21.11.2024
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Dokument-Nr. 31117

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Beschluss19.11.2021Bundesverfassungsgericht1 BvR 781/21, 1 BvR 889/21, 1 BvR 860/21, 1 BvR 854/21, 1 BvR 820/21, 1 BvR 805/21 und 1 BvR 798/21
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Bundesverfassungsgericht Beschluss19.11.2021

"Bundesnotbremse" zur Eindämmung der Corona-Pandemie war verfas­sungsgemäßVerfassungs­beschwerden erfolglos

Dass Bundes­verfassungs­gericht hat in mehreren Haupt­sa­che­ver­fahren Verfassungs­beschwerden zurückgewiesen, die sich unter anderem gegen die durch das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 in § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG für einen Zeitraum von gut zwei Monaten eingefügten bußgeld­be­wehrten Ausgangs­beschränkungen sowie bußgeld­be­wehrten Kontakt­beschränkungen nach § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG zur Eindämmung der Corona-Pandemie richteten.

Das am 23. April 2021 in Kraft getretene Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 enthielt ein Bündel von Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, die in das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infek­ti­o­ns­krank­heiten beim Menschen (IfSG) eingefügt wurden. Die hier angegriffenen Maßnahmen waren an eine Sieben-Tage-Inzidenz von 100 gekoppelt (§ 28 b Abs. 1 IfSG). Überschritt also in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die Anzahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen (Sieben-Tage-Inzidenz) den Schwellenwert von 100, so galten dort ab dem übernächsten Tag die in § 28 b IfSG („Bundesnotbremse“) normierten Maßnahmen. Sank in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt die Sieben-Tage-Inzidenz unter den Wert von 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner an fünf aufeinander folgenden Werktagen, so trat die „Notbremse“ dort ab dem übernächsten Tag außer Kraft (§ 28 b Abs. 2 IfSG). Die angegriffenen Vorschriften galten nach § 28 b Abs. 10 Satz 1 IfSG längstens bis zum Ablauf des 30. Juni 2021.§ 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG regelte Kontaktbeschränkungen. Private Zusammenkünfte im öffentlichen oder privaten Raum waren danach nur gestattet, wenn an ihnen höchstens die Angehörigen eines Haushalts und eine weitere Person einschließlich der zu ihrem Haushalt gehörenden Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres teilnahmen. Die Regelung nahm davon Zusammenkünfte aus, die ausschließlich zwischen den Angehörigen desselben Haushalts, ausschließlich zwischen Ehe- oder Leben­s­part­ne­rinnen und -partnern oder ausschließlich in Wahrnehmung eines Sorge- oder Umgangsrechts oder im Rahmen von Veranstaltungen bis 30 Personen bei Todesfällen stattfanden. § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG regelte Ausgangs­be­schrän­kungen. Danach war der Aufenthalt von Personen außerhalb einer Wohnung oder einer Unterkunft von 22 Uhr bis 5 Uhr des Folgetages untersagt. Die Regelung enthielt verschiedene Ausnah­me­tat­be­stände. Ausgenommen waren beispielsweise Aufenthalte zwischen 22 und 24 Uhr, die der im Freien stattfindenden allein ausgeübten körperlichen Bewegung dienten, sowie Aufenthalte, die der Abwendung eines medizinischen oder veteri­nä­r­me­di­zi­nischen Notfalls, der Berufsausübung, der Wahrnehmung des Sorge- oder Umgangsrechts oder ähnlich gewichtigen Zwecken dienten. Außerdem hat die Bundesregierung am 8. Mai 2021 auf der Grundlage der hierfür erteilten Ermächtigung des § 28 c IfSG mit der Zustimmung des Deutschen Bundestags und des Bundesrats die Verordnung zur Regelung von Erleichterungen und Ausnahmen von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erlassen. Diese nahm geimpfte und genesene Personen insbesondere von der Beschränkung privater Treffen, des Aufenthalts im Freien und beim Sport aus.

