nicht gerecht. Von Staatsfreiheit der Führungsebenen der Ag nach Einleitung des Verbotsverfahrens kann keine Rede sein. Nach Überzeugung aller Mitglieder des Senats bestanden unmittelbar vor und auch noch nach Eingang des Verbotsantrags der Bundesregierung nachrichtendienstliche Kontakte mit Mitgliedern der Ag im Bundesvorstand und in Landesvorständen. Nach Angaben der ASt gibt es auf der Ebene der Vorstände V-Leute, deren prozentualer Anteil an drei überprüften Stichtagen jeweils unter fünfzehn Prozent gelegen habe. In den Landesvorständen seien im Schnitt jeweils ein bis zwei V-Leute. Auf der Ebene des Bundesvorstands führte jedenfalls der Bund seine nachrichtendienstlichen Kontakte nach Antragstellung fort. Der Kontakt mit einem V-Mann und Mitglied des Bundesvorstands wurde erst lange nach Eingang aller drei Verbotsanträge beendet. Außerdem soll die NPD in dem Zeitraum von 1996 bis 2002 ständig Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzämter in Bayern, Berlin und Hessen gewesen sein. Schließlich wurde ein Mitglied des Bundesvorstands der Ag selbst nach Stellen der Verbotsanträge mit dem Ziel der Anwerbung angesprochen, um die Ag auf Vorstandsebene zu beobachten.
Die Antragsbegründungen sind auch zweifelsfrei in nicht unerheblicher Weise auf Äußerungen von Mitgliedern der Ag gestützt, die als V-Leute für staatliche Behörden tätig sind oder tätig waren, ohne dass dies offen zu einem Gegenstand der Erörterung im Verfahren gemacht worden ist oder noch gemacht werden könnte.
Eine besondere Ausnahmesituation, aufgrund deren die massive staatliche Präsenz auf den Vorstandsebenen der ASt auch nach Eingang der Verbotseingänge hätte gerechtfertigt werden können, wird von den ASt nicht geltend gemacht und ist auch nicht erkennbar. Es gibt auch keine Rechtfertigung dafür, dass die Antragsbegründungen nicht unerheblich auf Äußerungen führender Parteimitglieder gestützt sind, die zeitgleich oder zu früheren Zeitpunkten als V-Leute auch im Dienst staatlicher Stellen tätig waren. Anhaltspunkte für eine gefahrenbedingte Eilbedürftigkeit, die einer sorgfältigen Vorbereitung der Anträge im Wege gestanden hätten, fehlen.
Vier Richter sehen kein Verfahrenshindernis
3. Die Richter Sommer, Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff sind der Auffassung, dass kein Verfahrenshindernis besteht. Sie halten die Fortführung des Verbotsverfahrens für geboten.
Verfahrenshindernisse, die einer Verhandlung mit dem Ziel einer Sachentscheidung entgegenstehen, liegen nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen vor, in denen ein anerkennenswertes Interesse schon an der Durchführung des gerichtlichen Verfahrens im Einzelfall nicht mehr besteht und eine Fortsetzung des Verfahrens rechtsstaatlich nicht mehr hinnehmbar ist. Gerichte dürfen sich der Justizgewähr grundsätzlich nicht entziehen, soweit nicht geschriebenes Prozessrecht oder andere zwingende Gründe eine Sachentscheidung unmöglich machen. Verweigert das Gericht wegen der Annahme eines gesetzlich nicht bestimmten Verfahrenshindernisses im Ergebnis die Entscheidung über die Sache, so verschließt es den rechtsstaatlich gebotenen Weg zur Rechtsgewähr mit der Konsequenz, dass nicht in einer befriedenden Weise festgestellt werden kann, was Rechtens ist. Für die Annahme eines Verfahrenshindernisses ist deshalb ein strenger Maßstab anzulegen. Das Gericht muss alle seine Möglichkeiten ausschöpfen, um tatsächliche und rechtliche Hindernisse für eine Entscheidung in der Sache auszuräumen. Im Parteiverbotsverfahren gegen die Ag sind bislang keine Umstände bekannt geworden, die die Fortführung des Verfahrens in seiner Gesamtheit tatsächlich unmöglich oder rechtlich unverhältnismäßig machen. Die nachrichtendienstliche Beobachtung der Ag begründet weder im Hinblick auf den Grundsatz der Staatsfreiheit der Parteien noch wegen Fragen der Zurechnung der vorgelegten Erkenntnismittel noch aufgrund der Pflicht zur Gewährung eines fairen Verfahrens ein Verfahrenshindernis. Dazu führen die vier Richter im Einzelnen aus:
Eine staatliche Fremdsteuerung der Ag des Ausmaßes, dass ihr politisches Erscheinungsbild nicht mehr das Ergebnis eines offenen gesellschaftlichen Willensbildungsprozesses ist, ist nicht ansatzweise erkennbar. Bei einer inhaltlichen und programmatischen Fremdsteuerung folgte daraus kein Verfahrenshindernis. Vielmehr verlöre die Ag ihre Parteiqualität, so dass der Verbotsantrag in einer Entscheidung zur Sache als unzulässig zurückzuweisen wäre.
