15.11.2024
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Dokument-Nr. 15624

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Beschluss13.04.2013Bundesverfassungsgericht1 BvR 990/13
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • NJW 2013, 1293Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2013, Seite: 1293
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Bundesverfassungsgericht Beschluss13.04.2013

NSU-Prozess: OLG München muss angemessene Zahl an Sitzplätzen für ausländische Medien mit besonderem Bezug zu den Opfern vergebenBVerfG gibt Antrag der türkischen Zeitung "Sabah" auf Erlass einer einstweiligen Anordnung teilweise statt

Das Oberlan­des­gericht München muss im NSU-Prozess für Vertreter von ausländischen Medien mit besonderem Bezug zu den Opfern der Straftaten eine angemessene Zahl von Sitzplätzen vergeben. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung teilweise stattgegeben. Die zugrun­de­liegende Verfas­sungs­be­schwerde betrifft das Akkre­di­tie­rungs­ver­fahren und die Vergabe fester Sitzplätze für Medienvertreter im sogenannten NSU-Prozess vor dem Oberlan­des­gericht München. Beschwer­de­führer sind eine GmbH, die eine in türkischer Sprache erscheinende Zeitung verlegt, sowie deren stell­ver­tre­tender Chefredakteur.

Einstweilige Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile

Gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundes­ver­fas­sungs­gericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfas­sungs­wid­rigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfas­sungs­be­schwerde erwiese sich von vornherein als insgesamt unzulässig oder offensichtlich unbegründet.

Allgemeiner Gleich­heits­grundsatz könnte verletzt sein

Die zugrun­de­liegende Verfas­sungs­be­schwerde ist vorliegend weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Insbesondere erscheint es nicht ausgeschlossen, dass das sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ableitende subjektive Recht der Beschwer­de­führer auf Gleich­be­handlung im publizistischen Wettbewerb, also auf gleich­be­rechtigte Teilhabe an den Berich­t­er­stat­tungs­mög­lich­keiten zu gerichtlichen Verfahren, verletzt sein könnte.

Verfas­sungs­recht­licher Schutz der Unabhängigkeit der Gerichte

Allerdings ist die Entscheidung über die Zugänglichkeit zu Gerichts­ver­hand­lungen, die Reservierung einer bestimmten Anzahl von Plätzen für Medien­be­rich­t­er­statter und auch die Verteilung knapper Sitzplätze an dieselben grundsätzlich eine Frage, die sich unter dem verfas­sungs­recht­lichen Schutz der Unabhängigkeit der Gerichte zunächst nach einfachem Recht entscheidet und die der Prozessleitung des Vorsitzenden in dem jeweiligen Gerichts­ver­fahren obliegt. Dabei hat dieser einen weiten Entschei­dungs­spielraum. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht überprüft dessen Anordnungen nur dahingehend, ob sie Verfas­sungsrecht verletzen und insbesondere, ob sie auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts beruhen.

Im Eilrechts­ver­fahren kann keine endgültige Klärung herbeigeführt werden

Ob die Beschwer­de­führer danach durch die angegriffenen Entscheidungen in ihren Grundrechten verletzt sind, bedarf einer näheren Prüfung, die schwierige Rechtsfragen aufwirft und daher im Eilrechts­schutz­ver­fahren nicht abschließend geklärt werden kann. Deshalb kann die Eilentscheidung nur auf eine Folgenabwägung gestützt werden.

Abwägung

Erweist sich eine Verfas­sungs­be­schwerde weder als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet, sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfas­sungs­be­schwerde später aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfas­sungs­be­schwerde aber der Erfolg zu versagen wäre.

Erginge vorliegend keine einstweilige Anordnung, hätte die Verfas­sungs­be­schwerde in der Hauptsache aber Erfolg, so bestünde die Gefahr, dass die Beschwer­de­führer, ohne dass ihnen die gleichen Chancen wie anderen Medien­ver­tretern eingeräumt gewesen wären, wie auch andere ausländische Medien mit besonderem Bezug zu den Opfern der angeklagten Straftaten von der Möglichkeit einer eigenen, aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpften Berich­t­er­stattung im sogenannten NSU-Prozess ausgeschlossen blieben. Dies wiegt vorliegend umso schwerer, als gerade türkische Medienvertreter ein besonderes Interesse an einer vollumfänglich eigenständigen Berich­t­er­stattung über diesen Prozess geltend machen können, da zahlreiche Opfer der angeklagten Taten türkischer Herkunft sind.