BVerfG: Grund­recht­s­ein­griffe formell sowie materiell verfas­sungsgemäß und damit verfas­sungs­rechtlich gerechtfertigt

Der Senat hat auf der Grundlage von § 27 a BVerfGG zahlreichen wissen­schaft­lichen Fachge­sell­schaften aus verschiedenen Bereichen als sachkundigen Dritten Gelegenheit gegeben, zu mehreren Fragenkomplexen Stellung zu nehmen. Soweit die Verfas­sungs­be­schwerden zulässig erhoben worden sind, haben sie in der Sache keinen Erfolg. Die in § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG angeordneten Kontakt­be­schrän­kungen und deren Bußgeld­be­wehrung und die Ausgangs­be­schrän­kungen nach § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG und der damit korre­spon­dierende Ordnungs­wid­rig­kei­ten­tat­bestand verletzten die Beschwer­de­füh­renden nicht in ihren Grundrechten. Die in § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG angeordneten Kontakt­be­schrän­kungen griffen sowohl in das Famili­en­grundrecht und die Ehege­stal­tungs­freiheit aus Art. 6 Abs. 1 GG als auch in das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) ein. Die Eingriffe waren jedoch formell sowie materiell verfas­sungsgemäß und damit verfas­sungs­rechtlich gerechtfertigt. Das Ehe- und das Famili­en­grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG gewährleisten ein Recht, sich mit seinen Angehörigen beziehungsweise seinem Ehepartner in frei gewählter Weise und Häufigkeit zusam­men­zu­finden und die familiären Beziehungen zu pflegen. Vom Famili­en­grundrecht erfasst sind die tatsächliche Lebens- und Erzie­hungs­ge­mein­schaft der Kinder und ihrer Eltern, unabhängig davon, ob diese miteinander verheiratet sind, wie auch weitere spezifisch familiäre Bindungen, wie sie zwischen erwachsenen Famili­en­mit­gliedern und zwischen nahen Verwandten auch über mehrere Generationen hinweg bestehen können. Das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) schützt familienähnlich intensive Bindungen auch jenseits des Schutzes von Ehe und Familie. In seiner Ausprägung als allgemeines Persön­lich­keitsrecht schützt es außerdem davor, dass sämtliche Zusammenkünfte mit anderen Menschen unterbunden werden und die einzelne Person zu Einsamkeit gezwungen wird; anderen Menschen überhaupt begegnen zu können, ist für die Persön­lich­keits­ent­faltung von konsti­tu­ie­render Bedeutung. In seiner Ausprägung als umfassende allgemeine Handlungs­freiheit schützt das Grundrecht schließlich auch die Freiheit, mit beliebigen anderen Menschen zusam­men­zu­treffen. Die in § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG angeordneten Kontakt­be­schrän­kungen griffen in diese Grundrechte ein. Diese Grund­recht­s­ein­griffe waren formell verfas­sungsgemäß. Dem Bund stand dafür die konkurrierende Gesetz­ge­bungs­zu­stän­digkeit nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG als Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten zu.

Kontakt­be­schrän­kungen und der korre­spon­dierende Ordnungs­wid­rig­kei­ten­tat­bestand zudem hinreichend bestimmt