Was die Zurechenbarkeit von Erkenntnismitteln angeht, hat das Bundesverfassungsgericht im Parteiverbotsverfahren alle prozessual vorgesehenen Mittel der Sachaufklärung zu nutzen. Die gerichtliche Aufklärungspflicht gestattet dem Bundesverfassungsgericht nicht, allein aufgrund einer möglichen mittelbaren staatlichen Einflussnahme durch V-Leute auf die Äußerungen oder Verhaltensweisen im Rahmen der Parteitätigkeit das Verfahren ohne weitere Prüfung abzubrechen. Sachentscheidungserhebliche Tatsachen sind in einer öffentlichen mündlichen Verhandlung unter Ausschöpfung der Mittel der Beweisaufnahme und unter umfassender Gewährung von rechtlichem Gehör aufzuklären.
Ein Verfahrenshindernis folgt auch nicht aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens. Um einen Verstoß gegen diesen Grundsatz anzunehmen, müsste bereits jetzt positiv feststehen, dass die Verhandlungskonzeption der Ag in einer Weise ausgeforscht worden ist, die eine sachangemessene Rechtsverteidigung unmöglich macht. Der bloße Anschein oder die abstrakte Gefahr einer Ausforschung reichen hierfür nicht aus. Anhaltspunkte dafür, dass die Ag in Folge der nachrichtendienstlichen Beobachtung durch staatliche Stellen an einer sachgerechten Verteidigung im Verbotsverfahren gehindert wäre, bestehen nicht. Es ist weder vorgetragen noch erkennbar, dass die ASt Kenntnis von Umständen erlangt haben, die das geplante Prozessverhalten der Ag im Verbotsverfahren betreffen. Ebenso wenig ist ersichtlich, dass die Wirksamkeit der Verteidigungsmittel der Ag beeinträchtigt worden ist.
Selbst wenn es zu einer Ausforschung des Verhaltens der maßgeblich am Verfahren beteiligten Funktionäre und Vertreter der Ag gekommen wäre, verstieße die Fortführung des Parteiverbotsverfahrens erst dann gegen rechtsstaatliche Grundsätze, wenn das Gewicht der Beeinträchtigung den konkreten Präventionszweck des Parteiverbotsverfahrens überwöge. Denn mögliche Rechtsbeeinträchtigungen müssen, um ein Verfahrenshindernis begründen zu können, in Abwägung zu den Zielen und der Bedeutung des Verfahrens von solcher Art und solchem Gewicht sein, dass die Fortführung des gerichtlichen Verfahrens unverhältnismäßig wäre. Dies erfordert für das Parteiverbotsverfahren, nicht nur abstrakt die Bedeutung des Art. 21 Abs. 2 GG zu bestimmen, sondern auch die konkrete Gefahrenlage abzuschätzen, die von der politischen Partei für die geschützten Rechtsgüter dieser Vorschrift ausgehen. Die danach gebotene Abwägung setzt eine Sachaufklärung und Beweisaufnahme im Hinblick auf alle abwägungsrelevanten Tatsachen voraus. Eine Prozessbeendigung ohne sie widerspricht der besonderen Justizgewährpflicht des Bundesverfassungsgericht im Parteiverbotsverfahren.
Der Präventionsauftrag des Bundesverfassungsgerichts erfordert die Aufklärung des konkreten Ausmaßes der Gefahr für die Rechtsgüter des Art. 21 Abs. 2 GG, wenn das Verfahren ohne Sachentscheidung eingestellt werden soll. Klärungsbedürftig ist insoweit auch, ob in parteitypisch organisierter Weise Angriffe auf die Würde des Menschen erfolgen. Geht von einer politischen Partei eine konkret nachweisbare Gefahr für den Fortbestand des freiheitlichen Verfassungsstaates aus, so darf das BVerfG etwaige Verstöße gegen den allgemeinen Grundsatz des fairen Verfahrens bei der Abwägung nicht als überwiegend ansehen. Für die notwendige umfassende Aufklärung des Sachverhalts kann und muss das Bundesverfassungsgericht aufgrund des Untersuchungsgrundsatzes selbst sorgen. Das Gericht darf nicht von vornherein unter Hinweis auf entgegenstehende Geheimschutzbelange oder die besondere Verfahrensverantwortung von Beteiligten auf die Ermittlung entscheidungserheblicher Tatsachen verzichten.
Bei der Abwägung, ob Verfahrensmängel im Verbotsverfahren den Grundsatz des fairen Verfahrens verletzten, ist der Belang des präventiven Verfassungsschutzes in angemessener Weise zu berücksichtigen. Die verfassungsrechtliche Verpflichtung staatlicher Stellen, verfassungswidrige Bestrebungen zu ermitteln und gegebenenfalls gegen diese vorzugehen, wird grundsätzlich nicht durch die Anhängigkeit eines Parteiverbotsverfahrens aufgehoben. Gerade der Schutz von Individualrechtsgütern wie Würde, Leben und Gesundheit, der staatlichen Stellen obliegt, kann es auch von Verfassungs wegen erfordern, unabhängig vom Verbotsverfahren die nachrichtendienstliche Beobachtung in geeigneter Weise fortzusetzen. Rechtsstaatliche Grundsätze gebieten nicht, für die Dauer des Verfahrens Gefahren für geschützte Rechtsgüter, zumal unbeteiligter Dritter, hinzunehmen.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 19.03.2005
Quelle: ra-online, Bundesverfassungsgericht.
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