Diese Nachteile überwiegen gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im tenorierten Umfange stattgegeben würde, der Verfas­sungs­be­schwerde in der Hauptsache aber der Erfolg letztlich versagt wäre. Denn in diesem Falle würden zwar den ausländischen Medien mit besonderem Bezug zu den Opfern der angeklagten Straftaten Sitzplätze in der Verhandlung eingeräumt, auf die sie nach der bisherigen Sitzplatzvergabe keinen Anspruch mehr gehabt hätten. Eine etwaige Ungleich­be­handlung sonstiger Medien, denen ein bereits zugeteilter Sitzplatz genommen oder bei Bildung eines Zusatz­kon­tingents kein Sitzplatz zugeteilt wird, wöge jedoch vor dem Hintergrund des besonderen Interesses dieser Medien weniger schwer. Rechte der Medien bestehen ohnedies nur im Rahmen einer gleich­heits­ge­rechten Auswah­l­ent­scheidung. Auch ist der Nachteil für die allgemeine Öffentlichkeit, der dadurch entsteht, wenn mit einem Zusatz­kon­tingent einige wenige Plätze der Saalöf­fent­lichkeit bestimmten Medien­ver­tretern zur Verfügung gestellt würden, verhältnismäßig geringer, da die allgemein zu vergebenden Sitzplätze noch nicht konkretisiert sind und entsprechend den hierfür geltenden Maßstäben nach wie vor ein angemessener Teil der im Sitzungssaal verfügbaren Plätze dem allgemeinen Publikum vorbehalten bleibt (vgl. BGH, Beschluss v. 10.01.2006 - 1 StR 527/05 ).

Im Eilrechts­schutz­ver­fahren kann das Bundes­ver­fas­sungs­gericht Maßnahmen treffen, die nicht als die Durchsetzung eines endgültig verfas­sungs­rechtlich gebotenen Ergebnisses zu verstehen sind, sondern als vorläufige Anordnung zur Abwendung oder Milderung von drohenden Nachteilen. Dies gilt insbesondere in einer Situation wie der vorliegenden, in der von vornherein kein verfas­sungs­rechtlich gewährleistetes Recht auf Zugang zur Gerichts­ver­handlung, sondern nur die mögliche Verletzung einer Chance auf gleich­be­rechtigte Teilhabe in Frage steht, die Nachteile sich aber aus den Folgen einer möglichen Verletzung der Chancen­gleichheit ergeben. Die Maßnahme kann sich hier auf die Abmilderung dieser Folgen beziehen. Dies kommt vorliegend zwar einer teilweisen Vorwegnahme der Hauptsache gleich; in Ausnahmefällen ist dies jedoch zulässig, wenn die Entscheidung in der Hauptsache zu spät ergehen würde und in anderer Weise ausreichender Rechtsschutz nicht mehr gewährt werden könnte.

OLG München muss Sitzvergabe für ausländische Medien neu regeln - möglich ist ein Zusatz­kon­tingent

Daher wird dem Vorsitzenden des 6. Strafsenats des Oberlan­des­ge­richts aufgegeben, nach einem von ihm im Rahmen seiner Prozess­lei­tungs­be­fugnis festzulegenden Verfahren eine angemessene Zahl von Sitzplätzen an Vertreter von ausländischen Medien mit besonderem Bezug zu den Opfern der angeklagten Straftaten zu vergeben. Möglich wäre ein Zusatz­kon­tingent von nicht weniger als drei Plätzen zu eröffnen, in dem nach dem Priori­täts­prinzip oder etwa nach dem Losverfahren Plätze vergeben werden. Es bleibt dem Vorsitzenden aber auch unbenommen, anstelle dessen die Sitzplatz­vergabe oder die Akkreditierung insgesamt nach anderen Regeln zu gestalten.

BVerfG lehnt Antrag auf vollständige Aussetzung der Vollziehung der Platzvergabe ab

Der weitergehende Antrag der Beschwer­de­führer auf vollständige Aussetzung der Vollziehung der Platzvergabe und der Sicher­heits­ver­fü­gungen war hingegen abzulehnen, da sie einen Antragsgrund für eine derart weitgehende Verfügung nicht hinreichend dargelegt haben.

Quelle: ra-online, Bundesverfassungsgericht (pm/pt)

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