Die Ausgestaltung der Kontakt­be­schrän­kungen als selbst­voll­ziehende gesetzliche Regelung, die keiner Umsetzung durch die Verwaltung im Einzelfall bedurfte, verletzte nicht die verfas­sungs­rechtliche Gewährleistung individuellen Rechtsschutzes der Betroffenen, missachtete nicht die aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung beziehungsweise aus einzelnen Grundrechten resultierenden Grenzen für die Handlungs­for­menwahl des Gesetzgebers und verstieß nicht gegen das Allge­mein­heitsgebot aus Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG. Die Kontakt­be­schrän­kungen und der korre­spon­dierende Ordnungs­wid­rig­kei­ten­tat­bestand waren zudem hinreichend bestimmt. Die Kontakt­be­schrän­kungen waren auch verhältnismäßig. Sie dienten verfas­sungs­rechtlich legitimen Zwecken, die der Gesetzgeber in Erfüllung grund­recht­licher Schutzpflichten erreichen wollte, waren im verfas­sungs­recht­lichen Sinne geeignet sowie erforderlich, um diese Zwecke zu erreichen, und standen hierzu nicht außer Verhältnis. Durch gesetzliche Regelungen erfolgende Eingriffe in Grundrechte können lediglich dann gerechtfertigt sein, wenn der Gesetzgeber mit dem Gesetz verfas­sungs­rechtlich legitime Zwecke verfolgt. Ob dies der Fall ist, unterliegt der Prüfung durch das Bundes­ver­fas­sungs­gericht. Jedenfalls bei Gesetzen, mit denen der Gesetzgeber von ihm angenommenen Gefahrenlagen für die Allgemeinheit oder für Rechtsgüter Einzelner begegnen will, erstreckt sich die Prüfung durch das Bundes­ver­fas­sungs­gericht auch darauf, ob die dahingehende Annahme des Gesetzgebers hinreichend tragfähige Grundlagen hat. Gegenstand verfas­sungs­ge­richt­licher Überprüfung ist also sowohl die Einschätzung des Gesetzgebers zum Vorliegen einer solchen Gefahrenlage als auch die Zuverlässigkeit der Grundlagen, aus denen er diese abgeleitet hat oder ableiten durfte. Allerdings belässt ihm die Verfassung für beides einen Spielraum, der vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht lediglich in begrenztem Umfang überprüft werden kann. Die Einschätzung und die Prognose der dem Einzelnen oder der Allgemeinheit drohenden Gefahren sind verfas­sungs­rechtlich darauf zu überprüfen, ob sie auf einer hinreichend gesicherten Grundlage beruhen. Je nach Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter und den Möglichkeiten des Gesetzgebers, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, kann die verfas­sungs­ge­richtliche Kontrolle dabei von einer bloßen Evidenz- über eine Vertret­ba­r­keits­kon­trolle bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen. Geht es um schwerwiegende Grund­recht­s­ein­griffe, dürfen Unklarheiten in der Bewertung von Tatsachen grundsätzlich nicht ohne Weiteres zu Lasten der Grund­recht­s­träger gehen. Jedoch kann sich – ­wie hier – auch die Schutzpflicht des Staates auf dringende verfas­sungs­rechtliche Schutzbedarfe beziehen. Sind wegen Unwägbarkeiten der wissen­schaft­lichen Erkenntnislage die Möglichkeiten des Gesetzgebers begrenzt, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen, genügt es daher, wenn er sich an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung der ihm verfügbaren Informationen und Erkennt­nis­mög­lich­keiten orientiert. Dieser Spielraum gründet auf der durch das Grundgesetz dem demokratisch in besonderer Weise legitimierten Gesetzgeber zugewiesenen Verantwortung dafür, Konflikte zwischen hoch- und höchstrangigen Interessen trotz ungewisser Lage zu entscheiden.

