18.10.2024
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Dokument-Nr. 5503

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Beschluss19.12.2007Bundesverfassungsgericht1 BvR 620/07
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • NJW-RR 2007, 986Zeitschrift: NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht (NJW-RR), Jahrgang: 2007, Seite: 986
  • ZUM 2008, 221Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht (ZUM), Jahrgang: 2008, Seite: 221
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Bundesverfassungsgericht Beschluss19.12.2007

Fernseh­bericht­erstattung im Gericht außerhalb der mündlichen Verhandlung bei gewichtigem öffentlichem Informations­interesse grundsätzlich zulässigGrundsatz­entscheidung über die Rechte der Medien bei der Berich­t­er­stattung über Prozesse

Bei Prozessen von öffentlichem Interesse sind Fernsehkameras im Gerichtssaal vor und nach der Verhandlung grundsätzlich zulässig. Dies hat das Bundes­verfas­sungs­gericht entschieden. Allerdings darf der Vorsitzende Richter nach seinem Ermessen durch sitzungs­polizeiliche Anordnungen Beschränkungen vorsehen. Dabei hat er den Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit zu beachten.

Im März 2007 begann vor dem Landgericht Münster die Verhandlung gegen 18 Bundes­wehr­aus­bilder, die Rekruten in einer Kaserne im westfälischen Coesfeld misshandelt haben sollen. Im Vorfeld der Verhandlung ordnete der Vorsitzende der Strafkammer den Ausschluss von Foto- und Fernsehteams aus dem Sitzungssaal für einen Zeitraum von 15 Minuten vor Prozessbeginn und 10 Minuten nach Prozessende an. Auf Antrag des ZDF gab die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts dem Vorsitzenden im Wege der Eilanordnung auf, dem Fernsehteam des ZDF die Anfertigung von Aufnahmen der im Sitzungssaal anwesenden Verfah­rens­be­tei­ligten zu ermöglichen und hierbei die Anwesenheit der Richter und Schöffen im Sitzungssaal zu gewährleisten. Soweit es an einem Einverständnis der Angeklagten mit einer Veröf­fent­lichung ihres Bildnisses fehle, sei eine Anonymisierung ihrer Gesichter sicherzustellen.

Zulässige Foto- und Filmaufnahmen außerhalb der mündlichen Verhandlung

Die öffentliche Kontrolle von Gerichts­ver­hand­lungen werde durch die Anwesenheit der Medien und deren Berichterstattung grundsätzlich gefördert, so dass Bundes­ver­fas­sungs­gericht. Ebenso liege es im Interesse der Justiz, mit ihren Verfahren und Entscheidungen auch im Hinblick auf die Durchführung mündlicher Verhandlungen öffentlich wahrgenommen zu werden. Zur Art und Intensität öffentlicher Wahrnehmung trage die Veröf­fent­lichung audiovisueller Darstellungen bei. Die mündliche Verhandlung selbst sei nach dem Gesetz in verfas­sungs­gemäßer Weise den Ton- und Bildaufnahmen verschlossen; insoweit erfolge die öffentliche Kontrolle von Gerichts­ver­hand­lungen durch die Saalöf­fent­lichkeit und die Berich­t­er­stattung darüber. Allerdings könne eine Vermittlung des Erschei­nungs­bildes eines Gerichtssaals und der in ihm handelnden Personen den Bürgern darüber hinaus eine der Befriedigung des Infor­ma­ti­o­ns­in­teresses dienende Anschaulichkeit von Gerichts­ver­fahren vermitteln. Dementsprechend gehen die Fachgerichte von einer grundsätzlichen Öffnung des Zeitraums vor Beginn und nach Schluss einer mündlichen Verhandlung sowie in den Verhand­lungs­pausen für Medien unter Einschluss der Möglichkeit des Einsatzes von rundfunk­s­pe­zi­fischen Aufnahme- und Verbrei­tungs­techniken aus.

Erlaubnis zu Bildaufnahmen im Ermessen des Vorsitzenden Richters

Durch sitzungs­po­li­zeiliche Anordnung des Vorsitzenden können nach Auffassung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts aber Beschränkungen vorgesehen werden. Die Gestaltung der Anordnungen liege im Ermessen des Vorsitzenden. Dieses Ermessen habe er unter Beachtung der Bedeutung der Rundfunk­be­rich­t­er­stattung für die Gewährleistung öffentlicher Wahrnehmung und Kontrolle von Gerichts­ver­hand­lungen sowie der einer Berich­t­er­stattung entge­gen­ste­henden Interessen auszuüben und dabei sicherzustellen, dass der Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit gewahrt ist. Überwiegt das Interesse an einer Berich­t­er­stattung unter Nutzung von Ton- und Bewegt­bild­auf­nahmen andere bei der Ermes­sen­s­ent­scheidung zu berück­sich­tigende Interessen, sei der Vorsitzende verpflichtet, eine Möglichkeit für solche Aufnahmen zu schaffen.

Gegenstand des Gerichts­ver­fahrens bedeutsam für Infor­ma­ti­o­ns­in­teresse der Öffentlichkeit

Bei der Gewichtung des Infor­ma­ti­o­ns­in­teresses der Öffentlichkeit sei nach Ansicht des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts der jeweilige Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens bedeutsam. Bei Strafverfahren sei insbesondere die Schwere der zur Anklage stehenden Straftat zu berücksichtigen, aber auch die öffentliche Aufmerksamkeit für den Prozess, etwa wegen seines Aufsehen erregenden Gegenstands. Das Infor­ma­ti­o­ns­in­teresse der Öffentlichkeit sei regelmäßig auch auf die Personen gerichtet, die als Mitglieder des Spruchkörpers oder als Sitzungs­ver­treter der Staats­an­walt­schaft an der Rechtsfindung im Namen des Volkes mitwirken.

