21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss16.03.2011

BVerfG: Volle Anrechnung der Verletztenrente auf „Hartz IV-Leistungen“ nicht verfas­sungs­widrigVerletztenrente dient weder Arbeitslohn noch Sicherung des Lebens­un­terhalts

Die volle Anrechnung einer Verletztenrente auf „Hartz IV-Leistungen“ ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden und verstößt weder gegen das Grundrecht auf Gleich­be­handlung von gegen das Grundrecht auf Schutz des Eigentums. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

Nach dem so genannten „Hartz IV-Gesetz“ (SGB II) mindert Einkommen des Leistungs­emp­fängers grundsätzlich seine Hilfe­be­dürf­tigkeit und daher auch seinen Anspruch auf Arbeits­lo­sengeld II. Die hier relevanten Vorschriften des § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 SGB II in der seit dem 1. Januar 2005 geltenden Fassung enthalten Ausnahmen von der Einkom­men­s­an­rechnung. Darunter fällt die nach dem sozialen Entschä­di­gungsrecht gewährte Grundrente, die u. a. gesundheitlich geschädigten Kriegsopfern geleistet wird. Anrechnungsfrei sind ferner die den Opfern natio­nal­so­zi­a­lis­tischer Verfolgung gewährten Renten und Beihilfen sowie das nach zivil­recht­lichen Vorschriften geleistete Schmerzensgeld. Auch so genannte zweckbestimmte Einnahmen, die einem anderen Zweck als die Leistungen nach dem SGB II, also vor allem nicht der Sicherung des Lebensbedarfs, dienen, sind unter bestimmten Voraussetzungen nicht als Einkommen zu berücksichtigen.

Vollständige leistungs­min­dernde Anrechnung der Verletztenrente auf die Sozialhilfe

Die Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung wird denjenigen Versicherten gewährt, deren Erwer­bs­fä­higkeit infolge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit um wenigstens 20 % gemindert ist. Ihre leistungs­min­dernde Anrechnung auf andere Sozia­l­leis­tungen ist unterschiedlich geregelt. Während die Verletztenrente im Recht der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung in Höhe eines der Grundrente nach dem sozialen Entschä­di­gungsrecht entsprechenden Betrages anrechnungsfrei bleibt und dies auch für die bis zum 31. Dezember 2004 gewährte Arbeits­lo­senhilfe galt, wurde sie in der Praxis des bis dahin geltenden Sozia­l­hil­fe­rechts nach dem Bundes­so­zi­a­l­hil­fe­gesetz (BSHG) vollständig leistungs­mindernd auf die Sozialhilfe angerechnet.

Grund­si­che­rungs­träger berücksichtigt Verletztenrente als leistungs­min­derndes Einkommen

Die Beschwer­de­führer erhalten seit 1995 bzw. 1996 infolge eines Arbeitsunfalls eine Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfall­ver­si­cherung. Im Jahr 2005 wurde ihnen Arbeits­lo­sengeld II bewilligt, wobei der Grund­si­che­rungs­träger jeweils die Verletztenrente voll als leistungs­min­derndes Einkommen berücksichtigte. Ihre Klagen blieben in letzter Instanz vor dem Bundes­so­zi­al­gericht ohne Erfolg. Nach Auffassung des Bundes­so­zi­al­ge­richts stelle die Verletztenrente weder eine zweckbestimmte Einnahme dar noch ergebe sich im Verhältnis zu den in § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 SGB II privilegierten Leistungen eine verfas­sungs­widrige Ungleich­be­handlung.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht verneint Verletzung der Grundrechte

Die sich hiergegen richtenden Verfas­sungs­be­schwerden hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen, die Beschwer­de­führer insbesondere nicht in ihren Grundrechten verletzt werden.

Ungleich­be­handlung sachlich gerechtfertigt

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Die Beschwer­de­führer sind nicht in ihrem Grundrecht auf Gleich­be­handlung aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. Sie werden zwar als Empfänger der voll als Einkommen berück­sich­tigten Verletztenrente gegenüber den Empfängern der nach § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 SGB II privilegierten Leistungen ungleich behandelt. Die Ungleich­be­handlung ist jedoch sachlich gerechtfertigt.

Bewertung der Verletztenrente aus gesetzlicher Unfall­ver­si­cherung auch nicht als teilweise zweckbestimmte Einnahme verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden

Zweckbestimmte öffentlich-rechtliche Leistungen unterscheiden sich dadurch von anderen Einnahmen, dass der Gesetzgeber selbst angeordnet hat, dass die Leistung ganz oder teilweise einem anderen Zweck dienen soll als die Leistungen nach dem SGB II und insbesondere nicht zur Sicherung des Lebens­un­terhalts gedacht ist. Die gesetz­ge­be­rische Zweckbestimmung ist ein hinreichend gewichtiges Unter­schei­dungs­kri­terium. Es ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Bundes­so­zi­al­gericht die Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfall­ver­si­cherung auch nicht teilweise als zweckbestimmte Einnahme bewertet hat. Denn nach der gesetz­ge­be­rischen Konzeption stellt sie eine abstrakt berechnete Verdien­st­aus­fa­l­l­ent­schä­digung dar, die ebenso wie der Arbeitslohn selbst der Sicherung des Lebens­un­terhalts dient. Eine eindeutige gesetz­ge­be­rische Bestimmung der Verletztenrente zu einem anderen Zweck als der Sicherung des Lebens­un­terhalts folgt insbesondere nicht daraus, dass der Teil der Verletztenrente, der einer Grundrente des sozialen Entschä­di­gungs­rechts entspricht, nicht auf Renten aus der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung angerechnet wird. Die betreffende Regelung ist auf das Recht der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung beschränkt. Dies schließt es aus, dem Gesetzgeber zu unterstellen, dass er generell und damit unabhängig davon, welche Sozialleistung der Leistungs­emp­fänger neben der Verletztenrente bezieht, anordnen wollte, dass die Verletztenrente zumindest teilweise nicht zur Sicherung des Lebens­un­terhalts bestimmt ist.

Ansehen der Verletztenrente als abstrakten Erwer­bs­scha­dens­aus­gleich verstößt nicht gegen Grundrecht auf Gleich­be­handlung

Auch zwischen den Beziehern einer Grundrente des sozialen Entschä­di­gungs­rechts, die nicht als Einkommen berücksichtigt wird, und den Beziehern einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfall­ver­si­cherung bestehen hinreichend gewichtige Unterschiede, die die Ungleich­be­handlung rechtfertigen. Anders als die Verletztenrente ist die Grundrente nicht zur Sicherung des allgemeinen Lebens­un­terhalts bestimmt, sondern stellt eine Entschädigung für die Beein­träch­tigung der körperlichen Integrität dar und soll zugleich die Mehrauf­wen­dungen ausgleichen, die der Geschädigte gegenüber einem gesunden Menschen hat. Dass der Gesetzgeber demgegenüber die Verletztenrente als Leistung der Sozia­l­ver­si­cherung generell als abstrakten Erwer­bs­scha­dens­aus­gleich konzipiert hat, steht in seinem Gestal­tungs­er­messen und verstößt nicht gegen das Grundrecht auf Gleich­be­handlung.

Die Ungleich­be­handlung der den Beschwer­de­führern gewährten Verletztenrente gegenüber den Entschä­di­gungs­leis­tungen an die Opfer natio­nal­so­zi­a­lis­tischer Verfolgung rechtfertigt sich aus der besonderen Schutz­be­dürf­tigkeit dieser Berechtigten.

Privilegierung von Schmerzensgeld gegenüber der Verletztenrente gerechtfertigt

Die Privilegierung von Schmerzensgeld gegenüber der Verletztenrente ist durch die Zweckbestimmung und besondere Funktion des Schmer­zens­geldes gerechtfertigt. Es dient nicht zur Deckung des Lebens­un­terhalts, sondern ausschließlich zur Abdeckung eines Schadens immaterieller Art, und soll insbesondere auch Erschwernisse, Nachteile und Leiden ausgleichen, die über den Schadensfall hinaus anhalten und die nicht durch die materielle Schaden­s­er­satz­leistung abgedeckt sind. Zugleich trägt das Schmerzensgeld dem Gedanken Rechnung, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet, und nimmt in dieser Funktion eine Sonderstellung innerhalb der sonstigen Einkommens- und Vermögensarten ein, die der Verletztenrente nicht zukommt.

Verletztenrente hat keine dem Schmerzensgeld entsprechende gesetzliche Zweckbestimmung

Dass das Recht der gesetzlichen Unfall­ver­si­cherung unter anderem auch Schmer­zens­geldansprüche des durch einen Arbeitsunfall geschädigten Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber ausschließt, führt zu keiner anderen Bewertung. Durch den Haftungs­aus­schluss des Arbeitgebers erhält die Verletztenrente keine dem Schmerzensgeld entsprechende gesetzliche Zweckbestimmung. Im konkreten Fall war auch nicht erkennbar, dass die Beschwer­de­führer ohne den unfall­ver­si­che­rungs­recht­lichen Haftungs­aus­schluss Ansprüche auf Schmerzensgeld gegen ihre Arbeitgeber gehabt hätten und von der Privilegierung des Schmer­zens­geldes in § 11 Abs. 3 Nr. 2 SGB II hätten profitieren können.

Keine Verletzung des Grundrechts auf Schutz des Eigentums

Die Beschwer­de­führer werden auch nicht in ihrem Grundrecht auf Schutz des Eigentums aus Art. 14 Abs. 1 GG verletzt. Ob Ansprüche auf eine Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfall­ver­si­cherung, die allein durch Beiträge der Arbeitgeber finanziert wird, überhaupt vom Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG umfasst werden, kann dahinstehen, da es jedenfalls an einem Eingriff in diesen Schutzbereich fehlt. Denn der Zahlbetrag der Verletztenrente bleibt unverändert. Gemindert wird lediglich das nicht von Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Arbeits­lo­sengeld II.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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