Ziele verfolgten verfas­sungs­rechtlich legitime Zwecke

Daran gemessen verfolgte der Gesetzgeber mit den in § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG angeordneten Kontakt­be­schrän­kungen jeweils für sich genommen und auch in ihrer Zusammenschau verfas­sungs­rechtlich legitime Zwecke. Mit dem Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite bezweckte der Gesetzgeber ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs, insbesondere Leben und Gesundheit zu schützen. Diese Ziele sollten durch effektive Maßnahmen zur Reduzierung von zwischen­mensch­lichen Kontakten erreicht werden. Oberstes Ziel war es, die weitere Verbreitung des Virus zu verlangsamen sowie deren exponentielles Wachstum zu durchbrechen, um eine Überlastung des Gesund­heits­systems insgesamt zu vermeiden und die medizinische Versorgung bundesweit sicherzustellen. Sowohl der Lebens- und Gesund­heits­schutz als auch die Funkti­o­ns­fä­higkeit des Gesund­heits­systems sind bereits für sich genommen überragend wichtige Gemein­wohl­belange und daher verfas­sungs­rechtlich legitime Gesetzeszwecke. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, der den Schutz des Einzelnen vor Beein­träch­ti­gungen seiner körperlichen Unversehrtheit und seiner Gesundheit umfasst, kann zudem eine Schutzpflicht des Staates folgen, die eine Vorsorge gegen Gesund­heits­be­ein­träch­ti­gungen umfasst. Die Beurteilung des Gesetzgebers, es habe bei Verabschiedung des Gesetzes eine Gefahrenlage für Leben und Gesundheit sowie die Gefahr der Überlastung des Gesund­heits­systems bestanden, beruhte auf tragfähigen tatsächlichen Erkenntnissen. Der Gesetzgeber hatte mit der Aufga­ben­zu­weisung an das Robert Koch-Institut nach § 4 Abs. 1 IfSG im Grundsatz institutionell dafür Sorge getragen, dass die zur Beurteilung von Maßnahmen der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten benötigten Informationen erhoben und evaluiert wurden. Zu den Aufgaben des Robert Koch-Instituts gehört es, die Erkenntnisse zu solchen Krankheiten durch Auswertung und Veröf­fent­lichung der Daten zum Infek­ti­o­ns­ge­schehen in Deutschland und durch die Auswertung verfügbarer Studien aus aller Welt fortlaufend zu aktualisieren und für die Bundesregierung und die Öffentlichkeit aufzubereiten. Auf dieser Grundlage schätzte das Robert Koch-Institut zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland aufgrund der anhaltend hohen Fallzahlen insgesamt als sehr hoch ein. Der Gesetzgeber hat sich zudem in Sachver­stän­di­ge­nan­hö­rungen im zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestages mit den fachwis­sen­schaft­lichen Grundlagen befasst. Mehrere wissen­schaftliche Fachge­sell­schaften schätzten die Situation im Zeitraum des Inkrafttretens der angegriffenen Vorschriften und davor ähnlich wie das Robert Koch-Institut ein. Während des Gesetz­ge­bungs­ver­fahrens waren darüber hinaus fachliche Stellungnahmen zu allen relevanten Fragen öffentlich verfügbar und wurden breit diskutiert. Im Einzelnen unterschieden sich dabei die Einschätzungen zur Gefährdungslage, zur künftigen Entwicklung der Pandemie und zu den Maßnahmen, um diese einzudämmen. Belastbare Erkenntnisse, wonach nur geringe oder keine Gefahren für Leben und Gesundheit durch eine Infektion oder nur geringe oder keine Gefahren auch durch Überlastung des Gesund­heits­systems vorlägen, waren jedoch nicht vorhanden.

Kontakt­be­schrän­kungen geeignetes Mittel zum Schutz von Leben und Gesundheit

Die durch § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG angeordneten Beschränkungen von Kontakten im privaten und im öffentlichen Raum waren im verfas­sungs­recht­lichen Sinne geeignet, die Gesetzeszwecke zu erreichen. Dafür genügt bereits die Möglichkeit, durch die gesetzliche Regelung den Gesetzeszweck zu erreichen. Bei der Beurteilung der Eignung einer Regelung steht dem Gesetzgeber ein Spielraum zu, der sich auf die Einschätzung und Bewertung der tatsächlichen Verhältnisse, auf die etwa erforderliche Prognose und auf die Wahl der Mittel bezieht, um die Ziele des Gesetzes zu erreichen. Dieser Spielraum reicht nicht stets gleich weit, sondern hängt einzel­fa­ll­bezogen etwa von den Möglichkeiten ab, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden. Wiederum gilt zwar, dass bei schwerwiegenden Grund­recht­s­ein­griffen tatsächliche Unsicherheiten grundsätzlich nicht ohne Weiteres zulasten der Grund­recht­s­träger gehen dürfen. Erfolgt wie hier der Eingriff aber zum Schutz gewichtiger verfas­sungs­recht­licher Güter und ist es dem Gesetzgeber angesichts der tatsächlichen Unsicherheiten nur begrenzt möglich, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen, ist die verfas­sungs­ge­richtliche Prüfung auf die Vertretbarkeit der gesetz­ge­be­rischen Eignungs­prognose beschränkt. Das schließt die Prüfung ein, ob die gesetz­ge­be­rische Prognose hinreichend verlässlich ist. Danach waren die durch § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG angeordneten Kontakt­be­schrän­kungen ein geeignetes Mittel, um unmittelbar Leben und Gesundheit von Menschen vor den Gefahren einer COVID-19-Erkrankung zu schützen und außerdem eine Überlastung des Gesund­heits­systems zu vermeiden, die im Fall ihres Eintritts mit ihrerseits erheblichen Gefährdungen für das Leben und die Gesundheit an COVID-19 Erkrankter sowie aus anderen Gründen stationär oder gar inten­siv­me­di­zinisch behand­lungs­be­dürftiger Patienten einherginge. Die Annahmen des Gesetzgebers über die Eignung der Kontakt­be­schrän­kungen beruhten auf tragfähigen Grundlagen. Nach den in diesem Verfahren eingeholten Stellungnahmen der sachkundigen Dritten war und ist insoweit gesicherte Erkenntnislage, dass SARS-CoV-2 über respiratorische Sekrete übertragen wird. Auf Grundlage ihrer näheren Erkenntnisse führten die sachkundigen Dritten weitgehend übereinstimmend aus, dass jede Einschränkung von Kontakten zwischen Menschen einen wesentlichen Beitrag zur Eindämmung von Virus­über­tra­gungen leistet.