Persön­lich­keitsrecht der Beteligten muss geschützt werden

Aus Sicht des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts seien aber auch schutzwürdige Interessen, die einer Aufnahme und Verbreitung von Ton- und Bildaufnahmen entgegenstehen können zu berücksichtigen. Zu den Schut­z­in­teressen gehöre das Persön­lich­keitsrecht der Beteiligten, insbesondere das Recht am eigenen Bild. Hier sei zu berücksichtigen, dass zumindest ein Teil der Verfah­rens­be­tei­ligten sich regelmäßig in einer für sie ungewohnten und belastenden Situation befindet und sie zur Anwesenheit verpflichtet sind. Speziell auf Seiten der Angeklagten seien auch mögliche Pranger­wir­kungen oder Beein­träch­ti­gungen des Anspruchs auf Achtung der Vermutung seiner Unschuld und von Belangen späterer Resozi­a­li­sierung zu beachten, die durch eine identi­fi­zierende Medien­be­rich­t­er­stattung bewirkt werden können. Hinsichtlich der Zeugen sei deren besondere Belas­tungs­si­tuation zu berücksichtigen, etwa wenn sie Opfer der Tat sind. Aber auch den als Richtern, Staatsanwälten, Rechtsanwälten oder Justiz­be­diensteten am Verfahren Mitwirkenden stehe ein Anspruch auf Schutz zu, der das Veröf­fent­li­chungs­in­teresse überwiegen kann, etwa wenn Veröf­fent­li­chungen von Abbildungen eine erhebliche Belästigung oder Gefährdung ihrer Sicherheit durch Übergriffe Dritter bewirken können. Zu den zu berück­sich­ti­genden Schut­z­in­teressen gehören darüber hinaus der Anspruch der Beteiligten auf ein faires Verfahren sowie die Funkti­o­ns­tüch­tigkeit der Rechtspflege, insbesondere die ungestörte Wahrheits- und Rechtsfindung.

Beachtung des Grundsatzes der Verhält­nis­mä­ßigkeit

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht führte weiter aus, dass die Ermes­sen­s­ent­scheidung des Vorsitzenden den Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit zu wahren habe. Ein Verbot von Ton- und Rundfunk­auf­nahmen sei nicht erforderlich, wenn dem Schutz kollidierender Belange bereits durch eine beschränkende Anordnung Rechnung getragen werden könne, insbesondere durch das Erfordernis einer Anonymisierung der Bildaufnahme solcher Personen, die Anspruch auf besonderen Schutz haben, sowie durch Anweisungen zu Standort, Zeit, Dauer und Art der Aufnahmen. Beein­träch­ti­gungen des äußeren Ablaufs der Sitzung, die etwa durch die Enge des Saals bedingt sind, können dadurch entgegengewirkt werden, das nicht mehrere Kamerateams zugelassen werden, sondern eine so genannte Pool-Lösung gewählt wird.

Unver­hält­nis­mä­ßigkeit der Anordnung des Vorsitzenden Richters

Die angegriffene Anordnung des Vorsitzenden werde diesen Anforderungen nicht gerecht, so das Bundes­ver­fas­sungs­gericht. Es sei nicht hinreichend berücksichtigt worden, dass das Verfahren den öffentlich viel diskutierten Vorwurf der Misshandlung von Rekruten der Bundeswehr durch die für ihre Ausbildung verant­wort­lichen Offiziere und Unteroffiziere betraf und sich deutlich aus dem Bereich des Alltäglichen heraushob, so dass die Aufklärung der Vorgänge auf großes öffentliches Interesse stieß. Eine die Entschei­dungs­findung erschwerende Verunsicherung der Angeklagten als Folge von Bildauf­zeich­nungen des Geschehens im Sitzungssaal außerhalb der Hauptverhandlung dürfe der Vorsitzende nicht schematisch unterstellen. Es liege nach dem Gegenstand des Verfahrens und der Person der Angeklagten, bei denen es sich durchweg um berufserfahrene Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr handelte, nicht ohne weiteres auf der Hand, dass Anlass zu solchen Befürchtungen bestanden habe. Das Interesse der Öffentlichkeit an bildlicher Dokumentation des Geschehens am Rande einer Haupt­ver­handlung schließe die mitwirkenden Richter einschließlich der Schöffen, sowie der Staatsanwälte und Rechtsanwälte als Organe der Rechtspflege ein. Den vom Vorsitzenden angeführten Problemen, die aus der räumlichen Enge des Sitzungssaals resultieren könnten, hätte durch geeignete Vorkehrungen Rechnung getragen werden können, etwa durch die Beschränkung der Aufnahmen im Rahmen einer Pool-Lösung.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/rb)

der Leitsatz

Zur Berück­sich­tigung der Rundfunk­freiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG beim Erlass sitzungs­po­li­zei­licher Anordnungen über Ton- und Bildaufnahmen unmittelbar vor und nach einer mündlichen Verhandlung sowie in Sitzungspausen.

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