Maßnahmen auch im verfas­sungs­recht­lichen Sinne erforderlich

Auf tragfähiger Grundlage beruht auch die Regelungs­technik, die Geltung der Kontakt­be­schrän­kungen an das Überschreiten des Schwellenwerts einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 zu knüpfen. Der Gesetzgeber hielt sich damit sowohl für die Anknüpfung an die Inzidenz an sich als auch für den Schwellenwert innerhalb seines Einschät­zungs­spielraums. Die angegriffenen Kontakt­be­schrän­kungen waren als Maßnahmen zum Schutz von Leben und Gesundheit sowie zur Aufrecht­er­haltung eines funkti­o­ns­fähigen Gesund­heits­systems auch im verfas­sungs­recht­lichen Sinne erforderlich. Verfas­sungs­widrig wären die Kontakt­be­schrän­kungen gewesen, wenn andere, in der Wirksamkeit den Kontakt­be­schrän­kungen in ihrer konkreten Gestalt eindeutig gleiche, aber die betroffenen Grundrechte weniger stark einschränkende Mittel zur Verfügung gestanden hätten. Hier ist aber, ausgehend von den bei Verabschiedung des Gesetzes vorhandenen Erkenntnissen zur Übertragbarkeit des Virus und zu den Möglichkeiten, seiner Verbreitung zu begegnen, verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber denkbare mildere Mittel nicht als sicher gleich wirksam wie die angeordneten Kontakt­be­schrän­kungen ansah, den Zweck der Regelung zu erreichen. Das gilt sowohl für seinerzeit möglichen Schutz durch Impfungen als auch für andere Maßnahmen zur Ausgestaltung von persönlichen Kontakten als Kontakt­be­schrän­kungen. Die Kontakt­be­schrän­kungen waren auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Das setzt voraus, dass der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, in einer Abwägung Reichweite und Gewicht des Eingriffs in Grundrechte einerseits der Bedeutung der Regelung für die Erreichung legitimer Ziele andererseits gegen­über­zu­stellen. Um dem Übermaßverbot zu genügen, müssen hierbei die Interessen des Gemeinwohls umso gewichtiger sein, je empfindlicher die Einzelnen in ihrer Freiheit beeinträchtigt werden. Umgekehrt wird gesetz­ge­be­risches Handeln umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grund­rechts­ausübung erwachsen können. Dem ist der Gesetzgeber gerecht geworden.

Grundrechte der Beschwer­de­füh­renden ausreichend berücksichtigt

Mit den Kontakt­be­schrän­kungen verfolgte er Gemeinwohlziele von überragender Bedeutung. Der Gesetzgeber wollte so Leben und Gesundheit schützen, wozu er nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet ist. Er konnte wegen der tatsächlichen Lage bei Verabschiedung des Gesetzes annehmen, dass zu deren Schutz mit besonderer Dringlichkeit gehandelt werden musste. In der Abwägung hat der Gesetzgeber für den zu beurteilenden Zeitraum einen verfas­sungs­gemäßen Ausgleich zwischen den mit den Kontakt­be­schrän­kungen verfolgten besonders bedeutsamen Gemein­wohl­be­langen und den erheblichen Grund­rechts­be­ein­träch­ti­gungen gefunden. Der Gesetzgeber hat dem Lebens- und Gesund­heits­schutz nicht einseitig Vorrang eingeräumt und hat auf der anderen Seite nicht die Grundrechte der Beschwer­de­füh­renden außer Acht gelassen. Vielmehr sah er bei der Ausgestaltung der Kontakt­be­schrän­kungen Sicherungen vor, um das Ausmaß der Eingriffe in die betroffenen Grundrechte, insbesondere in Art. 6 Abs. 1 GG und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, zu begrenzen, ohne den Lebens- und Gesund­heits­schutz zu gefährden. Dabei sind insbesondere die im Gesetz selbst angelegten Vorkehrungen zur Begrenzung grundrechtlich bedeutsamer Belastungen zu berücksichtigen. In diesem Sinne begrenzend wirkten sowohl die zeitliche Befristung des Gesetzes als auch der dynamisch am Pande­mie­ge­schehen ausgerichtete und regional diffe­ren­zierende Regelungsansatz in § 28 b IfSG. Die mit dem Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite angeordneten Maßnahmen traten am 23. April 2021 in Kraft und liefen nach § 28 b Abs. 10 Satz 1 IfSG mit Ablauf des 30. Juni 2021 aus. Die danach denkbare Höchstdauer der Maßnahmen – die in keinem Gebiet der Bundesrepublik erreicht wurde – betrug circa zwei Monate. Ihre Wirkung entfaltete sich lediglich in Landkreisen und kreisfreien Städten, in denen an drei aufeinander folgenden Tagen die Sieben-Tage-Inzidenz den Schwellenwert von 100 überstieg und nur bis der dortige Schwellenwert wieder für eine gewisse Zeit unterschritten wurde. Freiheits­be­ein­träch­ti­gungen wiegen aber grundsätzlich umso weniger schwer, je kürzer sie gelten. Die in § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG angeordneten Ausgangs­be­schrän­kungen griffen in verschiedene Grundrechte ein. Die Eingriffe waren im Ergebnis ebenfalls verfas­sungs­rechtlich gerechtfertigt.

Befugnis zur unbegrenzten Bewegung nicht durch Grundrecht gewährleistet

Die Ausgangs­be­schrän­kungen griffen in das Freiheits­grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG ein. Dieses schützt die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungs­freiheit vor staatlichen Eingriffen. Das Grundrecht gewährleistet allerdings von vornherein nicht die Befugnis, sich unbegrenzt und überall hin bewegen zu können. Die Fortbe­we­gungs­freiheit setzt damit in objektiver Hinsicht die Möglichkeit voraus, von ihr tatsächlich und rechtlich Gebrauch machen zu können. Subjektiv genügt ein darauf bezogener natürlicher Wille. Dabei schützt Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG nicht nur gegen Eingriffe durch unmittelbar wirkenden körperlichen Zwang. Vielmehr können auch staatliche Maßnahmen mit lediglich psychisch vermittelt wirkendem Zwang in das Grundrecht eingreifen, wenn deren Zwangswirkung in Ausmaß und Wirkungsweise einem unmittelbaren physischen Zwang vergleichbar ist. So verhielt es sich bei den hier angegriffenen Ausgangs­be­schrän­kungen. Die Ausgangs­be­schrän­kungen griffen auch in das Famili­en­grundrecht und die Ehege­stal­tungs­freiheit aus Art. 6 Abs. 1 GG sowie in das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG ein. Die Ausgangs­be­schrän­kungen untersagten den Beschwer­de­füh­renden über die Kontakt­be­schrän­kungen hinaus, ihre familiären und partner­schaft­lichen Zusammenkünfte frei zu gestalten. Die Regelung war jedoch formell und materiell verfas­sungsgemäß. Auch für die Ausgangs­be­schrän­kungen bestand eine Gesetz­ge­bungs­kom­petenz des Bundes. Die bußgeld­be­wehrten Ausgangs­be­schrän­kungen erfüllten die Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit von Normen. Die Wahl eines selbst­voll­zie­henden Gesetzes war auch hier verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere kann ein Gesetz, das unmittelbar ohne weiteren Vollzugsakt in die Fortbe­we­gungs­freiheit eingreift, Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG genügen. Die angegriffenen Ausgangs­be­schrän­kungen waren in der konkreten Situation auch verhältnismäßig. Sie dienten als Teil eines Gesamt­s­chutz­konzepts dem verfas­sungs­rechtlich legitimen Zweck des Schutzes von Leben und Gesundheit, waren zur Verfolgung dieses Zwecks im verfas­sungs­recht­lichen Sinne geeignet und erforderlich und standen dazu nicht außer Verhältnis.

Ausnahmen von Ausgangs­be­schrän­kungen ausreichend berücksichtigt

Die Annahme des Gesetzgebers, mittels der in § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG angeordneten Ausgangs­be­schrän­kungen die Anzahl der Infektionen reduzieren zu können, hält sich innerhalb des ihm bei der Einschätzung der Eignung und der Erfor­der­lichkeit einer Maßnahme zustehenden Spielraums. Die nächtlichen Ausgangs­be­schrän­kungen sollten die allgemeinen Kontakt­be­schrän­kungen nach § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG und die sonstigen Schutzmaßnahmen unterstützen und insbesondere die Einhaltung der Kontakt­be­schrän­kungen in geschlossenen Räumen sichern. Dies beruhte auf der hinreichend tragfähigen Annahme, dass der Virus­über­tragung und Ansteckung in Innenräumen zwar durch Schutzmaßnahmen wie dem Abstandhalten, dem Tragen von Masken, Lüften und allgemeiner Hygieneregeln entgegengewirkt werden kann, dass dies aber zur Abend- und Nachtzeit und im privaten Rückzugsbereich nur eingeschränkt durchsetzbar ist. Dass der Gesetzgeber sich dafür entschied, solche Zusammenkünfte von vornherein über vergleichsweise einfach zu kontrollierende Ausgangs­be­schrän­kungen zu reduzieren, war angesichts der bestehenden Erkenntnislage verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG genügte auch dem Verhält­nis­mä­ßig­keitsgebot im engeren Sinne. Der Gesetzgeber hat für den zu beurteilenden Zeitraum einen verfas­sungs­gemäßen Ausgleich zwischen den mit den Ausgangs­be­schrän­kungen verfolgten besonders bedeutsamen Gemein­wohl­be­langen und den durch die Beschränkungen bewirkten erheblichen Grund­rechts­be­ein­träch­ti­gungen gefunden. Im Rahmen seines Schutzkonzepts räumte er nicht einseitig dem Lebens- und Gesund­heits­schutz sowie der Funkti­o­ns­fä­higkeit des Gesund­heits­systems Vorrang ein. Er hat mit den speziell die Ausgangs­be­schrän­kungen betreffenden Ausnah­me­re­ge­lungen in § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstaben a bis g IfSG grundrechtlich geschützte, entge­gen­stehende Belange besonders berücksichtigt. Das galt für die Mandats- und Berufs­aus­ausübung, einschließlich derjenigen von Medien­ver­tretern, die auch während der nächtlichen Ausgangs­be­schrän­kungen tätig sein konnten. Damit trug der Gesetzgeber insbesondere den Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG Rechnung. Die Ausnahmen für die Wahrnehmung des Sorge- und Umgangsrechts sowie für die Durchführung unauf­schiebbarer Betreuung unter­stüt­zungs­be­dürftiger Personen oder Minderjähriger milderten die Intensität des Eingriffs vor allem in die Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG ab. Das Zusammenwirken der genannten Ausnahmen kam unter anderem Allein­er­zie­henden in ihrer besonderen Belas­tungs­si­tuation entgegen. Sämtliche Ausnah­me­tat­be­stände milderten also das Gewicht der Eingriffe in einzelne Grundrechte ab. Zudem begrenzte die genera­l­klau­sel­artige Ausnahme aus § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe f IfSG die Eingriff­sin­tensität. Umfassende Ausgangs­be­schrän­kungen kommen nur in einer äußersten Gefahrenlage in Betracht. Hier war die Entscheidung des Gesetzgebers für die angegriffenen Maßnahmen in der konkreten Situation der Pandemie und nach den auch in diesem Verfahren durch die sachkundigen Dritten bestätigten Erkenntnissen zu den Wirkungen der Maßnahmen und zu den großen Gefahren für Leben und Gesundheit tragfähig begründet und mit dem Grundgesetz vereinbar.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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